Deutsche Erinnerungskultur. Vom Ausbleiben der Selbstkritik

Kommentar

Das Jahr 2023 hat wieder vor Augen geführt, dass Antisemitismus in Deutschland weit verbreitet ist. Das liegt auch an einer deutschen Erinnerungskultur, die stets versucht, der Realität eine andere Erzählung entgegen zu stellen. 

Lesedauer: 9 Minuten
Markus Söder (CSU) und  Hubert Aiwanger (Freie Wähler Bayern) im November 2023.

Das Jahr 2023 hat uns die Grenze, Funktionsweise und Ausweitung des Wirkungsbereichs der deutschen Erinnerungskultur deutlich vor Augen geführt. Ich möchte mit den Grenzen der Erinnerungskultur beginnen und mit der Einsicht, die der 7. Oktober in Deutschland gebracht hat: Antisemitismus ist in allen Teilen der Gesellschaft weiter verbreitet, als wir uns das gewünscht und vielleicht auch eingeredet haben. Auch in den migrantischen und postmigrantischen Bevölkerungsgruppen, was auch für meine eigene Arbeit eine Erschütterung bedeutet. Hinzu kommt etwas, was Meron Mendel als ausbleibenden Empathiereflex bezeichnet, womit er das Ausbleiben spontanen Mitgefühls in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung direkt nach dem 7. Oktober meint. Das war nach dem 11. September 2001, nach den Angriffen auf das Bataclan und Charlie Hebdo 2015 oder der Kriegsausweitung in der Ukraine 2022 anders. Diese ausbleibende Reaktion ist nicht dasselbe wie Antisemitismus, aber es unterstreicht doch, dass Juden*Jüdinnen in Israel offenbar nicht auf dieselbe Empathie zählen können wie andere Menschen in der westlichen Welt nach einem Anschlag oder Massaker.

In Deutschland fehlt es an jeglicher Selbstkritik

Die zweite Einsicht über die Grenzen der Erinnerungskultur wuchs über den Sommer 2023, als die Alternative für Deutschland (AfD), die ein völkisches Weltbild vertritt und vom Verfassungsschutz in mehreren Bundesländern als gesichert Rechtsextrem eingestuft wird, sich bei deutschlandweiten Wahlumfragen bei über zwanzig Prozent Zustimmung festsetzte. Es wäre zu erwarten gewesen, dass diese Situation zu einer Infragestellung der deutschen Erzählung von der eigenen Aufarbeitung geführt hätte – ob nun der westdeutschen Vorstellung von einer bürgerlichen Mitte als Garant für die plurale Demokratie oder der ostdeutschen Erzählung vom Antifaschismus als ideologische Verkörperung eines Nie Wieder. Diese Krise des durch der erinnerungskulturellen Selbstbilder blieb weitgehend aus. Auf die Spitze brachte es Markus Söder, der gerade noch seinen Vizechef Hubert Aiwanger für sein antisemitischen Flugblatt entschuldigt hatte und wenige Wochen darauf der jüdischen Gemeinschaft in der Jüdischen Allgemeinen Zeitung mit großer Anzeige zum Neujahrsfest Rosh Hashana gratulierte. Dieses Fehlen jeglicher Selbstkritik verweist auf die Grenzen der deutschen Erinnerungskultur. Es unterstreicht auch eine ihrer zentralen Funktionsweisen: dass sie aktuell weitgehend unabhängig von der Realität stattfindet, die sie umgibt.

Und das ist keine neue Entwicklung, sondern war eigentlich schon immer so.

Verschiedene Strategien in den zwei deutschen Staaten

Fangen wir beim Anfang an. Die DDR verstand sich selbst bekannterweise als antifaschistischer Staat. Dieses Selbstbild wurde trotz und angesichts einer Bevölkerung behauptet, die ja auch in Ostdeutschland die Nationalsozialist*innen häufig bis zum Ende unterstützt hatte. Das war auch eine ideologische Herausforderung, denn der Faschismusanalyse der kommunistischen Führung zufolge hätten sich die deutschen Arbeiter*innen spätestens nach der Niederlage von Stalingrad gegen die Faschist*innen erheben müssen. Als dieser Widerstand ausblieb und man nach dem Zweiten Weltkrieg in die Position geriet, einen sozialistischen Staat aufzubauen, entschied sich die kommunistische Führung für eine doppelte Strategie von politischer Säuberung (die auch andere politische Gegner erfasste) und einer Erzählung vom Antifaschismus, die man der gesamten Gesellschaft verordnete. Das war kein schlechter Deal für die vielfach mit der nazistischen Gewalt verstrickte Bevölkerung der DDR, weil man hierin eine Entlastung erfuhr, die in der neu gegründeten BRD nicht verfügbar war. Dort entschied man sich für eine andere Strategie.

Der Umgang der zukünftigen BRD mit dem Nationalsozialismus lässt sich gut an einer Rede des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauers im 27. September 1951 aufzeigen. Darin verkündete dieser, „das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt“. Das entsprach selbstverständlich auch in Westdeutschland nicht den Tatsachen, aber genau darum geht es ja gerade: dass die deutsche Erinnerungskultur schon in ihren Anfängen an der wirklichen Geschichte vorbeierzählte. Schon zwei Jahre zuvor hatte Adenauer übrigens seine Version eines, wenn man so will, „westdeutschen Antifaschismus“ formuliert. Die Bundesregierung sei entschlossen, so Adenauer in seiner Antrittsrede vor dem Bundestag, „aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates rütteln, mögen sie nun zum Rechtsradikalismus oder zum Linksradikalismus zu rechnen sein.“ Damit war die Leitidee West- und seit 1990 Gesamtdeutschlands formuliert: das Fundament der deutschen Demokratie bildet eine bürgerliche Mitte, die zwischen Links- und Rechtsradikalismus verortet ist.

Das Problem an diesen Deutungen der jüngeren Vergangenheit war: Sowohl die Behauptung einer überwiegend antifaschistisch eingestellten Bevölkerung der DDR als auch die Vorstellung einer gegen die politischen Extreme positionierten bürgerlichen Mitte ging an der Realität vorbei. Zumindest, wenn man unter Realität die Geschichte versteht, die tatsächlich stattgefunden hatte. Die mangelnde Übereinstimmung lässt sich auch an den eher verzweifelt wirkenden Versuchen der vergangenen Jahrzehnte ablesen, historische Vorbilder zu finden, die die demokratisch stabilisierende Rolle der bürgerlichen Mitte während des Nationalsozialismus bestätigen. Dass die deutsche Erinnerungskultur dabei immer wieder auf politisch zweifelhafte Figuren wie Stauffenberg zurückgreifen muss, erzählt Bände über die dünne Personaldecke, mit der die Geschichte einen versorgt. Oder anders gesagt: die bürgerliche Mitte als Garantin für die Demokratie hat es 1933 – 1945 offenbar nicht gegeben. Einfacher ist es da noch, Beispiele für die Wehrhaftigkeit des Antifaschismus zu finden, das Problem war in der DDR wie gesagt etwas anders gelagert.

Ein Echo diese Konstellation findet sich in der Aufregung, die 2022 um die gerade erst ernannte Innenministerin Nancy Faesers stattfand. Faeser hatte einen Artikel für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) verfasst, einer, so der recht schräge Vorwurf ihrer Kritiker*innen, linksextremen Organisation. Das war mal was Neues, wer hätte je von einer linksradikalen Innenministerin gehört (und mittlerweile dürfte die These durch die Politik Faesers widerlegt worden sein). Im Kontext dieses Essay kann man die Angriffe auf Faeser aber auch als implizites Eingeständnis zur entscheidenden Schwäche der These von der bürgerlichen Mitte verstehen. Denn wenn die VVN als größter Verband derjenigen, die in der Nazizeit Widerstand geleistet haben, tatsächlich linksradikal sein sollte, dann bedeutet das doch zugleich, dass der Idee von der bürgerlichen Mitte als Garantin der Demokratie nicht genug reale (Widerstands)Geschichte entspricht.

Die eigene Wiedergutwerdung der Deutschen steht im Mittelpunkt

In diesen Beispielen von Antifaschismus bis bürgerliche Mitte, von AfD-Wahlergebnissen bis 7. Oktober begegnet einem eine Entkopplung von der Realität, die ich als Besonderheit der deutschen Erinnerungskultur unterstreichen würde. Wenn aber die Realität nicht die entscheidende Variable ist, muss die Erinnerungskultur auf etwas anderes zielen. Der Soziologie Michal Bodemann hat 1996 in seinem Buch Gedächtnistheater eine alternative Deutung vorgenommen, die ich in meinem jüngsten Essay Versöhnungstheater aktualisiert habe (vgl. Bodemann 1996 / Czollek 2023). Das Drama um die „Wiedergutwerdung der Deutschen“, wie Eike Geisel das ebenfalls in den 1990ern auf den Punkt brachte, spielt sich nicht zwischen Bühne und Realität, sondern zwischen Bühne und Publikum ab (vgl. Geisel 2015). Hier findet sich ein Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem Ausbleiben der Krise, die ich oben aufgeworfen habe: weil es der deutschen Erinnerungskultur nicht darum geht, sich an die Realität anzupassen, sondern der Realität eine Erzählung entgegenzustellen, die die eigene Wiedergutwerdung inszeniert – im Zweifelsfall auch gegen diese Realität.

Das Festhalten an der deutschen Erinnerungskultur folgt einer eigenen Logik, die mehr mit einem christlichen Verständnis von Gebet zu tun hat, als einem lieb sein sollte. Man könnte sie zusammenfassen als die der deutschen Erinnerungskultur tief eingeschriebene Vorstellung, dass die Dinge sich schon entsprechend verhalten werden, wenn man sie sich nur stark genug wünscht. Und diesen Wunsch immer wieder durch symbolische Handlungen bestärkt. Weil das so ist, geht es mir bei meiner Kritik an der deutschen Erinnerungskultur als Versöhnungstheater auch nicht darum, dem deutschen Gegenüber Unaufrichtigkeit zu unterstellen, denn die Aufrichtigkeit des eigenen Wunsches nach Gutwerdung ist ja gerade die Pointe des eigenen Wirksamkeitsglaubens, der die reale Handlung überdeckt und manchmal sogar ersetzt. Erinnerungskultur kann so zu einer Ersatzhandlung werden, wie im Falle der juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die trotz einzelner Großprozesse und entgegen des eigenen gesellschaftlichen Selbstbildes weitgehend ausgeblieben ist (vgl. Dörfer 2021). Die deutsche Erinnerungskultur ist eben auch vielfach das „Kunststück einer Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“ gewesen (vgl. Czollek 2023: 45).

Der 7. Oktober hat scheinbar einen anderen Klang gehabt, auch, weil sich eine deutsche Öffentlichkeit nach anfänglichem Zögern schließlich doch ausdrücklich gegen den sichtbar werdenden Antisemitismus positionierte. Ein zweiter Blick aber richtet sich auf die Frage, warum der Anti-Antisemitismus offenbar immer dann besonders laut wird, wenn er einen selbst nicht betrifft (was selbstverständlich auch eine Konstruktion von Selbst und Fremd beinhaltet, die eher in das Feld des Integrationsparadigmas passt): Warum haben wir über Achille Mbembe 2020, über ein indonesisches Kollektiv bei der Dokumenta 15 2022 oder über Antisemitismus unter Muslim*innen 2023 wochenlange und intensive mediale Debatten geführt – über rechtsradikale und revisionistische Spender*innen für das Berliner Stadtschloss und über die Judensau an deutschen Kirchen 2022, über die Mitte-Studie mit ihren schockierenden Ergebnissen oder die Stärke der AfD 2023 aber nicht, was zuletzt am weitgehenden Schweigen über die erste Wahl eines AfD-Politikers zum Oberbürgermeister in Pirna zu beobachten war?

Hier wird – und das ist mein letzter Punkt – eine aktuelle Ausweitung des Wirkungsbereichs der deutschen Erinnerungskultur deutlich. Neben der bereits aufgezeigten Wiederermöglichung eines deutschen Selbstbildes wird deutsche Erinnerungskultur dabei zunehmend auch zu einem Instrument, um Fragen gesellschaftlicher Zugehörigkeit zu regulieren. Bundeskanzler Olaf Scholz brachte das in seinem SPIEGEL-Interview Mitte Oktober auf den Punkt, als er die Bekämpfung von Antisemitismus mit einer strikteren Asylpolitik verknüpfte. Vor diesem Hintergrund geben die deutschen Reaktionen auf den 7. Oktober keinen Anlass zur Beruhigung. Offenbar hat die deutsche Erinnerungskultur auch weiterhin Teil an einer Verweigerung der nicht-migrantischen, nicht-jüdischen Öffentlichkeit, die Beschäftigung mit der Gewaltgeschichte und ihren Kontinuitäten in der Gegenwart als Anlass für eine Selbstkritik zu nehmen. Nichts zeigt das so deutlich, wie das Ausbleiben der Krise der Erzählung von der eigenen Wiedergutwerdung angesichts einer völkischen Partei, die aktuell bei einem knappen Viertel der Wähler*innenzustimmung steht.


Literaturverzeichnis

Bodemann , Y. Michael (1996): Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg

Czollek, Max (2023): Versöhnungstheater, München.

Geisel, Eike (2015):Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Essays und Polemiken, Berlin.

Dörfer, Achim 2021: »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen«. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung, Köln.