Der Jude Shai Hoffmann und der Palästinenser Ahmad Dakhnous laden zu einem offenen Gedankenaustausch in ihren Safer Space ein.
Es wirkt etwas verloren, das kleine Häuschen, das dort auf dem Potsdamer Platz an der Ecke zum Tilla-Durieux-Park steht. Ein Montag im Februar, es nieselt leicht. Das Grau der Betonbauten rundherum gleicht dem Grau des Berliner Winterhimmels darüber. Im Hintergrund prangt der protzige DB-Tower mit seinen 26 Stockwerken. Das winzige Haus auf Rädern mit spitzem Dach, Holzverkleidung und einer kleinen Veranda vor der Eingangstür wirkt wie eine Oase der Gemütlichkeit auf dem tristen Platz. Ein blaues Plakat hängt an der Außenwand des Hauses, darauf steht in weißen Lettern in einer Sprechblase geschrieben: Über Israel und Palästina reden.
Eine Frau mit gelbem Beutel mit Smiley-Print über der Schulter tritt die beiden Stufen der Veranda hinauf, öffnet vorsichtig die Tür, lugt hin, schließt sie wieder und sagt „Es ist immer voll! Schon die letzten beiden Tage habe ich versucht, mich reinzusetzen“.
Durch zwei großflächige Fenster auf der Rückseite des Hauses hindurch sieht man, was drinnen passiert: eine Gruppe Menschen sitzt eng aneinander gereiht um einen Tisch herum. Zwei Gäste tragen die Kufiya, das traditionelle Tuch der Palästinenser. Sie diskutieren, wirken ganz bei sich. Kein Blick fällt auf den trubeligen Platz draußen. „Die sind da schon seit einer Stunde drin“, sagt eine Passantin und zeigt hinein.
Drei Tage lang, von Samstag bis Montag, hatte die Berlinale ihre Besucherinnen und Besucher in diesen intimen Raum eingeladen sich über Gedanken, Fragen und Gefühle zu Israel und Palästina auszutauschen. Das Haus steht zentral zwischen den Spielstätten des Filmfestivals, sodass viele Passanten darüber stolpern. In einer Zeit, in der die Welt auf die Toten in Gaza blickt, Synagogen in Deutschland beschmiert und palästinensische Demonstrationen vielerorts verboten werden, sitzen ein Jude und ein Palästinenser nebeneinander und wollen reden.
Die beiden Gastgeber Shai Hoffmann, Sozialunternehmer und Jude mit israelischen Wurzeln und Ahmad Dakhnous, ein syrischer Palästinenser, leiten die Gespräche, sie moderieren und informieren. Sie wollen gegen die Sprachlosigkeit vieler ansprechen. „Traut euch, zu sprechen, auch wenn ihr vielleicht nicht direkt die richtigen Worte findet. Das macht gar nichts,“ sagt Hoffmann. Um eine offene und sichere Atmosphäre zu garantieren, soll das Gesagte den geschützten Raum nicht verlassen. Hoffmann und Akhnous erzählen von den Themen, die die Besucher beschäftigen. Es geht um Ratlosigkeit, Wut, Neugier, Trauer. Die Menschen betreten das Haus schüchtern, nachdenklich und kommen gelöst wieder heraus.
Karen, 34, tritt gerade aus dem Haus ins Freie, sie legt ihren Sohn zurück in den Kinderwagen. Sie wirkt beschwingt. „Shai und Ahmad machen das großartig“, sagt sie. „Gerade sprachen wir in der Runde darüber, wie wichtig es ist, sich nicht an einzelnen Begriffen wie ‚Genozid‘ oder ‚Zionismus‘ aufzuhängen – denn so gehen die Inhalte verloren.“ Karen arbeitet für eine Bundestagsabgeordnete, die für Diversifizierung und Erinnerungskultur zuständig ist. „Aus dem Dialog kann ich viel für meinen beruflichen Alltag mitnehmen.“
Ratlosigkeit und Vorurteilen begegnen
Der Alltag von Shai Hoffmann und Ahmad Dakhnous hat sich seit dem 7. Oktober, seit den Anschlägen der Hamas auf Israel, radikal verändert. Hoffmanns Großeltern waren KZ-Überlebende. Der 41-Jährige mit dunkelbraunen Locken und Dreitagebart, betreibt einen Instagram-Kanal, auf dem er über politische Themen aufklärt und sich für Demokratie in Deutschland einsetzt.
Nach dem Kriegsausbruch spürte er die Ratlosigkeit der Menschen und die verhärteten Fronten. Gemeinsam mit der Palästinenserin Jouanna Hassoun von Transaidency e.V., einem Berliner Bildungsverein, geht er seither in Schulklassen, um mit den Jugendlichen in den Trialog zu treten. Außerdem startete er die Podcast-Serie „Über Israel und Palästina sprechen“. Er sagt: „Menschen sind geschockt, wenn sie einen Israeli neben einem Palästinenser sehen – die beiden Lager sind derart gespalten, dass viele Palästinenser mir erzählen, sie hätten noch nie mit einem Juden geredet und andersherum. Dafür ist meine Arbeit da. Ich will einen Austausch schaffen und zeigen, egal, ob Jude oder Palästinenser, das sind Leute wie du und ich. Wir können uns gut verstehen und wortwörtlich unter einem Dach sitzen.“
Ahmad Dakhnous, 26, kam 2016 aus Syrien nach Deutschland. Er ist Mitbegründer der Initiative Connect! Syrian Diaspora. Er sorgt sich um seine Familie und Freunde zu Hause. Die palästinensische Identität sei etwas sehr Verletzliches, sei von Traumata durchzogen, sagt er. Gerade deshalb seien Gespräche über das, was jetzt in Israel und Gaza passiert, oft so emotional. Er hat ein warmes, offenes Lächeln. „Ich freue mich, einen Raum zu öffnen für die Sorgen und Ängste der Menschen – vielleicht aber auch für Hoffnung.“
„Der Bedarf zu reden ist riesig“
Während an diesem Montagvormittag nur einen Kilometer entfernt im Hebbel am Ufer das Panel „Filmmaking as a Tool for Dialogue in Times of Crises“ die Rolle von Film im Krieg in Nahost diskutiert, sitzen Hoffmann und Dakhnous mit Passanten an einem Tisch. „Einander in die Augen zu blicken, bewirkt mehr, als eine Diskussion von einer Bühne herab es je könnte“, sagt Hoffmann. Das Konzept wirkt. Ihr ergebnisoffener Braver Space, wie sie ihn nennen, ist täglich gut gefüllt. Auch heute stehen die Menschen draußen Schlange. Höchstens acht Menschen passen gleichzeitig in den Raum, der auch von innen mit hellem Holz verkleidet ist. Auf der Sitzbank liegen Kissen. Es ist warm. „Der Bedarf zu reden ist riesig. Durch die Allmacht der sozialen Medien, haben wir mittlerweile verlernt, uns im realen Leben zu begegnen. Online eskalieren die Konflikte direkt ins Extreme, die Nuancen, die Zwischentöne gehen verloren. Wir holen sie durch politische Bildung zurück.“ Die Gespräche drehen sich um Streit in Familien und Partnerschaften über politische Positionen und den Druck, den viele spüren, sich zu einer Seite bekennen zu müssen. Dakhnous glaubte selbst einst an antisemitische Verschwörungstheorien, die durch Filterblasen im Internet auf ihn einprasselten, so beschreibt er es in einer Instagram-Story. Gerade deshalb wisse er, wie wichtig Bildung und Begegnung sind, um Klischees und Falschinformationen zu brechen.
Immer wieder räuspern sich die beiden, während sie erzählen. Dakhnous lacht entschuldigend. „Wir sind heiser vom Sprechen, zu viel Dialog geht auf die Stimme.“ Es geht Hoffmann und Dakhnous um nichts weniger als ihre eigene Identität. Wohl auch deshalb, schaffen sie es, nicht zu verzagen und unermüdlich den Kontakt zu suchen. „Ich bin hier für den Frieden, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Motivation gibt mir Kraft,“ sagt Hoffmann. Er erinnert sich an einen aufgebrachten Mann, der an die Tür klopfte. „Wie weit kann zivile Macht schon gehen“, rief er, „Ihr könnt nichts bewirken. Die Politik muss handeln“. Hoffmann sei ruhig geblieben, habe ihn eingeladen, darüber zu sprechen, warum er das anders sehe und sehr wohl daran glaube, dass Aktionen in der Zivilgesellschaft eine Kraft haben. „Er saß dann hier mit uns am Tisch“, sagt Hoffmann, „Vom Rufen haben wir ihn zum Reden gebracht.“
Rassistische Stereotype werden nicht akzeptiert
Bei all der Offenheit müssen sie auch Grenzen setzen: Ahmad Dakhnous erzählt von einem Mann, der seine palästinensische Identität angriff, ihr Existenzrecht bestritt. „Als Palästinenser erkläre ich, dass ich nicht einverstanden bin mit rassistischen Stereotypen – meine Grenze ist erreicht, wenn behauptet wird, das Volk Palästina gäbe es nicht und sei eine Bande Familienclans.“ Hoffmann sagt: „Als Jude würde ich den Dialog abbrechen, wenn jemand Angriffe Israels mit dem Holocaust vergleicht.“ Ist das hier in den letzten Tagen passiert? „Nein, zum Glück nicht.“ In den sozialen Netzwerken und bei anderen politischen Veranstaltungen aber muss er vermehrt antisemitische Angriffe gegen seine Person aushalten. „Wenn es persönlich wird, geht das an die Substanz“, sagt er. „Sich davon unterkriegen zu lassen, wäre aber genau das falsche Signal – denn ich als israelisch-stämmiger Jude stelle mich gegen den Hass“. Obwohl die Anfeindungen an seinen Kräften zehren, überwiegen die guten Momente, in denen er Menschen zusammenbringt.
Politische Bildung in über 80 Schulen
Mit dem Aufbrechen von Stereotypen kann man deshalb nicht früh genug beginnen. Über 80 Schulen hat Shai Hoffmann mittlerweile im Rahmen der Trialog-Initiative mit seiner Kollegin Jouanna Hassoun von Transaidency e.V. besucht. Die größte Gefahr, die er im Austausch mit den Schülerinnen und Schülern wahrnimmt, seien die Sozialen Medien. „Ungefiltert wirken dort schreckliche Bilder und Parolen auf die Jugendlichen ein, die kein Werkzeug parat haben, das Gesehene einzuordnen und sich davon zu distanzieren. Sie denken, alles, was online geschrieben steht, ist wahr. So verbreiten sie nichtsahnend Theorien, die die israelische Armee mit den Nazis vergleichen. Unfassbar,“ sagt Hoffmann. In den Schulen hören sie zu, es sei wichtig, einen geschützten Raum zu bieten, in dem es zunächst einmal kein Richtig und kein Falsch gibt. Sie beantworten Fragen, ordnen ein und widersprechen, wenn extremistische Ansichten ausgesprochen werden. „In den Schulen kommt das Thema Nahostkonflikt leider oft zu kurz, weil viele Lehrende unsicher sind. Die Schüler sind dankbar über die Möglichkeit zum Reden.“
Auf dem Potsdamer Platz steht ein Mann mit weißen Haaren und schwarz-weißer Kufiya vor dem Eingang des Hauses und verschenkt weiße Chrysanthemen an Passanten. Den Krieg können sie hier im Tiny House nicht beenden, wohl aber zeigen, dass Gesprächsbereitschaft in einer polarisierten Gesellschaft der erste Schritt gen Frieden ist. So klein der Raum auf der Berlinale auch sein mag, steht er doch für den ganz großen Diskurs. „Wir sind zufrieden. Wir haben uns anfangs Sorgen vor Protesten gemacht, aber es blieb ruhig und alle Diskussionen liefen sachlich, respektvoll und differenziert ab.“ Die Erfahrungen hier ähneln denen, die Hoffmann und Dakhnous tagtäglich in ihrer politischen Arbeit machen. Einander begegnen und die Hand schütteln baut Vorurteile ab.
Die offene Runde ist nun beendet und Shai Hoffmann ruckelt sein Mikro zurecht. Gleich wird er eine neue Folge seines Podcasts aufnehmen, zu Gast ist der Politikwissenschaftler und Nahost-Experte Peter Lintl. Hoffmann reibt sich müde die geröteten Augen. Darauf angesprochen, ob er sich die nächsten Tage erst einmal erhole von all den Gesprächen, schmunzelt er nur und sagt: „Morgen geht es weiter mit den Trialogen, wir fahren an eine Schule in Hamburg.“ Schweigen will Hoffmann in Zeiten des Krieges nicht.
Weiterführende Informationen
Projekt Transaidency: Der Verein Transaidency gründete sich, um Menschen in Notlagen zu helfen. Gemeinsam werden Lösungen gesucht, die nicht nur die aktuelle Lage verbessern, sondern auch in die Zukunft hineinwirken sollen. Die gemeinsame Arbeit ist von interkulturellem Austausch sowie Sensibilität geprägt.
Trialog – Israel & Palästina: Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann suchen den Dialog mit Jugendlichen an Schulen. Als langjährige politische Bildner*innen und Menschen mit palästinensischen und israelischen Wurzeln hoffen sie, dass sie durch ihre Bezüge und Perspektiven den Nahostkonflikt ein wenig versachlichen können.