Der 2022 verstorbene Grünen-Politiker Werner Schulz galt als aktiver Mahner vor Diktaturen. Eine Initiative will nun das Erbe retten.
„Er galt als Stachel im Fleisch der Grünen“, sagte der frühere DDR-Bürgerrechtler und frühere sächsische Landtagsabgeordnete Martin Böttger bei der Trauerfeier in der Berliner Gethsemanekirche im Dezember 2022. Dubček sei wichtiger als Dutschke gewesen, zitierte ihn seine Parteifreundin Marianne Birthler. Der Europaabgeordnete Sergej Lagodinsky sagte: „Deswegen bist du wie du bist: der Held, der keiner sein wollte.“
Die Rede ist von Werner Schulz, geboren am 22. Januar 1950 in Zwickau, gestorben am 9. November 2022 an einem Kreislaufzusammenbruch bei einer Veranstaltung „Wie erinnern wir den 9. November? Ein Tag zwischen Pogrom und demokratischen Aufbrüchen“ im Schloss Bellevue.
Vor ein paar Wochen nun nahmen ehemalige Mitstreiter:innen, Freund:innen und Anhänger:innen von Werner Schulz einen Anlauf, um die Debatte weiterzuführen, die der Bundespräsident angestoßen hatte. „Die Friedliche Revolution 1989 – Vermächtnis für eine wehrhafte Demokratie“, hieß es in der Einladung für das Treffen an einem Sonntagnachmittag im Berliner „Haus der Demokratie“. Vorgestellt wurde die Werner-Schulz-Initiative, ein Projekt zur „bleibenden Erinnerung“ an den Bürgerrechtler, Politiker und Friedensaktivisten.
Zeitgleich demonstrierten Zehntausende vor dem Bundestag gegen die AfD und für eine wehrhafte Demokratie. Es waren zwei getrennte und sehr unterschiedliche Veranstaltungen, die aber dennoch in einem Zusammenhang stehen: Denn um die Demokratie zu bewahren, wird der Erfahrungsschatz von Menschen benötigt, von Menschen wie konkret Werner Schulz.
Ziel ist es, Aktivitäten für eine europäische Demokratie zu unterstützen
Die Vorhaben der neuen Initiative sind ambitioniert: Jährlich soll ein Werner-Schulz-Preis an Menschen, Initiativen oder Organisationen vergeben werden, die sich für eine „gemeinsame europäische Verständigungs- und Demokratie-Agenda engagieren“. Jährlich maximal zwei jüngere Menschen sollen mit dem gleichen Ziel ein Werner-Schulz-Stipendium bekommen. Eine Homepage hat die Initiative schon: www.werner-schulz-initiative.org, auf der unter anderem die „mitreißenden Reden“ des Politikers dokumentiert werden. Die Finanzierung der Initiative selbst ist noch wacklig: Die Initiator:innen sind auf der Suche nach Sponsor:innen und anderen Unterstützer:innen.
Im Gründungsaufruf heißt es, Schulz sei „einer der prägenden deutschen und europäischen Politiker und ein großer Verbündeter der demokratischen Zivilgesellschaften in Ost und West“ gewesen, ein „aktiver Mahner vor den Diktaturen und der Kriegsgefahr in Osteuropa“. Zu den prominenten Erstunterzeichner:innen des Aufrufs gehören Jerzy Busek, Daniel Cohn-Bendit, Irina Scherbakowa, Rebecca Harms, Milan Horáček, Roland Jahn, Norbert Lammert, Markus Meckel, Omid Nouripour, Jens Reich, Manfred Sapper, Carsten Schneider, Katrin Göring-Eckardt und Jan Philipp Albrecht.
Schulz hat den Zusatz „Bündnis 90“ im Parteinamen der Grünen erfunden. Er vertrat seine Partei Bündnis 90/Die Grünen über Jahrzehnte im Bundestag – darunter vier Jahre lang von 1990 bis 1994 mit einem kleinen Trupp ostdeutscher Mitstreiter:innen, als die Grünen aus dem Parlament geflogen waren – und später im Europaparlament. Viele Jahre lang hatte er zu ertragen, dass manch einer der westdeutschen Parteifreund:innen, namentlich Joschka Fischer, den Vordenker beharrlich in der zweiten Reihe hielten. 2014 sagte Schulz über sein Verhältnis zu Fischer: „Ich glaube, dass das Tischtuch sehr nachhaltig zerschnitten ist, um einen grünen Begriff zu benutzen.“
Katrin Göring-Eckardt, die aus Thüringen stammende Bundestagsvizepräsidentin, hielt eine der Grußworte im „Haus der Demokratie“. Sie sagte, Werner Schulz habe „ein echtes Vermächtnis hinterlassen“. Sie lobte die im Entstehen begriffene Werner-Schulz-Initiative als „sehr wichtig und sehr notwendig“. Überhaupt gebe es, und das habe Schulz immer wieder betont, das gemeinsame Europa erst, seit der Eiserne Vorhang gefallen sei. Und dieses gemeinsame Europa sei aktuell gerade – Stichwort: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine – bedroht. Sie habe die Sorge, dass die westliche Wertegemeinschaft wieder in eine „Situation der Gleichgültigkeit“ gerate, sagte Göring-Eckardt.
Schulz mahnte schon früh gegen den Putinismus
Einen klaren inhaltlichen Schwerpunkt bei der Veranstaltung im „Haus der Demokratie" nahm die Auseinandersetzung von Werner Schulz mit der Politik des Kremls ein. Der frühere DDR-Außenminister Markus Meckel, Mitbegründer der SDP in der DDR, erinnerte daran, dass Schulz den – besonders in Ostdeutschland beheimateten – Putinismus schon zu Zeiten bekämpft habe, als andere dem russischen Präsidenten noch weitgehend geglaubt hätten. Ein Video wurde eingespielt mit der Rede von Werner Schulz vom 19. Februar 2022 in Berlin: Fünf Tage vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine sprach Schulz davon, dass sich der Platz vor dem Brandenburger Tor durch die Ukraine-Solidaritätskundgebung in einen „kleinen Maidan“ verwandet habe: „Ich warne Präsident Putin, unterschätzen Sie nicht die Demokratie!“
Ähnlich deutlich war Werner Schulz in dieser Frage schon Jahre zuvor. 2014, vor dem Hintergrund der Krim-Annexion, sprach er in einem Deutschlandfunk-Interview davon, dass Putin Kanzlerin Angela Merkel „nach Strich und Faden“ vorführe. Im Programm der Deutschen Welle wurde Putin im selben Jahr von Schulz als „Homo Sovieticus und KGB-Agent“ erklärt. Ebenfalls 2014 sagte der Grünen-Politiker in einem „Tagesspiegel“-Interview: „Ich habe in ihm immer diesen skrupellosen und kaltblütigen Geheimdienstoffizier gesehen. Während seiner Rede im Bundestag 2001 bin ich rausgegangen. Viele Abgeordnete waren begeistert, weil er Deutsch gesprochen hat, und haben dennoch kaum auf seine Worte gehört. Wir haben Putin unterschätzt, diesen Gewalttäter.“ Die damalige Grünen-Chefin Simone Peter entgegnete zu diesem Interview: „Einzelmeinungen geben explizit nicht die Parteibeschlusslage wieder. Verbale Aufrüstung ist wenig zielführend!“
Wie sich die Werner-Schulz-Initiative inhaltlich ausrichtet – noch läuft die Debatte dazu. Einige wollen den Schwerpunkt Osteuropa-Politik, und unbestritten war Werner Schulz ja tatsächlich ein begnadeter Kreml-Astrologe. Doch war er nicht zum Beispiel auch ein engagierter und vorausschauender Sozialpolitiker, woran Katrin Göring-Eckardt im „Haus der Demokratie“ in einem Nebensatz erinnerte? Andere Initiator:innen der Werner-Schulz-Initiative versichern, dass auch dieses Thema ein zentrales Kapitel der zukünftigen Arbeit werden soll. Sie übermitteln eine Sammlung von Material mit Positionen von Werner Schulz gegen Hartz IV sowie mit kritischen Äußerungen zur Treuhand und den von ihr ausgelösten sozialen Verwerfungen.