Die Vergewaltigungen durch die Hamas am 7. Oktober haben sich zu einem der umstrittensten Themen des Massakers entwickelt. Jede Zeugenaussage und jedes auftauchende Detail werden im Konflikt zwischen Unterstützer*innen und Gegner*innen Israels als Waffe eingesetzt. Auf der Grundlage Dutzender Gespräche mit Quellen, zeigt eine Haaretz-Reportage nun auf, welche Beweise für Sexualverbrechen durch die Hamas existieren – und was fehlt.
Der Original-Artikel auf Englisch wurde am 18. April 2024 in Haaretz veröffentlicht.
Es ist zu einem der meist besprochenen und einem der umstrittensten Themen rund um die Massaker des 7. Oktober geworden. Neue Informationen hierzu werden wöchentlich, oft sogar täglich veröffentlicht. Jede neue Aussage, die auftaucht, jedes neue enthüllte Detail, wird augenblicklich brisant.
Einerseits betreiben pro-palästinensische Websites eine intensive Leugnungs-Kampagne, mit dem Ziel, die Zuverlässigkeit von Erkenntnissen und Zeug*innen in Frage zu stellen. Andrerseits stürzen sich israelische Sprecher*innen auf jeden erschütternden Bericht, im Versuch, die Welt von der Wahrheit über die verübten Gräueltaten zu überzeugen, und beschwören diese bisweilen sogar herauf, um kein gutes Haar am Feind zu lassen und ein paar politische Punkte zu machen. Manchmal hat es jedoch den Anschein, die von den Hamas-Terroristen verübten Vergewaltigungen würden fast die ganze Geschichte ausmachen.
Die übermäßige Berichterstattung dient nicht gerade dazu, die Verwirrung zu reduzieren, sondern verstärkt sie nur noch. Und alle, die es wagen, das Thema anzusprechen, laufen Gefahr, sich einem medialen Feuersturm auszusetzen. Von der New York Times, die das Ausmaß der Verbrechen untersucht hat und selbst angegriffen wurde, über die Expertin internationalen Rechts, Cochav Elkayam-Levy, die das Thema auf die internationale Agenda setzte und deren Arbeit dann Verleumdungen ausgesetzt war, bis hin zu Nadera Shalhoub-Kevorkian, die vorübergehend von ihrer Lehrtätigkeit an der Rechtsfakultät der Hebräischen Universität von Jerusalem suspendiert wurde und kürzlich für ein Verhör festgenommen wurde, da Bemerkungen, die sie öffentlich getätigt hatte, vermuten ließen, sie zweifle an, dass überhaupt sexualisierte Gewalt stattgefunden habe.
Die Natur dieser Sexualstraftaten, die Art und Weise, wie diese verübt wurden und die fast vollständige Lähmung, von der die israelischen Behörden anfänglich allgemein erfasst waren, haben die Möglichkeit, zu einem vollständigen und überzeugenden Bild der begangenen Verbrechen zu gelangen limitiert, und limitieren diese auch weiterhin in außerordentlichem Ausmaß, jenseits berechtigter Zweifel. Das wirkt sich auch auf die Möglichkeit der Strafverfolgung aus. Die Ermittlungen werden unter der Ägide von Lahav 433, der Abteilung für Gewaltverbrechen der israelischen Polizei, fortgeführt. Polizei und Staatsanwaltschaft weigern sich jedoch, Details über ihre Arbeit zu veröffentlichen, das Datum des Abschlusses der Ermittlungen ist unbekannt.
»Das eigentliche Problem ist es, mit zulässigen Beweisen, die dort auch standhalten, vor Gericht zu gehen« und eine Verurteilung zu erwirken, erklärte eine hochrangige Quelle in der Staatsanwaltschaft gegenüber Haaretz im Hinblick auf die Ermittlungen.. »Die Ermittler*innen lassen in ihrem Bemühen, Verweise zu finden, keinen Stein auf dem anderen; jeder Tag bringt neue Erkenntnisse. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«
Ohne, dass bisher irgendeine Anklage wegen sexueller Übergriffe vor Gericht gebracht wurde, hat Haaretz mit Dutzenden Quellen gesprochen, die mit der Thematik befasst sind, im Versuch, einen Überblick über Belege, Zeug*innen und andere Erkenntnisse zu erstellen, die beweisen, dass Sexualstraftaten verübt wurden, und um festzustellen, welche Informationen immer noch fehlen.
Der folgende Bericht von Haaretz, der einige verstörende und explizite Beschreibungen enthält, basiert auf Gesprächen mit Quellen im Sicherheitsapparat, mit Therapeut*innen, die mit Überlebenden gesprochen haben, Einzelpersonen, die an den Ermittlungen beteiligt sind, Rettungskräften, die an den verschiedenen Schauplätzen des Massakers im Einsatz waren und Fachleuten, die individuelle Zeugenaussagen zusammentragen und dokumentieren, darunter Mitglieder von »Dinah Project 7/10« am Rackman Center for the Advancement of Women an der Bar-Ilan Universität. Das Projekt ist eine Initiative von fünf Israelinnen, alle Expertinnen für Rechts- und Genderfragen, die sich entschlossen haben, gemeinsam sicherzustellen, dass die Fälle sexualisierter Gewalt auch die israelischen Gerichte und die internationalen Tribunale erreichen.
Für unsere Recherchen griffen wir auch auf die zwei umfassendsten Berichte zurück, die bisher zu dem Thema verfasst wurden: jenen von Pramila Patten, UN-Sonderbeauftrage für sexuelle Gewalt bei Konflikten, und jenen von Dr. Carmit Klar-Chalamish und Noga Berger, von der Association of Rape Crisis Centers in Israel.
In der Zwischenzeit haben auch Verwandte der Gefangenen und Ermordeten eine internationale juristische Initiative gestartet, um Gerechtigkeit für die Opfer einzufordern. Denn trotz der intensiven Auseinandersetzung mit den am 7. Oktober verübten Vergewaltigungen, war das nicht das Ende der Sexualverbrechen.
Die mutige Zeugenaussage der freigelassenen Geisel Amit Sousanna, der ersten Frau, die öffentlich über die sexuellen Übergriffe sprach, denen sie in der Gefangenschaft der Hamas ausgesetzt war, machte die sexualisierte Gewalt, die gegen Gefangene – Männer und Frauen – ausgeübt wurde, zu einer unleugbaren Tatsache.
Eine hochrangige Quelle im Gesundheitswesen berichtete Haaretz, dass es andere Frauen gebe, die während des Gefangenenaustauschs mit der Hamas im vergangenen November nach Israel zurückgekehrt waren, und die dem medizinischen Personal, das sie in Empfang genommen hatte berichteten, dass sie selbst sexuelle Übergriffe erlitten hätten oder in Gefangenschaft Opfer sittenwidriger Handlungen gewesen seien.
Zeug*innen und Überlebende
Es gibt zumindest 15 Überlebende des Nova Musikfestivals, bei dem mehr als 360 Menschen getötet wurden, die Zeug*innen von Einzel- oder Gruppenvergewaltigungen an verschiedenen Orten auf dem Festivalgelände in der Nähe des Kibbuz Re‘im wurden. Fünf haben über das, was sie gesehen haben, bereits in den Medien berichtet.
Eine Untersuchung von Haaretz lässt darauf schließen, dass die Organisation SafeHeart, die gegründet wurde, um den Überlebenden des Massakers bei der Party psychologische Unterstützung anzubieten, mindestens zehn weitere Augenzeug*innen kennt, deren Aussagen bislang nicht veröffentlicht wurden.
Ebenso verfügt auch Secret Forest, ein israelisches Retreat-Zentrum in Zypern, das Überlebende aufnimmt, über Informationen zu 13 Zeug*innen, die aussagen, dass sie während des Angriffs sexualisierte Gewalt gesehen oder gehört haben. Es ist nicht bekannt, ob es eine Überschneidung zwischen den Überlebenden gibt, die mit Secret Forest gesprochen haben und jenen, die von SafeHeart unterstützt werden.
Von den fünf Augenzeug*innen, die bereits in die Öffentlichkeit gegangen sind, haben zumindest drei auch bei der Polizei ausgesagt. Haaretz hat einige von ihnen kontaktiert, sie wollten ihre Aussage jedoch nicht noch einmal wiederholen.
Sapir und Yura, zwei junge Menschen, die sich gemeinsam auf dem Partygelände versteckt hatten, berichteten der New York Times, dass sie eine Reihe von Gruppenvergewaltigungen und die Ermordung von Frauen beobachtet hätten, und sie sagten aus, sie hätten zudem gesehen, wie Sexualorgane verstümmelt worden seien. Raz Cohen, der sich in der Nähe des Highway 232 versteckt hatte, berichtete einer Reihe von Medien, darunter dem israelischen Sender Kan 11 und der Times, er habe Gruppenvergewaltigungen und Ermordungen gesehen. Shoham Gueta bestätigte diese Zeugenaussagen. In Großbritannien veröffentlichte die Sunday Times Aussagen eines weiteren Mannes namens Yoni Saadon, der der Zeitung berichtete, er habe Gruppenvergewaltigungen und die Ermordung einer Frau gesehen.
SafeHeart zufolge ist einer der Gründe, weshalb die Zeug*innen in ihrer Obhut noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen sind, deren psychischer Zustand, der dies nicht zulasse. Die Organisation, die von klinischen Therapeut*innen gegründet wurde, kooperierte mit dem UN-Team, das die Zeug*innen sexualisierter Gewalt untersucht hatte. Sie sind nun erstmals bereit, öffentlich zu berichten, was sie von ihren Patient*innen erfahren haben, deren Privatsphäre sie jedoch weiterhin schützen.
Yair Grynbaum, Leiter des Notfallinterventionsteams von SafeHeart, berichtete Haaretz, was vier der Zeug*innen gesehen haben. »Unter den Fällen, von denen wir erfahren haben, gibt es einen Augenzeugenbericht von der Nova-Party, demzufolge ein bewaffneter Mann eine Frau vergewaltigt und dann erschossen habe. Zwei weitere Zeug*innen haben eine Gruppenvergewaltigung beobachtet, an der, ihrer Aussage zufolge, sieben bis zehn Angreifer beteiligt waren. Eine weitere Zeugenaussage berichtet von einer Gruppenvergewaltigung, an der fünf Personen beteiligt waren. Eine der Gruppenvergewaltigungen fand in einem Feld auf dem Festivalgelände statt. Beide endeten mit der Ermordung des Opfers.«
Dr. Demian Halperin, Leiter der psychiatrischen Hilfe bei der gleichen Organisation, berichtete Haaretz von sechs weiteren Augenzeugen. Alle sechs sind Männer, die Nova überlebt haben und die er persönlich behandelt. Die meisten Vergewaltigungen, die diese Patienten beobachtet haben, spielten sich an den Rändern des Festivalgeländes ab, auf dem das Massaker stattfand, also an Orten, an denen nur wenige Menschen anwesend waren, sagt er.
Halperin fügt hinzu, dass es auch den Fall eines Überlebenden gebe, der auf der Flucht, nachdem es ihm gelungen war, sich 10 Kilometer von der Party zu entfernen, eine Vergewaltigung beobachtet hatte (das Opfer war keine Besucherin von Nova).
Die Geschichten, von denen ich weiß, fanden an relativ isolierten Orten statt, mit Ausnahme eines Falles, der sich – soweit mir berichtet wurde – auf dem Parkplatz des Festivalgeländes ereignete. Die anderen Fälle von Gruppenvergewaltigungen fanden auf abgelegenen Feldern statt, wo die Anwesenheit von Zeug*innen unwahrscheinlicher war. - Psychiater Demian Halperin
»Es ist sehr schwierig für Patient*innen, über diese Dinge zu sprechen, da es sehr empfindliche Bereiche berührt«, sagt Halperin und betont, dass in seiner Arbeit mit Patient*innen nicht die sexuellen Übergriffe, die sie gesehen haben, im Mittelpunkt stehen. Wenn das Thema aufkommt, dann auf ihre Initiative hin. »Manchmal ist es mit großen Schuldgefühlen verbunden, und größtenteils sind es posttraumatische Symptome, wie Flashbacks und Albträume, in denen die sexualisierte Gewalt auftaucht«, bemerkt Halperin. »Zum Beispiel die Stimme einer Frau zu hören, die um Hilfe bittet.«
Rami Davidian aus Moschav Patish, der viele Menschen vom Nova-Festival gerettet hat, berichtet beispielsweise, dass er auf dem Partygelände die an Bäume gebundenen Leichen von Frauen gesehen habe. Halperin bestätigte Haaretz gegenüber, dass er ähnliche Zeugenaussagen gehört habe. Auch der UN-Bericht erwähnt Leichen, die entlang des Highway 232 an Bäumen aufgeknüpft waren.
Davidian, der sowohl dem UN-Team als auch der Association of Rape Crisis Centers Bericht erstattete, berichtete Haaretz, was er sah:
»Es gab Bäume, an denen sich eine Leiche befand, und es gab Fälle, bei denen mehrere Körper am selben Baum hingen. Es gab auch ein Paar, das nackt, in einer Umarmung an einen Baum gebunden war. Beiden war durch die Brust geschossen worden«.
In seiner Zeugenaussage, die er gegenüber der Association machte, gab Davidian an, er habe mehr als fünf Leichen gesehen, die »an intimen Stellen« verstümmelt worden waren. »Ihre Sexualorgane waren abgeschnitten, verletzt worden. Es gab Blut aus der Leiste […] Auch auf Brüste war geschossen worden.«
Wie bereits erwähnt, erhielt auch das Personal des Projekts Secret Forest in Zypern, das mehr als eintausend Überlebenden Unterstützung bietet, von einigen ihrer Schützlinge Informationen. Etwa 13 von ihnen berichteten, sie hätten sexualisierte Gewalt während der Angriffe gesehen. Maor Arieli, der das Projekt aus genau diesem Grund gegründet hat und leitet, berichtete Haaretz, dass etwa 700 der Überlebenden in einem telefonischen Interview, das vor ihrer Ausreise nach Zypern stattfand, gefragt wurden, ob sie sexualisierte Gewalt erlebt oder gesehen hätten.
Acht von ihnen antworteten, dass sie solche Übergriffe gesehen hätten, fünf, dass sie Ohrenzeugen sexualisierter Gewalt gewesen seien. Zwei weitere Zeug*innen antworteten vage. Das Projekt verfügt über keinerlei Details zu diesen Fällen, da die Interviewer*innen angewiesen worden waren, nicht näher auf das Thema einzugehen.
Das Bild, das sich aus der absoluten Mehrheit der Zeugenaussagen ergibt, ist jenes, dass die Frauen, die beim Nova-Festival vergewaltigt wurden, anschließend ermordet wurden. Es gibt jedoch auch eine Reihe von Frauen, die die Vergewaltigungen, denen sie am 7. Oktober ausgesetzt waren, überlebt haben.
Quellen bei SafeHeart berichten, dass eine der Überlebenden die NGO um Hilfe ersucht habe, und an eine andere Therapiestelle verwiesen worden sei. Das Gesundheitsministerium bestätigt, dass drei Frauen und ein Mann, die sexualisierte Gewalt während des Massakers überlebt haben, sich an staatliche Behandlungszentren gewandt hätten.
Die Medien haben bislang ein Interview veröffentlicht, das anonym mit einer Frau geführt wurde, die bei der Party vergewaltigt worden war. Die Frau erhielt von der französischen Tageszeitung Le Parisien das Pseudonym »Esther«. Die Zeitung hatte Ende November ein kurzes Interview mit ihr veröffentlicht, in dem sie in einer erschütternden Aussage erzählte, dass sie vergewaltigt und ihr Körper verstümmelt worden war. Sie gab zudem an, dass eine Verwandte, mit der sie auf dem Festival gewesen sei, ermordet und ihre Leiche in der Folge vergewaltigt worden sei. Dieser Artikel schlug in den internationalen Medien keineswegs große Wellen und wurde, soweit uns bekannt ist, nicht in den israelischen Medien zitiert. Haaretz konnte dieses Interview nicht durch andere Zeugenaussagen bestätigen lassen.
Die Verfasserin, die Journalistin Laura-Maï Gaveriaux, berichtete Haaretz, dass sie mit der interviewten Überlebenden bereits zuvor bekannt gewesen sei. Sie fügte hinzu, dass sie seit dem Interview in Frankreich Drohungen von verschiedenen Personen erhalten habe, von denen sie einige als »Hamas-Unterstützer« bezeichnete.
Neben den Nova-Zeug*innen ist Haaretz auch eine weitere Zeugenaussage zu einer Vergewaltigung vom 7. Oktober bekannt, die während des Angriffs auf den Armeeaußenposten Nahal Oz stattfand. Diese Aussage wurde Prof. Ruth Halperin-Kaddari öffentlich gemacht, die das Rackman Center for the Advancement of the Status of Women an der Bar-Ilan Universität leitet. Sie war es, die den ersten Kontakt zur UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt bei Konflikten, Pramila Patten, herstellte und sie ersuchte, Israel zu besuchen; sie begleitete zudem das UN-Team während des Aufenthalts im Land.
Halperin-Kaddari, die auch am Dinah Project 7/10 teilnimmt, berichtete Haaretz, dass sie während des Besuches des Außenpostens über die Zeugenaussage informiert worden war. Die Zeugin, eine Offizierin, die sich am Tag des Angriffs auf der Basis befunden hatte, hörte, wie außerhalb des Gebäudes, in dem sie sich versteckte, eine Vergewaltigung begangen wurde. Als sie dann das Gebäude verließ, sah sie den nackten Körper der Soldatin, die vergewaltigt und ermordet worden war und bedeckte diesen. Die Offizierin berichtete auch, dass sie auf dem Armeestützpunkt die Leiche eines Mannes gesehen habe, dessen Penis verstümmelt worden war. Die Aussage der Offizierin wird beiläufig im UN-Bericht erwähnt, jedoch mit der Anmerkung, dass das Team die Aussage nicht durch andere unterstützende Aussagen gegenprüfen habe können.
Beweislast
Die Bewertung der Zeugenaussage der Offizierin aus Nahal Oz fasst die Unterschiede zwischen den beiden bisher veröffentlichten Berichten zur sexuellen Gewalt vom 7. Oktober gut zusammen: Zum größten Teil widersprechen sich die Berichte der Vereinten Nationen und der Association of Rape Crisis Centers nicht, es gibt jedoch eine Reihe wichtiger Unterschiede zwischen ihnen.
Der UN-Bericht wurde extrem vorsichtig formuliert und gibt nicht an, in welchem Ausmaß die sexualisierte Gewalt ausgeübt wurde oder wie systematisch diese Handlungen waren. Patten betont, dass ihr Mandat darin bestünde, Informationen zu sammeln, und nicht darin, eine juristische Untersuchung durchzuführen. Sie weist jedoch auch darauf hin, dass der von ihr geforderte Beweisstandard »hinreichend glaubwürdig« sein müsse. Halperin-Kaddari erläutert, dass das Team, um bestimmte Informationen zu verifizieren, die Aussagen von zumindest zwei unabhängigen Quellen verlange.
Trotz dieser rigorosen Anforderungen kommt der UN-Bericht zu einer eindeutigen Schlussfolgerung. Er stellt fest, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gebe, dass mehrere Fälle sexualisierter Gewalt im Zuge der Hamas-Angriffe stattgefunden haben, darunter Vergewaltigung und Gruppenvergewaltigungen an zumindest drei unterschiedlichen Orten: Am Schauplatz des Nova-Festivals, neben dem Highway 232 und in der Nähe eines Luftschutzbunkers beim Kibbuz Re’im. In dem Bericht wird mit der gleichen Gewissheit festgestellt, dass es auf dem Gelände des Festivals zu zahlreichen Fällen sexualisierter Gewalt gekommen ist.
Ein forensischer Pathologe aus Pattens Team, der die Fotografien und Videos der drei Orte untersucht hat, stellte eine Reihe von Leichen mit »auffällig gespreizten Beinen« fest. Der Bericht hält fest, dass gespreizte Beine ein Charakteristikum von Leichen sind, die »Verbrennungen« erlitten hätten, ohne Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen, betonte jedoch, dass dies nicht die Erklärung für die beobachteten Fälle sei.
Patten stieß auf ein Muster: Viele Körper, hauptsächlich von Frauen, wurden gefesselt und erschossen gefunden und waren nackt oder wiesen einen nackten Unterkörper auf. Der Bericht beschreibt mindestens 20 Leichen, die als nackt oder teilweise nackt dokumentiert wurden, und zumindest 10 Leichen, deren Hände und/oder Beine gefesselt waren. Die Wortwahl Pattens in diesem Zusammenhang belegt die Zurückhaltung und Vorsicht, die sie bei der Formulierung ihrer Schlussfolgerungen walten ließ.
»Obwohl nur ein Indiz, könnte ein solches Muster des Entkleidens und Fesselns von Opfern ein Hinweis auf Formen sexualisierter Gewalt sein«, gibt der Bericht an. Mit anderen Worten versichert der Bericht also, dass es ein Muster des Entkleidens und Fesselns gab, scheut jedoch vor der uneingeschränkten Schlussfolgerung zurück, dass dies auf ein Muster sexualisierter Gewalt verweisen würde.
Zudem gibt Patten an: »Es bestehen glaubwürdige Informationen hinsichtlich mehrerer Vorfälle, bei denen Opfer vergewaltigt und dann getötet wurden«, und dass es »weitere Berichte von Einzelpersonen gibt, die zumindest zwei Vorfälle der Vergewaltigung von Frauen-Leichen beobachtet haben«, die am Nova-Gelände stattfanden.
Im Gegensatz dazu wurde der Bericht der Association of Rape Crisis Centers weitaus entschlossener formuliert und stellt fest, dass die sexualisierte Gewalt brutal, systematisch und vorsätzlich stattgefunden hat. Der Bericht beruht sowohl auf direkten Zeugenaussagen, die von der Association gesammelt wurden, als auch auf Medienberichten, die nicht unabhängig verifiziert wurden. Der Bericht legt ein breites Spektrum an Zeugenaussagen vor, die nicht unbedingt von einer zweiten Quelle bestätigt werden.
Zusätzlich zur Schilderung der Zeugenaussagen zu sexualisierter Gewalt listet der Bericht der Association auch Muster sexuellen Missbrauchs auf, derer sich die Terroristen bedienten: Gruppenvergewaltigungen, Angriffe auf Männer (es gibt etliche Augenzeugenberichte, die von männlichen Leichen mit abgetrennten Genitalien berichten), Vergewaltigung in Anwesenheit von Familienmitgliedern oder Mitgliedern der Kibbuz-Gemeinschaften, sowie Ermordung im Zuge der Vergewaltigung. Zudem führt die Association Festbinden und Fesseln sowie das Einführen von Waffen oder Gegenständen in die Genitalien an.
Das Bild, das sich aus der absoluten Mehrheit der Zeugenaussagen ergibt, ist jenes, dass die Frauen, die beim Nova-Festival vergewaltigt wurden, anschließend ermordet wurden. Es gibt jedoch auch eine Reihe von Frauen, die die Vergewaltigungen, denen sie am 7. Oktober ausgesetzt waren, überlebt haben.
Die Verfasserinnen des Berichts der Association, Noga Berger und Carmit Klar-Chalamish, erklärten in einem Interview, das sie Haaretz gaben, dass sie erst dann auf ein Muster schlossen, wenn zumindest drei Zeugenaussagen eine bestimmte Methode beschrieben. Dabei handelt es sich nicht um gegengeprüfte Aussagen des gleichen Ereignisses, sondern allein die Wiederholung spricht hier für das Vorhandensein eines Musters, so betonen sie.
»Unser Bericht basierte auf vier Informationsquellen: international geführten journalistischen Recherchen; Zeugenaussagen, die von Ersthelfer*innen an den Schauplätzen des Massakers veröffentlicht wurden; Interviews, die wir mit Ersthelfer*innen geführt haben, und vertraulichen Informationen, die die Association kraft ihrer Rolle erhalten hat«, so die Autorinnen.
»Wenn es angesichts der Umstände nicht möglich war, jede offen zugängliche Information überzeugend zu verifizieren oder zu untersuchen, entschieden wir uns für die Analyse anhand von Vorgehensmustern.
Wenn sich eine bestimmte Praxis einige Male an unterschiedlichen Orten und Kontexten wiederholt hat, haben wir sie in die Analyse aufgenommen.
Diese Methode soll sicherstellen, dass die Analyse Bestand hat, selbst wenn eine Frage zu einem speziellen, erwähnten Fall auftaucht. Leider haben wir in der Zeit, die seit der Veröffentlichung vergangen ist [21. Februar], zusätzliche Informationen zu den beschriebenen Praktiken erhalten.«
Recherche und Beweise
Ende März wurde ein erstes Geständnis dieser Art veröffentlicht. Manar Quassem vom Islamischen Jihad, der von den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) in Khan Yunis verhaftet wurde, gestand in seinem Verhör, am 7. Oktober eine junge Frau in ihrem Zuhause in einem der Kibbuzim vergewaltigt zu haben. Ein gefilmtes Geständnis eines Kriegsgefangenen ist wohl mit Vorsicht zu genießen, dennoch bildet sein Geständnis ein wichtiges Element für die erforderliche Grundlage an Fakten. Jetzt hat einer der mutmaßlichen Vergewaltiger ein Gesicht und einen Namen.
Haaretz hat erfahren, dass die Sicherheitskräfte über mindestens zwei weitere Geständnisse von Vergewaltigungen verfügen, beide von Hamas-Mitgliedern.
Darüber hinaus geht aus Anfragen von Haaretz an drei Stellen des Verteidigungsapparats hervor, dass das von der Polizei und den Nachrichtendiensten gesammelte nachrichtendienstliche Material, darunter Filmaufnahmen aus Body Cams der Terroristen, keine visuelle Dokumentation von Vergewaltigungen selbst enthält. Insgesamt weigern sich Polizei und Staatsanwaltschaft, öffentliche Details der Ermittlungen, die ihnen zufolge im Gange sind, zu veröffentlichen. Die zahlreichen Hindernisse, die sich bei den Ermittlungen stellen, waren von Anfang an vorhanden.
Haaretz hat erfahren, dass ein forensischer Pathologe mit Unterstützung eines im gleichen Bereich tätigen Assistenzarztes in den vergangenen Wochen von der Polizei zur Verfügung gestellte Fotos und Videos von Leichen untersucht hat, um Beweise für Kriegsverbrechen im Allgemeinen und Sexualstraftaten im Besonderen zu finden, ähnlich der Arbeit des UN-Teams.
Soweit bekannt, hat dies bis jetzt Dokumentationsmaterial zu drei Leichen zu Tage gefördert, deren Erscheinung darauf hinweisen könnte, dass sie Opfer sexueller Übergriffe geworden sind. In einem Fall wurde ein Gegenstand in ein Geschlechtsorgan eingeführt, was die Tätlichkeit bestätigt. Gleichzeitig lässt sich in zwei anderen Fällen ohne weitere Untersuchungen – die in dieser Phase nicht mehr möglich sind – nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Opfer sexuell missbraucht wurden.
Einer der beiden letztgenannten Fälle ist jener von G., die als »die Frau im schwarzen Kleid« bekannt wurde. Ihr Körper ist in einem Video dokumentiert, das am 7. Oktober verbreitet wurde, nackt und mit gespreizten Beinen. Ihre Geschichte wurde Ende Dezember in der New York Times-Reportage veröffentlicht. »Größtenteils auf Basis von Videobeweisen […] gaben israelische Polizeibehörden an, sie gingen davon aus, dass die Frau vergewaltigt wurde«, so hieß es dort. Nach der Veröffentlichung äußerten ihre Verwandten Zweifel an dem Bericht und gaben an, niemand habe sie offiziell darüber informiert. »Es stimmt nicht, dass sie vergewaltigt wurde«, sagte der Schwager von G. gegenüber dem Journalisten Amnon Levy in einem Interview auf Channel 13. »Die Polizei hat uns keine Beweise vorgelegt.«
Die Dementis der Familie hatten eine Reihe von Artikeln in linksgerichteten internationalen Medien zur Folge, wie Mondoweiss und The Intercept, die die Recherchen der New York Times kritisierten und deren Erkenntnisse anzweifelten. Eine Untersuchung der Sache unter Einbeziehung von Polizeiquellen lässt darauf schließen, dass die Recherchen, die zum Bericht über die mögliche Vergewaltigung von G. geführt hatte, nicht fehlerfrei abgelaufen waren. Das bedeutet gleichzeitig jedoch nicht, dass die Tatsachen an sich nicht korrekt waren.
Die Polizeiquellen, die mit den Journalist*innen der Zeitung gesprochen haben, gehörten nicht zu den Ermittler*innen, die mit dem Fall befasst waren. Es handelte sich um zwei höherrangige Sprecher*innen der Organisation, die ohne Wissen des Ermittlungsteams gehandelt hatten. Tatsächlich waren die Ermittler*innen in dieser Phase nicht in der Lage zu bestätigen oder zu dementieren, dass G. vergewaltigt worden war, da das Interview der Times stattgefunden hatte, noch bevor das Bildmaterial von den forensischen Patholog*innen untersucht wurde.
Seitdem sind die Materialien jedoch von einem israelischen forensischen Pathologen untersucht worden, der zu dem Schluss kommt, dass die Position des Körpers auf sexuelle Gewaltanwendung schließen lässt. Ein weiterer forensischer Pathologe, der auf Ersuchen von Haaretz das Video untersuchte, in dem G.s Leiche zu sehen ist, kam zu einem ähnlichen Schluss.
Die Polizei gab in einer Reaktion auf eine Anfrage von Haaretz bekannt, dass die Polizeibeamt*innen den Journalist*innen der New York Times, nachdem sie das Video gesehen hatten, sagten, »sie glauben, dass die Frau in dem Video sexualisierter Gewalt ausgesetzt war, und diese Sichtweise bleibt unverändert«.
»Wenn sich eine bestimmte Praxis einige Male an unterschiedlichen Orten und Kontexten wiederholt hat, haben wir sie in die Analyse aufgenommen. Diese Methode soll sicherstellen, dass die Analyse Bestand hat, selbst wenn eine Frage zu einem speziellen, erwähnten Fall auftaucht.«
Noga Berger und Carmit Klar-Chalamish
Eine Sprecherin der Times meinte gegenüber Haaretz: »In unserer Geschichte heißt es, dass die israelische Polizei glaubt, sie wäre vergewaltigt worden, dass einige Familienmitglieder fürchten, das wäre der Fall, und dass ihr Fall zu einem sehr öffentlichen Beispiel für die Gräuel geworden ist, die Frauen angetan wurden. (Unsere Geschichte behauptet nicht, dass die Polizei ihre Vergewaltigung ›bestätigt‹ hat.) Die Geschichte macht auch klar, dass die Unsicherheit in diesem Fall sinnbildlich für die Unsicherheit steht, die viele Familien der Opfer fühlen. Die Polizei zitierte die Videobeweise und den Ort für ihre Behauptung. Das Video wurde von der Times verifiziert.«
Die Stellungnahme der Zeitung schließt mit: »Wir stehen zu der Geschichte und werden auch weiterhin über das Thema sexualisierter Gewalt nach den Angriffen vom 7. Oktober berichten.«
Wie im Fall von G. wurde die Untersuchung des Bildmaterials erst in den vergangenen Monaten durchgeführt. Der Grund dafür ist, dass in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober die Bemühungen auf die Identifizierung der zivilen Opfer und deren Bestattung gerichtet waren, und die Polizei die Untersuchung möglicher Sexualverbrechen damals nicht einmal in Erwägung gezogen hat. Wie Haaretz im November berichtete, hatte die Polizei keinerlei forensische Beweismittel für das Verüben von Sexualstraftaten während des Massakers gesammelt.
Auf dem Militärstützpunkt Shura, wohin die meisten der Leichen zu Identifikationszwecken gebracht wurden, waren fünf forensische Patholog*innen tätig. In dieser Funktion untersuchten sie auch Leichen, die völlig oder teilweise nackt eingeliefert wurden, um die Möglichkeit von Vergewaltigungen zu prüfen. Einer Quelle zufolge, die über Detailwissen verfügt, gab es an keiner dieser Leichen Anzeichen für Geschlechtsverkehr oder für die Verstümmelung von Genitalien.
Da jedoch nur fünf forensische Patholog*innen dort tätig waren, wurde auch nur maximal ein Viertel der Leichen begutachtet. Mit anderen Worten: Etwa 75 % der Leichen wurden bestattet, ohne dass sie zuvor professionell untersucht wurden.
Die Leichen, die sich körperlich in einem besonders schlechten Zustand befanden und in Shura nicht identifiziert werden konnten, wurden in das Institut für forensische Medizin in Tel Aviv überstellt. In diesen Fällen erlaubte der Zustand der Leichen jedoch keine Bestimmung darüber, was den Opfern vor ihrem Tod zugestoßen war. Der UN-Bericht vermerkt, dass es mindestens 100 solcher Fälle gab.
Einer Quelle zufolge, die Kenntnis zu den Ermittlungen hat, waren in der Nacht zwischen dem 7. und 8. Oktober sechs forensische Ermittlungsteams der Polizei – insgesamt 12 Polizeibeamt*innen – am Ort des Nova-Festivals im Einsatz, zusätzlich zu den freiwilligen Helfer*innen von ZAKA Search and Rescue. Die Polizei arbeitete mitten in der Nacht, in einem Gebiet, in dem immer noch Kriegshandlungen stattfanden und Helikopter der Luftstreitkräfte über ihnen Salven abfeuerten.
Im Zuge ihrer Arbeit, bei der sie sich darauf beschränkten, die Gesichter zu fotografieren und bei der sie die Opfer zudeckten, bevor sie fortgebracht wurden, wurden mehr als 200 Leichen dokumentiert. Diese Teams dokumentierten keinen einzigen Fall sexualisierter Gewalt oder Fälle verstümmelter Genitalien. Sie sahen Frauen, denen die Kehle durchgeschnitten worden war und bereits stark verwundete Männer, die aus nächster Nähe getötet wurden.
Die Mission musste mitten in der Nacht unterbrochen werden, als die Polizei und die ZAKA-Teams wegen eines Sicherheitsalarms abbrechen mussten. Die forensischen Polizeiteams waren weder in den Kibbuzim noch auf der Armeebasis im Einsatz, da die Arbeit dort von den Israelischen Verteidigungsstreitkräften (IDF) ausgeführt wurde.
Das war nicht das einzige Hindernis beim Zusammentragen von Beweisen. Der UN-Bericht erwähnt die religiöse Freiwilligen-Organisation ZAKA nicht, bemerkt jedoch, dass einige der Ersthelfer*innen, »oft mit konservativem religiösem Hintergrund« nackte oder teilweise nackte Leichen bedeckten, »als Geste des Respekts für die Verstorbenen«. Der Kommandant der Sondereinheiten von ZAKA, Chaim Otmazgin, bestätigte, dass einige der Leichen von ZAKA-Leuten bedeckt oder bekleidet wurden, ehe sie dokumentiert wurden. Der Bericht, merkt hierzu an, dass einige der freiwilligen Helfer*innen, die als Erste am Einsatzort waren, »nicht für das Sammeln forensischer Beweise ausgebildet waren«, was zum Ergebnis hatte, dass potenzielle Informationen verloren gegangen sind.
Leugnungskampagne
Tatsächlich basierten die Berichte über die bei dem Massaker verübten Gräueltaten, die nach dem 7. Oktober in den Medien und den sozialen Netzwerken veröffentlicht wurden, größtenteils auf Erzählungen von den Kräften, die als erste in den Gebieten eintrafen und sich systematisch zwischen den verschiedenen Einsatzorten bewegten – vor allem ZAKA-Mitarbeiter*innen, Rettungskräfte und Militärangehörige – die zutiefst erschüttert waren, von den brutalen Szenen, die sie zu sehen bekamen.
In einigen Fällen teilten sie Informationen, die sich als unrichtig erwiesen. Eine solche Zeugenaussage, die in einer Reihe von internationalen Medien veröffentlicht wurde, darunter auch in dem Bericht der New York Times, war die eines Sanitäters einer IDF-Eliteeinheit, der berichtete, er habe die Leichen zweier Mädchen in einem Raum in einem Kibbuz gesehen, die ihm zufolge eindeutig vergewaltigt worden seien. Später stellte sich heraus, dass Bewohner*innen dieses Kibbuz niemals eine Szene vorgefunden hatten, die mit der Beschreibung des Sanitäters übereinstimmte, und die Zeitung zog die Aussage zurück.
Die IDF geben an, dass der Sanitäter auf die Korrektheit seiner Aussage bestehe, obgleich er den Kibbuz verwechselt haben könnte. »Der Soldat nahm 25 Stunden durchgehend an aktiven Gefechten in einer Reihe von Orten in Kibbuzim und anderen Gemeinschaften teil. In dem fraglichen Fall bezeugte er seine persönlichen Eindrücke als er am Schauplatz des Massakers eintraf. Er rekonstruierte komplexe Ereignisse, deren Zeuge er vor Ort war«, so ein IDF-Sprecher der Einheit.
Ein weiterer Fall im selben Kibbuz betraf einen irrtümlichen Bericht zu einem spezifischen Ort, an dem sich eine Szene sexualisierter Gewalt abgespielt haben soll. Otmazgin, der unter den ZAKA-Mitarbeiter*innen war, die die Häuser im Kibbuz durchsuchten, gab an, er habe in einem der Häuser die Leichen einer Mutter und ihrer beiden Töchter gefunden, wobei eine der Töchter mit heruntergezogener Kleidung in einem separaten Raum gefunden wurde. Er schloss irrtümlich daraus, dass das Mädchen vergewaltigt worden war.
Später stellte sich heraus, dass, noch ehe er das Haus betreten hatte, Sprengstoffexpert*innen da gewesen waren und die Leichen getrennt hatten, beim Versuch sicherzustellen, dass keine Sprengkörper an ihnen befestigt waren. Obwohl die Körper bekleidet waren, als die Pioniereinheit sie fotografiert hatte, wurde die Kleidung einer der Töchter heruntergezogen als sie in ein anderes Zimmer getragen wurde. Die Entdeckung dieses Fehlers hatte eine Korrektur im Bericht der Association of Rape Crisis Centers sowie die Veröffentlichung einer Richtigstellung zu dem Thema in Haaretz zur Folge.
In einem in der vergangenen Woche geführten Interview berichtete Otmazgin Haaretz, er sei froh, herausgefunden zu haben, dass er sich geirrt habe. »Wie unschön es auch ist, in einer Situation zu sein, in der ich eine Sache gedacht und dann eine andere entdeckt habe, weder schäme ich mich dafür, noch ist es mir peinlich«, sagt er.
Otmazgin ist heute der verantwortliche Sprecher der Organisation zu Zeugenaussagen von Mitgliedern und Berichten zu Beweisen für Sexualstraftaten im Zuge der Hamas-Angriffe. Er übernahm die Aufgabe, nachdem Fälle entdeckt worden waren, in denen ZAKA-Mitarbeiter*innen (aber auch Einsatzkräfte und IDF-Offizier*innen) falsche Gerüchte verbreitet hatten. Haaretz hatte im Dezember berichtet, dass Yossi Landau von ZAKA zwei Horrorgeschichten verbreitet hat, die nie geschehen waren – eine über 20 gefesselte und verbrannte Leichen von Kindern, die angeblich in einem Kibbuz gefunden wurden, und die andere über die Leiche einer schwangeren Frau mit aufgeschnittenem Bauch, die er angeblich gefunden hätte.
Die Geschichte über die schwangere Frau, die auch mit der Verbreitung eines falschen Videos verbunden war, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort aufgenommen worden war, wurde auch von israelischen Regierungssprecher*innen aufgegriffen und wiederholt.
Cochav Elkayam-Levy zum Beispiel, die intensiv damit befasst war, international Aufmerksamkeit für das Thema zu erregen und die dieses Jahr den Israel Prize im Bereich »soziale Solidarität« erhält, teilte die Geschichte in Interviews und internationalen Foren. Pro-palästinensische Medien, die sich auf jeden fehlerhaften Bericht stürzen, der mit Sexualstraftaten der Hamas zu tun hat, gingen so weit, sie des »Betrugs« zu bezichtigen. In einer Reaktion durch Elkayam-Levy hieß es: »Der Fall wurde im Namen von Expertinnen zu dem Thema in Israel gemeldet und wir waren alle erleichtert zu erfahren, dass er nicht passiert ist. Der Fall belegt die Schwierigkeiten, Opfern in Kriegszeiten eine Stimme zu verleihen.«
Michal Herzog, die Frau des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog, bezog sich in einer Kolumne, die sie im November für Newsweek verfasste, ebenfalls auf den Fall der schwangeren Frau. Das Büro des Präsidenten gab an, sie habe sich dabei auf Elkayam-Levy bezogen, und – sobald sie erkannte, dass dieses Detail nicht korrekt sei, die Korrektur des Artikels verlangt (was nicht geschehen ist).
ZAKA hat jedenfalls die Anzahl der Mitglieder der Organisation, die autorisiert sind, öffentlich über die Schauplätze des Massakers zu sprechen, massiv eingeschränkt. Patten bezieht sich auch im UN-Bericht darauf: »Zeug*innen und Quellen […] haben sich im Laufe der Zeit eines zunehmend vorsichtigen und zurückhaltenden Zugangs bedient, was vergangene Berichte anbelangt, in einigen Fällen haben sie auch zuvor getätigte Stellungnahmen zurückgezogen.«
Tatsächlich ist Otmazgin heute, wie er sagt, nur mehr bereit über von seinen Mitarbeiter*innen dokumentierte Fälle zu sprechen. Mit anderen Worten über jene Fälle, in denen die Leichen fotografiert oder auf Video aufgenommen wurden. Solche Fälle gibt es nur wenige. Der UN-Bericht nennt Gründe dafür. Aus Respekt vor den Toten, so der Bericht, haben die freiwilligen Helfer*innen nur eine begrenzte Anzahl von Fotos aufgenommen, manchmal nur das Gesicht der Opfer und ausschließlich zum Zweck der Identifizierung. In einige Fällen, wie bereits erwähnt, wurden die Opfer erst fotografiert, nachdem sie bedeckt oder bekleidet worden waren.
Otmazgin berichtet über die folgenden Fälle, die auf dem Gelände des Nova-Festivals dokumentiert wurden: Drei Frauen, denen in die Leistengegend geschossen wurde, die Überreste einer jungen Frau, die zuvor massiv misshandelt wurde, und zwei Leichen junger Frauen, die mit gespreizten Beinen und dem oberen Teil ihrer Hosen zerrissen, gefunden wurden. Er erzählt auch von drei Fällen in einem Kibbuz: die Leiche einer Frau mit Nägeln in der Leistengegend und zwei weitere Körper nackter oder teilweise nackter Frauen. Was die anderen Kibbuzim angeht, so verfüge er über keine Dokumentation zu Leichen mit Zeichen sexueller Gewaltanwendung.
Otmazgin legte seine Aussage vor dem UN-Team ab und präsentierte die Ergebnisse seiner Ermittlungen. Es wurde festgestellt, dass die Beweise sich in dieser Hinsicht aufgrund des Mangels an visuellen Belegen und der schlechten Qualität der Aufnahmen, die dem Team vorgelegt wurden, nicht verifizieren ließen. Otmazgin legte Haaretz einige der Aufnahmen vor, darunter auch die, auf der in die Leistengegend eingeführte Nägel zu sehen sein sollen. Die Aufnahme entstand etwa eine Woche nach dem Massaker und ist eindeutig von schlechter Qualität. Die Möglichkeit, dass das, was darauf zu sehen ist, tatsächlich Nägel sind, scheint plausibel, erst Recht in Verbindung mit seiner Zeugenaussage, aber es ist unmöglich dies zweifelsfrei zu bestimmen.
»Ich teilte, was ich gesehen habe, und als ich etwas Anderes herausfand, hatte ich die Möglichkeit, es klarzustellen. Das ist meine Verpflichtung. Diejenigen, die die Wahrheit hören wollen, werden wissen, wie sie damit umgehen, selbst wenn sie erst später kommt.«
Chaim Otmazgin, Kommandeur bei ZAKA
Im Allgemeinen unterstützen die visuellen Materialien tatsächlich die Zeugenaussagen der Ersthelfer*innen, doch die Qualität und der Winkel der Aufnahmen, aber auch der Zustand der Leichen, machen es in einigen Fällen unmöglich, zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Haaretz hat Teile der Dokumentation in Otmazgins Besitz während eines persönlichen Treffens gesehen – er sagte jedoch, er wolle den Rest aus Respekt vor den Toten und deren Familien nicht teilen.
Die Kampagne der Leugnung wird auch durch unverantwortliche Bemerkungen von hochrangigen israelischen Beamt*innen und Regierungsvertreter*innen angefacht. Ein solcher Kommentar, der bei mehreren Gelegenheiten wiederholt wurde, lautet, dass die Hamas-Terroristen von jenen, die sie ausgesandt haben explizite Order erhalten hätten, ihre Opfer zu vergewaltigen. »Die Sexualverbrechen waren im Vorhinein geplant«, ließ Israels Vertreter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, im Dezember verlauten.
Die Behauptung fand ihren Weg – über Verteidigungsminister Yoav Gallant – auch in die Washington Post. Ein Artikel vom November enthält ein Zitat von Gallant, der sagt, Israel wisse aus Verhören, dass die Pläne der Hamas für den 7. Oktober auch detaillierte Anweisungen enthielten, »welcher Kommandant welche [israelische] Soldatin an den unterschiedlichen Orten vergewaltigen soll«.
Eine Sprecherin Gallants bemerkte Haaretz gegenüber, dass das Zitat aus dem Kontext gerissen wurde und Gallant dies nie gesagt habe. Das Zitat wurde tatsächlich kurz nach der Veröffentlichung aus der Online-Version entfernt, eine Anmerkung der Herausgeber erklärt jedoch, dass dies geschah, weil die Veröffentlichung ohne Genehmigung erfolgt sei – das heißt es wurde im Vertrauen geäußert. Der Zwischenfall blieb der Website The GrayZone, die mit der radikalen Linken in den USA in Zusammenhang steht, nicht verborgen. Sie bezeichneten das Zitat als »befremdlich«.
Eine Überprüfung durch Haaretz bei einer Reihe von Sicherheitskräften weist jedoch darauf hin, dass – im Gegensatz zu dem was Erdan und Gallant sagten oder nicht sagten – Israel bislang über keinen Beweis dafür verfügt, dass die Terroristen der Hamas oder anderer Organisationen eine explizite Order erhielten, Vergewaltigungen zu begehen.
Die UN-Mission Israels gab Haaretz gegenüber die folgende Stellungnahme ab: »Die Tatsache, dass Israel jetzt in Kampfgeschehen verwickelt ist, und nicht mit dem Zusammentragen sämtlicher Anordnungen befasst ist, die Hamas-Kommandeure an die Monster erteilten, die geschickt wurden, um israelische Bürger*innen abzuschlachten, mindert nicht die Verantwortung der Hamas für ihre Vergewaltiger und Mörder, die in ihrem Namen zahlreiche Sexualstraftaten begangen haben, sowohl am Tag des Massakers als auch gegen die männlichen und weiblichen Gefangenen.«
Vor Gericht gehen
Was bedeutet nun all dies, wenn es darum geht Terroristen wegen einer Sexualstraftat vor Gericht zu bringen?
Nava Ben-Or, Richterin am Amtsgericht im Ruhestand, die auch als stellvertretende Staatsanwältin für Strafsachen tätig war, ist der Ansicht, dass selbst wenn keine eindeutigen Beweise dafür gefunden werden, dass jemand einen ausdrücklichen Befehl zur Vergewaltigung erhalten hat, sowohl die Täter als auch ihre Befehlshaber - auf militärischer und politischer Ebene - auf der Grundlage der kollektiven Verantwortung wegen Sexualverbrechen angeklagt werden können.
»In einer Verhandlung«, so erläutert Ben-Or, die auch Mitglied von Dinah Project 7/10 ist, »gibt es eine Doktrin der kollateralen Rechenschaftspflicht von Mittätern. Wenn man ein gemeinsames ›Projekt‹ eingeht, um ein bestimmtes Delikt zu begehen, und es wurden andere Delikte begangen, die man erwartet hat oder erwarten hätte können, dann ist man dafür rechenschaftspflichtig – selbst wenn es keine vorherige Anweisung gegeben hat.«
»Dieser Doktrin zufolge besteht keine Notwendigkeit, den Angreifer und die Angegriffenen ausdrücklich miteinander in Verbindung zu bringen, da die Verantwortung für sämtliche Handlungen beim Mob liegt. Der Mob hat sich auf einen Amoklauf eingelassen, dessen Motivation und Intention das Begehen von Gräueltaten im großen Stil ist. Alles, was mit diesem Plan vereinbar ist, darunter auch sexualisierte Gewalt, selbst wenn es keine vorherigen Anweisungen dazu gab, ist Teil des Musters.«
Ben-Or fügt hinzu: »Selbst wenn keine Beweise gefunden werden, die den Kriterien der Rechtsprechung zu den zahlreichen Fällen von Vergewaltigung entspricht, wird es auf der Grundlage der Information, die bereits zu zahlreichen Leichen vorliegt, die völlig oder teilweise nackt vorgefunden wurden, möglich sein festzustellen, dass im Zuge der Angriffe der Hamas zahlreiche sexuelle Straftaten begangen wurden.«
Nava Ben-Or, Richterin am Amtsgericht im Ruhestand, die auch als stellvertretende Staatsanwältin für Strafsachen tätig war, ist der Ansicht, dass selbst wenn keine eindeutigen Beweise dafür gefunden werden, dass jemand einen ausdrücklichen Befehl zur Vergewaltigung erhalten hat, sowohl die Täter als auch ihre Befehlshaber - auf militärischer und politischer Ebene - auf der Grundlage der kollektiven Verantwortung wegen Sexualverbrechen angeklagt werden können.
Die Ermittlungen sind immer noch im Gange. Die Polizei ruft »all jene auf, die das noch nicht getan haben, eine Zeugenaussage zu machen oder Beweise zu liefern, die dazu beitragen, die Wahrheit herauszufinden, Gerechtigkeit walten zu lassen und den Stimmen der Opfer Gehör zu geben.«
Die Überlebenden, die Zeug*innen und die Familien der Opfer – sowie die israelische Gesellschaft im Allgemeinen – müssen abschließen können, was nur möglich ist, wenn und falls der Fall vor ein israelisches Gericht gebracht wird.
In der Zwischenzeit haben die Familien der Ermordeten und der Geiseln juristische Schritte auf internationaler Ebene eingeleitet. Rechtsanwältin Shelly Aviv Yeini, die die Bemühungen für das Hostages and Missing Families Forum koordiniert, berichtete Haaretz, dass das Forum bei der Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine allgemeine Klage wegen Genozids, Entführung, sexualisierter Gewalt und Folter eingereicht habe.
In der Schlussbemerkung des UN-Berichts empfahl Patten sowohl den Strafverfolgungsbehörden in Israel als auch den internationalen Organisationen, »sämtliche Täter, ungeachtet von Rang oder Zugehörigkeit, zur Rechenschaft zu ziehen, basierend auf individueller und übergeordneter Verantwortung, sowie auf Befehlsverantwortung«. Außerdem ruft sie Israel dazu auf, eine Kooperation mit ihrer Behörde einzugehen, um die rechtlichen Mechanismen, die sich mit sexualisierter Gewalt befassen, zu verbessern. »Patten kam mit reinen Händen und Mut«, so Ben-Or. »Ich glaube wir sollten ihr die Hand reichen und diese Hilfe annehmen.«
Die Politiker*innen in Israel haben genau das Gegenteil getan. Außenminister Yisrael Katz attackierte »das Schweigen zu Sexualverbrechen« der UN genau nachdem der Bericht von Patten vorgelegt und von vielen Medien weltweit aufgegriffen wurde.
Tatsächlich verwies Patten in ihrer Schlussfolgerung auf das unverantwortliche Verhalten von Politiker*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen hinsichtlich der sexuellen Übergriffe. Sie drängt darauf, dass sensationslüsterne Schlagzeilen und Druck durch die Medien vermieden werden, dass die Identität der Opfer nicht veröffentlicht wird und dass sexualisierte Gewalt nicht für politische Zwecke missbraucht werden sollte. Sie zählt mit andern Worten all die Sünden auf, die im Laufe der vergangenen sechs Monate in diesem Kontext begangen wurden.
Ähnliche Gefühle werden auch in einem Interview deutlich, das Haaretz gegen Ende der Recherchen für diesen Artikel mit einer Frau aus einem der Kibbuzim geführt hat. Die Frau, die eine große Zahl an Leichen von Mordopfer aus ihrem Kibbuz identifiziert hat, eröffnet eine andere Perspektive auf die unaufhörliche Suche nach Beweisen für Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt. In ihren Augen wurde der Diskurs zu den Fällen sexualisierter Gewalt am und nach dem 7. Oktober verzerrt.
»Leichen von Menschen in ihrem Zuhause zu finden, ist ein Eindringen in die Privatsphäre«, sagt sie. »Leichen von Menschen in ihren Betten zu finden, ist ein Eindringen in die Privatsphäre. Es heißt, an den intimsten Ort der Menschen vorzudringen. Ich sah auch Leichen in Badezimmern. Einige waren in einem Zustand, der eine Identifizierung unmöglich machte. Ich fand Leichen von Männern und Frauen, die nicht normal bekleidet waren, mit heruntergezogener Kleidung. Haben Terroristen das getan? Ich weiß es nicht, ich war nicht dort.«
»Aber sexualisierte Gewalt findet nicht nur statt, wenn jemand vergewaltigt wird oder Sodomie begeht. Menschen wurden physisch angegriffen – wurden berührt. Wir haben unsere Privatsphäre verloren, unser Zuhause wurde verletzt und auch unsere Seelen. Nichts davon sehe ich in dem Diskurs.«
Der englische Original-Artikel erschien bei Haaretz. Alle Rechte daran sind Haaretz Daily Newspaper Ltd vorbehalten. Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Haaretz.