Der 7. Oktober ist auch für Institutionen des Erinnerns und Gedenkens eine Zäsur. Die aktuelle gesellschaftliche Spaltung und Instrumentalisierung macht deutlich, wie dringend es ist, alle Menschen mit ihren Geschichten und Erfahrungen in der Erzählung über Deutschland zu repräsentieren. Clara Frysztacka im Gespräch mit Mirjam Zadoff.
Frau Zadoff, das von Ihnen geleitete NS-Dokumentationszentrum München vermittelt die Geschichte des Nationalsozialismus am prominenten Ort der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP „in einem aktuellen und globalen Kontext“ – wie es auf der Website heißt. Der Bildungs- und Aufarbeitungs- und Erinnerungsauftrag des Zentrums ist die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erfahrungen von Diskriminierung, Gewalt und Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus. Wie schätzen Sie hundert Tage danach die Prägekraft des 7. Oktober für Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleg*innen ein: Empfinden Sie dieses Datum als Zäsur und stellt der daraus folgende Krieg Israel/Gaza die erinnerungskulturelle Arbeit vor neue Herausforderungen?
Der 7. Oktober war ohne Zweifel eine Zäsur, vergleichbar mit dem 9. September 2001, dem Tag des Terroranschlags auf das World Trade Center, oder dem 24. Februar 2022, als der russische Überfall auf die Ukraine begann. Ich saß an diesem Oktobermorgen in der Bahn nach Stuttgart und war hektisch auf der Suche nach Informationen und Updates aus Israel. Am frühen Nachmittag sollte ich den Eröffnungsvortrag einer Tagung über inklusive Erinnerung halten, vor einem Publikum aus Kulturschaffenden, Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen. Ich erinnere diese Situation, von der ich zunächst nicht wusste, wie und ob ich sie meistern würde, als einen Moment der Solidarität, des Schocks und der Trauer. Ähnlich habe ich auch die darauffolgenden Wochen erlebt, in denen mir immer wieder Bekannte und Kolleg:innen ihre Unterstützung signalisierten.
Gleichzeitig begann in diesem Moment eine gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung, die ich in dieser Drastik noch nie erlebt habe: Von der einen Seite wurde und wird das Massaker und die Grausamkeit der Terrororganisation Hamas verharmlost, als Freiheitskampf gedeutet und der Zionismus pauschal zum Siedlerkolonialismus erklärt. Damit wurde nicht nur den Opfern, den Geiseln und ihren Familien sondern auch Jüd:innen außerhalb Israels die Empathie verwehrt, die sie in dieser Situation extremer Verletzlichkeit dringend brauchten. Die Enttäuschung von der Haltung linker und postmigrantischer Communities ist deshalb bei vielen Betroffenen groß. Von der anderen Seite wurde und wird das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung marginalisiert, ihren Angehörigen in Deutschland das Mitgefühl verweigert oder ihre Trauer lediglich als Ausdruck von Antisemitismus oder Israelkritik gelesen. Hinzu kommt, dass linke jüdische und israelische Stimmen immer wieder in Frage gestellt oder ausgeladen werden. Diese Polarisierung stellt die Bildungs- und Erinnerungsarbeit vor enorme Herausforderungen.
Als jemand, die in der Erinnerungsarbeit und -politik tätig ist, hat Sie der erschreckende Ausbruch von Antisemitismus nach dem 7. Oktober überrascht? Gibt es Erklärungsansätze aus der Perspektive der erinnerungskulturellen Institutionen?
Dem 7. Oktober ging in Bayern ein Wahlkampf voraus, der einen massiven Rechtsruck mit sich brachte. In diesem Wahlkampf wurde von konservativen Parteien alles auf die Karte Populismus gesetzt – und sowohl Asylfragen als auch Kulturkampfthemen, wie das Gendern, bewusst instrumentalisiert, um die wirklich drängenden Fragen wie Klimakrise, Armut oder Strukturwandel nicht anzugehen. Der Ungeist dieser „Wir“ und „Ihr“-Debatten, die Vorstellung einer homogenen deutschen Gesellschaft, tragen ohne Zweifel zum Anstieg von Antisemitismus und Rassismus und natürlich auch zu den Wahlsiegen der AfD bei.
Und schließlich brachte die Aiwanger-Affäre eine Banalisierung der Holocausterinnerung mit sich, wie Deutschland sie lange nicht gesehen hat. Das Resultat ist eine Situation, in der etwa Lehrer:innen immer häufiger ihre Unsicherheit beschreiben, nicht mehr zu wissen, was sie noch sagen dürfen – über Populismus, die AfD oder den stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten. Aus erinnerungskultureller Perspektive hat sich in diesen Monaten eine Situation zugespitzt, die wir schon länger beobachten: dass eine von Ambivalenzen geprägte Haltung den öffentlichen Diskurs bestimmt, etwa, wenn postmigrantisch gelesene Deutsche sehr schnell als Antisemiten verurteilt werden, während Deutsche „mit Nazi-Hintergrund“ mindestens ebenso schnell von antisemitischen Vorwürfen freigesprochen werden. Diese Doppelbödigkeit schadet der Antisemitismusprävention nachhaltig. In der Tradition der deutschen Erinnerungskultur könnte man es etwas polemisch so formulieren, dass die Deutungshoheit beim Tätervolk zu bleiben hat. Dem können wir nur begegnen, wenn Erinnerung vielstimmiger und inklusiver wird.
Kurz nach dem 7. Oktober erschien ihr Buch „Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert“. Darin greifen Sie das politische Narrativ vom importierten Charakter des deutschen Antisemitismus ebenso an wie die Überbetonung muslimischer und linker Antisemitismen in öffentlichen Debatten. Sie bezeichnen dies als „Auslagerung“ und als „subtile Form der Abkehr des gesellschaftlichen Konsenses über die Erinnerung an den Holocaust“. Seit dem 7. Oktober hat diese Externalisierung enorm zugenommen, ebenso wie die Zahl diskriminierender Diskurse gegenüber postmigrantischen Deutschen: Wie gefährlich schätzen sie dieses Phänomen gerade auch für die Erinnerungskultur an den Holocaust ein und wie können erinnerungskulturelle und erinnerungspolitische Institutionen darauf reagieren?
Der 7. Oktober bot eine Gelegenheit, den Antisemitismus weiter auszulagern. Bereits in den vergangenen Jahren fokussierte sich der öffentliche Diskurs mehr und mehr auf Antisemitismen in der Kulturszene und/oder in postmigrantischen Communities - oder das Phänomen wurde gleich ganz in die rechte Ecke geschoben. In den vergangenen Monaten entstand nun der Eindruck, Antisemitismus existiere ausschließlich in muslimischen Kontexten. Daraufhin haben bürgerliche Parteien in Deutschland den Krieg in Gaza ausgenutzt, um eine härtere europäische Asyl- und Migrationspolitik zu legitimieren, demokratische Rechte in Frage zu stellen und offen über Verfassungsänderungen nachzudenken. Doch damit machen wir es uns zu einfach. Denn ein derart dramatischer Anstieg des Antisemitismus muss als gesamtgesellschaftliche Krise, als Krise dieser Demokratie wahrgenommen, und als solche bekämpft und gelöst werden.
Denn Antisemitismus ist kein isoliertes Phänomen und kann nicht mit Verboten und Gesinnungsprüfungen wirksam bekämpft werden.
Antisemitismus muss mit dem gleichzeitig wachsenden Rassismus im Zusammenhang gesehen werden.
Vielmehr stellt sich meines Erachtens die Frage, wie diese Gesellschaft mit den in ihren Reihen lebenden, schutzbedürftigen Minderheiten umgeht. Aus diesem Grund muss der Antisemitismus mit dem gleichzeitig wachsenden Rassismus im Zusammenhang gesehen werden. Vor zwölf Jahren wurde in Deutschland eine unsägliche Debatte über die Beschneidung geführt, in der eine weiße Mehrheitsgesellschaft darüber entschied, welche jüdischen und muslimischen Rituale sie als zugehörig, als hinreichend „aufgeklärt“ empfand und welche nicht. Ende 2023 fantasieren Rechtsextreme im Verbund mit Vertreter:innen von AfD und CDU darüber, Menschen (auch deutsche Staatsbürger:innen) im großen Stil nach Afrika zu deportieren. Das erinnert an den sogenannten „Madagaskar-Plan“, als die Nazis 1940 über die Möglichkeit nachdachten, deutsche Jüd:innen in die damals französische Kolonie zu deportieren. Diese Phantasien lösen bei vielen Menschen reale Ängste aus. Das Problem Rechtsextremismus kann nicht nur durch Erinnerungskultur gelöst werden, sondern braucht eine klare politische Abgrenzung in der bürgerlichen Mitte, in der Wirtschaft, der Industrie, den sozialen und kulturellen Netzwerken.
Was wir als Bildungsinstitutionen jetzt dringend umsetzen müssen, sind weitreichende Programme zur politischen Bildung, zur Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Und wir müssen Räume bieten, Schutzräume, in denen alte Allianzen wiederaufgenommen und neu geformt werden können. Denn positive, konstruktive Allianzen brauchen wir jetzt dringend.
Die deutsche Erinnerungskultur ist in den letzten Jahren vielfach kritisiert worden. Ein immer wiederkehrender Vorwurf lautet, dass die koloniale Gewalt, aber auch die Rassismuserfahrungen von Migrant*innen in beiden deutschen Gesellschaften der Nachkriegszeit bis heute in einem toten Winkel der Erinnerung liegen. Auch die Institutionalisierung der Erinnerungskultur steht im Verdacht, den gesellschaftlichen Rechtsruck und die zunehmende Infragestellung des zentralen Stellenwerts der Erinnerung an den Holocaust nicht wirksam verhindert oder sogar befördert zu haben. Zwingen die Reaktionen der deutschen Gesellschaft nach dem 7. Oktober zu einer weiteren, neuen, tieferen, kritischen Reflexion der bisherigen Erinnerungspolitiken und -formate?
Erinnerungseinrichtungen können und werden schon länger als Feigenblatt benutzt, im Sinne von: Wir leisten uns Gedenkstätten und Dokumentationszentren, dann ist es auch in Ordnung, wenn wir uns als Gesellschaft immer weiter vom Post-1945-Konsens entfernen und beispielweise die Genfer Konvention und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Frage stellen, um Menschen auch in Kriegsgebiete und an Orte, an denen ihr Leben akut bedroht ist, abzuschieben. Deutschland ist 2023 auf dem globalen Demokratieindex um einiges nach unten gerutscht, unter anderem weil junge Menschen, die sich eine Zukunft für uns und unsere Kinder wünschen, präventiv in Haft genommen werden.
Wir brauchen eine solidarische Kultur der Erinnerung und der Verantwortung
Ein so hochgradig polarisierter öffentlicher Diskurs, wie wir ihn jetzt erleben, macht es immer schwieriger differenziert, bedacht und abwägend zu denken und zu argumentieren. Gehört werden jetzt vor allem die lauten, zuspitzenden Äußerungen. Was wir brauchen, ist eine Kultur der Erinnerung, aber auch der Verantwortung, die von Museen, Erinnerungsorten, Universitäten, Schulen und vielen anderen getragen wird, deren wissenschaftliche und künstlerische Freiheit politisch garantiert werden muss. In Mailand hat 2015 eine Holocaustgedenkstätte ihre Türen geöffnet, um Geflüchtete unterzubringen. In der ukrainischen Gedenkstätte Babyn Jar wird an das größte Massaker der Nazis an osteuropäischen Jüd:innen, Roma und lokalen Dissident:innen erinnert und gleichzeitig werden dort heute Interviews mit Überlebenden aus Bucha und anderen Orten des russischen Terrors geführt. In München arbeiten wir an einer Erweiterung unserer Dauerausstellung, um die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Jahre und Jahrzehnte zu dokumentieren, die eine kontinuierliche Fortsetzung der Nazi-Ideologie waren und sind. Das bedeutet auch, eng mit den Aktivist:innen und Überlebenden der Anschläge zusammenzuarbeiten, die zum Teil immer noch um eine gesellschaftliche Anerkennung der Attentate kämpfen, und damit auch ein Stück die Deutungshoheit über die Erzählung abzugeben.
Seit einigen Jahren gibt es in der deutschen Erinnerungsdebatte viele Stimmen, die für eine Pluralisierung der Erinnerung plädieren. Sie sprechen in Ihrem Buch vom „positiven, progressiven Potential der Erinnerung“ und von der Erinnerung an den Holocaust als einer Erinnerung, die nur Solidarität bedeuten kann. Wie ist eine plurale, solidarische und progressive Erinnerung nach dem 7. Oktober (noch) möglich und welche Akteure, Formate und Themen sind dabei besonders wichtig?
War eine inklusive, solidarische Erinnerung schon vor dem 7. Oktober überfällig, so ist sie jetzt von umso größerer Bedeutung. Der Blick in den globalen Kontext zeigt, wie schnell und wie häufig die Erinnerung an Gewalt instrumentalisiert wird, um nationalistischen Zwecken zu dienen und rechtspopulistische wie faschistische Ideologien zu befördern. Warum erinnern sich Gesellschaften an Gewalt, an Genozid oder Krieg? Um, so Hannah Arendt, einen sozialen Vertrag wiederherzustellen, der es allen – auch und besonders vulnerablen Gruppen – ermöglicht, angstfrei, geschützt und gleichberechtigt in einer Gesellschaft zu leben; und um darüber hinaus, alle Menschen mit ihrer eigenen Geschichte und Erfahrung in der Erzählung eines Landes abzubilden. Denn das ist es doch, was demokratische Gesellschaften zusammenhält, die vielstimmige Erzählung einer gemeinsamen Vergangenheit, und natürlich auch einer gemeinsam erlebten Gegenwart. Um an diesen Punkt zu gelangen, sollten wir anfangen, weniger übereinander, sondern miteinander zu reden.
Das Gespräch führte Clara Frysztacka.
Mirjam Zadoff ist Historikerin und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Sie war von 2014 bis 2019 Professorin für Geschichte und Jüdische Studien an der Indiana University in Bloomington (USA) und leitet seit 2018 das NS-Dokumentationszentrum München. In ihrem neuen Buch Gewalt und Gedächtnis (Hanser, 2023) versammelt sie Beispiele aus Gedenkstätten aller Welt und stellt dar, wie die Erinnerung an die Geschichte der Gewalt wachgehalten – oder auch vergessen – wird.