Spaltet Freiheit?

Es scheint, wer mehr Nachhaltigkeit und Solidarität anstrebt, muss sich zu weniger Freiheit bequemen – und umgekehrt. Allerdings nur, wenn wir einer Konzeption quantitativer Freiheit folgen, sagt der Philosoph Claus Dierksmeier. Es wäre anders, wenn wir eine Idee qualitativer Freiheit vor Augen hätten.

Wer auf die Zeitläufte seit dem Fall der Berliner Mauer blickt, betrachtet einen Siegeslauf der Freiheit. Einerseits. Andererseits haben neoliberale Wirtschafts- und libertäre Politikmodelle zu erheblichen Belastungen von Umwelt und Mitwelt geführt – und damit zu gesellschaftlichen Friktionen. Spaltet uns also die Freiheit? – Auf den ersten Blick scheint es so. Wer ökologische Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit anstrebt, erlegt sich Bindungen auf. Das schränkt den Freiheitsraum ein – ob nun beim Konsumieren, beim Wirtschaften oder in der Politik. Es scheint, wer mehr Nachhaltigkeit und Solidarität zum Ziel hat, muss sich zu weniger Freiheit bequemen – und umgekehrt. Allerdings nur, wenn wir einer Konzeption quantitativer Freiheit folgen. Anders wäre dies, verstünden wir uns zu einer Idee qualitativer Freiheit.

Quantitative Freiheit

Lange strebten Liberale eine Maximierung individueller Optionen bei Minimierung staatlicher Einflussnahme an. Zwar brauche es schon ein paar Gesetze, um unliebsame Zusammenstöße zu vermeiden. Koordinationsregeln (wie die Verkehrsgesetze) seien sinnvoll, welche (indem sie individuelle Freiheitsräume etwas beschneiden) die Gesamtmenge von Freiheit insgesamt (und damit im Durchschnitt auch den Freiheitsraum der Einzelnen) vergrößern. Aber: je weniger Regeln und je kleiner ihr Anwendungsbereich, desto freier die Gesellschaft. Quantitative Freiheit rechnet nach der Formel «je mehr, desto besser».

Was keinen Zuwachs an individuellen Optionen bringt, wird in den privaten Sektor abgedrängt. Umwelt, Mitwelt und Nachwelt tauchen in Theorien quantitativer Freiheit nur randständig auf: Denn die Theorie quantitativer Freiheit ist am Modell eines rationalen Tauschs orientiert. Wer die Respektierung anderer als Beschränkung eigener Interessen versteht, wird sie nur gewähren, wo es sich rechnet: etwa durch eine gleichartige Rücksichtnahme der anderen. Ebenso bei den Leistungspflichten. Was aber, wo kein symmetrischer Tausch möglich ist? Wozu sich zu etwas verpflichten, wenn das nicht mehr Optionen für einen selbst einbringt? Ein solches Denken spaltet, da es den Eindruck erweckt, die Freunde der Freiheit stünden zwangsläufig mit den Freunden der Nachhaltigkeit und der sozialen Gerechtigkeit im Clinch.

Zweifel am quantitativen Ansatz sind angebracht. Warum klammern wir uns an einige Freiheiten, verzichten aber entspannt auf andere? Müssten wir sie nicht, dem quantitativen Motto getreu, alle gleich bewerten? Die Vorschrift, nicht auf der linken Fahrbahn, sondern nur auf der rechten Seite einer Landstraße zu fahren, schränkt uns ja weit weniger dramatisch anders ein als – um im Beispiel zu bleiben – die Vorgabe, nie linken, sondern nur rechten Meinungen im öffentlichen Raum Ausdruck zu verleihen. Rein quantitativ wären aber wohl von ersterer mehr Menschen betroffen als von zweiterer. Das zeigt: Manche Freiheiten sind wichtiger als andere: Es kommt nicht nur auf Masse, sondern auch auf die Klasse unserer Freiheiten an. 

Qualitative Freiheit

Abwägen kommt vor Abwiegen. Wer quantitativ messen will, muss zuerst qualitativ sagen, was. Alle vorstellbaren Optionen können sowieso nicht verwirklicht werden. Es muss also eine Auswahl getroffen werden. Aber welche – und wie?

Natürlich darf Freiheit nicht willkürlich von außen eingeschränkt werden, von irgendwelchen Wertvorgaben oder Vorlieben. Qualitatives Freiheitsdenken wendet stattdessen die Idee der Freiheit auf sich selbst an und folgt dem Motto «je besser, desto mehr»: Je klarer die individuelle Freiheit den universellen – auf alle Personen zielenden – Gedanken von Autonomie verwirklicht, umso stärker sollten wir sie fördern. Die Frage «Welche Freiheit?» kann nur mit Rücksicht auf die Frage «Wessen Freiheit?» gültig beantwortet werden.

Freiheit steht uns nicht aufgrund unseres Geschlechts, Alters, unserer Hautfarbe, Ethnie oder Steuerklasse zu, sondern weil wir Personen sind – und damit allen Personen: nah wie fern lebenden Menschen, gegenwärtigen ebenso wie zukünftigen Generationen. Deshalb wird qualitative Freiheit nicht jede Vermehrung von Optionen gutheißen und etwa wirtschaftliche Leistung nicht allein anhand von pekuniären Parametern messen, sondern danach bewerten, ob und wie sie Lebenschancen verbessert und so Menschen zu einem selbstbestimmten und würdevollen Leben verhilft. Die Freiheit der anderen definiert also nicht nur die Grenze der unsrigen, sondern zeigt auch eines ihrer vornehmsten Ziele an.

Eine Philosophie qualitativer Freiheit legt allerdings nicht von vorneherein fest, was jeweils vor Ort und von Zeit zu Zeit als qualitative Freiheit zu gelten hat, wohl aber wie eine Gesellschaft dies (nicht) ermitteln sollte. Entscheidungsverfahren sind unzulässig, welche Einzelne und Gruppen diskriminieren und verhindern, dass Minderheiten heute so geschützt werden, dass sie morgen zwanglos zu Mehrheiten werden können. Nur solche Freiheitskonzepte können als legitime politische Übersetzungen der philosophischen Idee qualitativer Freiheit gelten, die ihre kritische Selbstanwendung überstehen. Wer seine oder ihre Freiheit so umsetzt, dass, falls die Rollen getauscht würden, ihm oder ihr keine Freiheit bliebe, widerspricht sich und untergräbt so die Geltungskraft des eigenen Freiheitsverlangens.

Was folgt daraus praktisch?

Qualitativ ausgerichtete Freiheitstheorie kann einer Spaltung der Gesellschaft entlang der Linien Freiheit versus Ökologie bzw. Freiheit versus soziale Gerechtigkeit entgegenwirken, da sie betont: Freiheit verpflichtet – Verantwortung befreit. Das lässt sich an drei Punkten gut verdeutlichen.

Erstens: Die Idee qualitativer Freiheit nimmt Einzelne und Gemeinschaft in Anspruch: Sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu befreien, obliegt allen selbst. Die Befreiung aus unverschuldeter Unmündigkeit jedoch schulden wir einander. Es braucht daher klare Grenzen zwischen Moral (freiwilliges Verfolgen von Werten) und Politik (Setzen rechtlich bindender Normen). Individueller, freiwilliger Verzicht (etwa auf Fleischkonsum oder Flugreisen) zum Wohle der Umwelt und kollektive, sanktionierte Verbote (z.B. Tempolimit) sind natürlich zweierlei. Aber sie hängen zusammen. Wo niemand freiwillig auf die Umwelt- und Sozialverträglichkeit des eigenen Freiheitsgebrauchs achtet, sondern sich opportunistisch, wo immer es ungestraft geht, Vorteile auch zuungunsten Dritter oder der Allgemeinheit verschafft, erschallt alsbald der Ruf nach einer engeren Beschneidung der persönlichen Freiräume durch den Staat. Wenn Liberale also freiheitswidrige Übergriffigkeit im Namen hehrer Ziele fürchten, sollten sie sich aktiv(er) ums Gemeinwohl kümmern, damit es nicht andere – eventuell weniger große Freunde der Freiheit – tun.

Zweitens: Was von unserer Freiheit ausgeht, geht auch wieder in sie ein. Freiheit beruht auf Voraussetzungen, die sie beeinflusst. Gerade weil die Idee der Freiheit niemandem bestimmte Lebensziele vorschreibt, muss sie angesichts endlicher Ressourcen und unendlicher (gerade auch zukünftiger) menschlicher Ziele zum sorgsamen Gebrauch der geteilten Lebenswelt aufrufen, damit auch kommende Generationen in Freiheit über sich entscheiden können. Ein Gebrauch von Freiheit, der kaum umkehrbare Pfadabhängigkeiten schafft, steht darum zu Recht unter einer höheren Begründungslast als einer, dessen Wirkung leichthin reversibel ist.

Drittens: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Die Ziele liberaler Politik sollen durch freiheitliche Mittel erreicht werden. Die Theorie qualitativer Freiheit fragt folglich nicht technokratisch: «Wer hat Recht?», sondern demokratisch: «Wer hat das Recht zu entscheiden?» und damit auch: «Wer hat das Recht zu irren?». Deswegen braucht es Demokratiepolitik, die dafür sorgt, dass alle, die von einer Regelung (oder deren Ausbleiben) betroffen sind, zu direkt oder repräsentativ Beteiligten werden, wenn diese Regelung zustande kommt. Was uns angesichts der Globalisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelt momentan vor besonders schwierige Aufgaben stellt.

Was bleibt?

Quantitative Freiheit findet in qualitativer ihren Grund; qualitative Freiheit gibt sich in quantitativer ihr Maß. Durch die Qualifizierung unserer Freiheiten im Hinblick auf ihre Verträglichkeit mit den Freiheiten aller Menschen werden soziale und ökologische Nachhaltigkeitsbelange sichtbar als das, was sie sind: integrale Momente freiheitlichen Lebens. Entsprechende Bemühungen sollten wir, anstatt sie als ein quantitatives Minus an privaten zu verbuchen, als ein qualitatives Melior an geteilten Lebenschancen betrachten und behandeln – als besseren, weil dem universellen Wesen ihrer Idee entsprechenden Gebrauch der Freiheit.


Claus Dierksmeier ist Philosoph und Professor für Globalisierungsethik an der Universität Tübingen. Zudem ist er als Strategieberater in Politik und Wirtschaft tätig. Seine akademische Arbeit konzentriert sich auf das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung im Zeitalter der Globalität.

This article is licensed under Creative Commons License