Das Leid und den Schmerz nicht vergessen

Laudation

Lotte Leicht würdigt in ihrer Laudatio Menschen wie Joumana Seif, die nicht Rache fordern für Verbrechen, welche gegen sie und ihre Angehörigen begangen wurden, sondern die auf Gerechtigkeit bestehen.

Anne Klein Women's Award 2023: Laudation by Lotte Leicht

„Der Sinn meines Lebens ist, am Aufbau eines demokratischen Syriens mitzuwirken, eines Landes, in dem Männer und Frauen gleiche Rechte haben und in Würde leben können. Erst wenn das geschafft ist, wird der Kampf vorbei sein‟, so die beflügelnden Worte der syrischen Anwältin und Frauenrechtlerin Joumana Seif, die wir heute mit dem Anne-Klein-Frauenpreis auszeichnen.

In Syrien für Menschenrechte einzustehen, für Demokratie und Freiheit, das bedeutet zu leiden – ein Leid, das Joumana, ihre Familie und viele Menschen in Syrien nur zu gut kennen.

Joumanas Familie war schwerster Verfolgung ausgesetzt; Angehörige wurden gefoltert, verschwanden und wurden ermordet, und schließlich war sie gezwungen, aus Syrien zu fliehen. Schon in jungen Jahren musste Joumana erleben, dass Angehörige vom Regime verhaftet wurden, verschwanden – und was mit ihnen geschah, blieb unbekannt. Bis heute weiß sie nichts über den Verbleib ihres kleinen Bruders Eyad. Joumanas Vater, der hier bei uns ist, saß acht Jahre im Gefängnis. Sein Verbrechen? – er hatte sich gegen Korruption und für Reformen eingesetzt. Selbstverständlich ist es KEIN Verbrechen sich für die Wahrung der Menschenrechte einzusetzen, doch in Syrien werden jene, die es tun, vom Regime hart bestraft. Joumana sagt, sie habe Jura studiert, um etwas zu tun gegen die Verfolgung, die ihre Familie durch das Regime erlitten hat, sowie gegen die Verfolgung von Aktivisten und Frauen. Selbst aus der Ferne nutzt sie weiter ihr juristisches Wissen und ihre Erfahrung, um Frauenrechte in Syrien zu fördern und die Verantwortlichen für die schrecklichen Verbrechen vor Gericht zu bringen. Der Kampf, so sagt sie, wird weitergehen, bis zu dem Tag, an dem Demokratie, Freiheit und Menschenwürde in ihrer Heimat Syrien geachtet werden.

Die Welt soll nach Syrien schauen

Als ich die Laudatio für meine Freundin Joumana schrieb – für eine Frau und, als Juristin, für eine Kollegin, die ich sehr bewundere – , da musste ich an ein abendliches Gespräch denken, vor einem Jahr, hier, gleich gegenüber, in der Bar des Deutschen Theaters.

Es war ein wunderschöner, beinahe schon frühlingshafter Abend. Die Stimmung war gelöst, und die Menschen um uns herum ließen es sich gut gehen. Wir aber sprachen über Dinge, die alles andere als unbeschwert waren.



Joumana erzählte von entsetzlichen Belegen für Folter, Vergewaltigung und sexueller Gewalt gegen Frauen – und Männer –, gegen Menschen, die man verhaftete und die in dem riesigen Netzwerk von Gefängnissen, Lagern und Verhörzentren des syrischen Regimes verschwanden. Belege hierfür hatte sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen gesammelt. Für Frauen in Syrien, das betonte Joumana, bedeutete Haft, gedemütigt zu werden, sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein oder gar vergewaltigt zu werden.



Wir sprachen über die Ängste derjenigen, die Folter und Vergewaltigung überlebt hatten, die entkommen waren und nun davon berichten konnten, von den Ängsten, der lange Arm der Schergen des syrischen Geheimdienstes könne sie immer noch erreichen, von Menschenleben, die vom Trauma gezeichnet sind und von ständiger Unruhe, selbst bei denjenigen, die jetzt in Deutschland leben.



Joumanas größte Angst aber, das wurde mir schlagartig klar, hat zu tun mit ihrer Arbeit, mit den Belegen für die schrecklichen Verbrechen, die sie sammelt, mit der Hilfe für die Opfer, und diese Angst besteht darin, die Welt könne das Leid und den Schmerz vergessen – und Regierungen könnten einfach weitermachen, könnten ihre Beziehungen zu Syrien normalisieren – und das, obgleich das syrische Regime schreckliche Verbrechen begangen hat: 130.000 Verschwundene, hunderttausende Tote, Millionen, denen großes Leid widerfuhr.



Joumana fürchtete, Menschen in Syrien, die abgestraft, gefoltert, vergewaltigt und ermordet wurden, nur weil sie so ‚wagemutig‛ waren, etwas zu fordern, das den meisten von uns selbstverständlich scheint, nämlich in einem Land zu leben, in dem Freiheit, Recht und Demokratie etwas gelten und man ohne Angst vor Verfolgung leben kann, sie fürchtete, diese Menschen könnten zu ‚bloßen Zahlen‛ werden und wir ihre Namen, ihre Geschichten vergessen. Sie fürchtete, die Spitze des syrischen Staats und ihre verbrecherischen Sicherheitskräfte, die für so viele abscheuliche Verbrechen verantwortlich waren – und nach wie vor sind –, würden nie zur Verantwortung gezogen. Sie fürchtete, das Leid von Millionen Menschen in Syrien werde juristisch nie aufgearbeitet.



Seit das syrische Regime gegen Dissidenten und Opposition losschlug, gefolgt von einem brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung, war klar, Regierungen aus aller Welt verurteilten zwar rasch Menschenrechtsverstöße und stellten sich auf die Seite des syrischen Volks, doch geschützt wurden Opfer kaum, und unternommen wurde gegen die Verbrechen fast nichts. In Erklärungen wie auch in UN-Resolutionen hieß es, die Täter würden sich verantworten müssen, doch war klar, Gerechtigkeit für die Opfer der abscheulichen Verbrechen wäre nur schwer zu bekommen.

Den Tätern zeigen, dass ihre Verbrechen vor Gericht kommen

Vor syrischen Gerichten Recht zu bekommen war und ist unmöglich, dienen diese doch allein dazu, jene zu bestrafen, die sich für Menschenrechte einsetzen – und eben nicht die Vertreter des Regimes, das diese Rechte mit Füßen tritt.



Grundsätzlich sollte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hier aktiv werden, hat er doch die Aufgabe, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu untersuchen und zu verfolgen. Doch ist Syrien nicht Mitglied dieses Gerichts, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann nicht eingreifen, da Russland und China eine Resolution, die fordert, das Gericht solle die Gräuel in Syrien untersuchen, durch ihr Veto blockieren.



Statt gegen die Türen des Sicherheitsrates anzurennen, wo Russland und China ihr Veto wieder und wieder einsetzen, um das syrische Regime vor dem Zugriff der Weltjustiz zu schützen, beschlossen wir, anders vorzugehen, und Beweismittel zu sammeln, die vor Gericht Bestand haben würden.



Wir wandten uns an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, denn dort sind sämtliche Mitglieder vertreten und hat kein Staat ein Vetorecht. Mit Ländern, die willens waren, erarbeiteten wir ein Verfahren, in dessen Rahmen Belege für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in Syrien geprüft, gesammelt, ausgewertet und aufbewahrt werden, mit dem Ziel, sie später vor Gericht bei Verfahren zu verwenden, die international anerkannten rechtsstaatlichen Prinzipien folgen. Wir wollten so den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in Syrien Hoffnung machen und den Tätern zeigen, ihre Verbrechen lassen sich später vor Gericht beweisen. Denen, die glauben, sie können vergewaltigen, foltern, morden und Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser beschießen, sollte so klar gemacht werden, dass sie sich vor Gericht verantworten müssen – vielleicht nicht gleich, doch eines Tages gewiss.



Viele Diplomaten sahen unser Ansinnen mit ‚höflicher Skepsis‛, und manch einer sagte: „Dergleichen hat die Vollversammlung noch nie unternommen – und also ist es unmöglich.‟ Andere sagten, es sei Zeitverschwendung, denn Russland werde bestimmt eine ausreichende Zahl von Ländern auf seine Seite ziehen und das Projekt torpedieren. Aber irgendwann geschieht etwas immer zum ersten Mal – und was hatten wir zu verlieren? Es nicht zu versuchen, das kam für uns nicht in Frage, und Schritt für Schritt gelang es uns, Länder zu überzeugen, und viele, darunter Deutschland, stellten sich mit Nachdruck in den Dienst unserer Sache.



Schließlich, am Abend des 21. Dezember 2016, beschloss die UN-Vollversammlung – sehr zum Missfallen Russlands und Syriens – die Resolution A/71/248, durch die erstmals in der Geschichte eine neue Untersuchungskommission für Syrien eingerichtet wurde. Sie trug den nicht ganz glücklich gewählten Namen „The International, Impartial and Independent Mechanism‟, kurz IIIM.



Catherine Machi-Uhel, eine französische Richterin mit jahrzehntelanger Erfahrung an internationalen Ad-hoc-Gerichten, wurde beauftragt, den IIIM aufzubauen und zu leiten. Aktuell unterstützen Catherine, ihre Kollegin Michelle Jarvis, die heute Abend hier ist, sowie eine Gruppe von Fachleuten die Ermittlungen und Verfahren, alle auf Grundlage des Weltrechtsprinzips, von über einem Dutzend Staatsanwaltschaften in verschiedenen Ländern. Dieses Prinzip, das ins Rechtssystem vieler Länder Eingang gefunden hat und auf das Völkerrecht zurückgeht, gibt der Justiz der jeweiligen Länder die Zuständigkeit für Verbrechen, die als so schwerwiegend gelten, dass sie, unabhängig vom Ort der Tat, verfolgt werden, und auch die Staatsangehörigkeit der Opfer und der mutmaßlichen Täter ist dabei nicht von Belang.

Das weltweit erste Urteil fiel in Deutschland, in Koblenz

Deutschland hat, was das Weltrechtsprinzip angeht, eines der im internationalen Vergleich besten Gesetze, und dieses wurde bei der Verfolgung der in Syrien begangenen Gräuel angewandt.



Am 13. Januar 2022 fiel in Deutschland das Urteil im weltweit ersten Prozess über die vom syrischen Regime begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Oberlandesgericht Koblenz befand Anwar R., vormals Offizier des syrischen Geheimdienstes, schuldig, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, nämlich an der Ermordung von 27 Menschen beteiligt gewesen zu sein, wenigstens 4000 Menschen ihrer Freiheit beraubt, gefoltert und schwerwiegende sexuelle Gewalttaten begangen zu haben, darunter die Vergewaltigung von Frauen und Männern. Der Angeklagte wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht befand, die Gräuel seien Teil eines staatlichen Programms gewesen, um friedliche Demonstrationen und öffentlichen Widerstand zu zerschlagen. Zum ersten Mal stellte ein unabhängiges Gericht somit fest, dass die Spitzen des syrischen Regimes Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezielt als Waffe einsetzen.



Zu dem Verfahren in Koblenz – sowie weiteren Verfahren, die in Deutschland gegen Vertreter des syrischen Regimes stattfinden – wäre es wohl nicht gekommen, hätten nicht sehr mutige syrische Anwältinnen und Anwälte wie Joumana entschlossen und unermüdlich mit syrischen Aktivisten, Zeugen, Opfern und deren Familien gearbeitet. Gemeinsam mit Juristinnen und Juristen des Europäischen Zentrums für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in Berlin sammelten sie Aussagen und andere Beweise und reichten Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein.

Sexualisierte Gewalt wird geahndet. Dank Joumana Seif

Dank Joumana und ihrer Kolleginnen und Kollegen ist es so gelungen, sexuelle Gewalt und Vergewaltigung in die Anklage gegen Anwar R. einfließen zu lassen. Dafür vielen Dank Joumana! Für die zahlreichen tapferen syrischen Frauen, denen du beigestanden hast, ist das von großer Bedeutung.



Wassim Mukdad, dessen wunderbare Musik wir heute Abend hören, Musik, die mich zugleich lächeln und weinen lässt, war einer der Kläger in Koblenz. In seinem bewegenden, eindringlichen Schlusswort sagte Wassim vor Gericht: „Ich stehe heute vor ihnen, da ich Gerechtigkeit fordere, nicht Rache oder Vergeltung. Das Syrien, von dem ich träume, und für das ich gekämpft habe und weiter kämpfe, muss auf Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit gründen, nicht auf Gewalt, Gegengewalt [und] Rache.‟ Weiter sagte Wassim: „Als Syrer freuen wir uns auf den Tag, wenn unser Land … ein Land sein wird, das unsere Rechte achtet und uns keine Gewalt antut.‟ „Wir haben genug von dem Schlamassel in Syrien. Über Jahrzehnte vergoss man unser Blut ohne dass dafür je jemand zur Verantwortung gezogen wurde.‟



Nach dem Urteil schrieb Joumana, das Verfahren in Koblenz sei ein „großer Schritt‟ auf dem Weg zur Gerechtigkeit und sei „der Anfang der Abrechnung mit den Verbrechen des Assad-Regimes, welche über 50 Jahre lang straflos blieben.‟



Ein anderer syrischer Kläger berichtete mir, das Verfahren habe ihn gestärkt: „In diesem Gerichtssaal war ich nicht bloß Folteropfer, ich war dort, um Gerechtigkeit zu bekommen.‟



Eine syrische Prozessbeobachterin sagte zu mir: „Hier bin ich zum ersten Mal in einem Gerichtssaal, wo Beweismaterial gewürdigt wird und der Ausgang des Verfahrens nicht von Beginn an feststeht. Hier wird wirklich Recht gesprochen.‟



Fürwahr, das Verfahren in Koblenz war ein wichtiger Wendepunkt im internationalen Recht, ein wirkmächtiger Präzedenzfall. Tatsachen, Beweismaterial und Recht sind wichtig! Täter, die so grauenhafte Verbrechen begangen haben wie sexuelle Gewalt und Vergewaltigungen, können von staatlichen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden. Staatliche Gerichte spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die abscheulichen Verbrechen von Diktatoren und ihren Regimes ans Licht zu bringen und ins historische Gedächtnis zu rücken. Die harte Arbeit, die Joumana und ihre Kolleginnen und Kollegen geleistet haben, hat, gemeinsam mit dem erstaunlichen Mut syrischer Aktivistinnen, Aktivisten und Opfer, dies erst möglich gemacht!



Dank geht auch an die Bundesanwaltschaft und die deutsche Justiz für ihre Zielstrebigkeit und Professionalität sowie, in Joumanas Worten, dafür dass sie „da, wo andere Ansätze nicht gangbar waren, Ansätze gefunden hat, Syrerinnen und Syrern zu ihrem Recht zu verhelfen.‟



An die Heinrich-Böll-Stiftung geht herzlicher Dank. Sie hat die Bemühungen von Menschen aus Syrien, Recht zu bekommen, entscheidend finanziell und anderweitig unterstützt. Von Anfang an hat die Stiftung begriffen, dieser Weg zu grundsätzlicher Gerechtigkeit ist sehr wichtig, und diese anhaltende Unterstützung war von ausgesprochen großer Bedeutung. Vielen Dank!

Verbesserungen in der Strafverfolgung sind auf dem Weg

Das Verfahren in Koblenz hat allerdings auch eine Reihe von Mankos zum Vorschein gebracht. Zu nennen sind rechtliche Lücken bei der Bestimmung von Verbrechen, alberne Beschränkungen bei der Übersetzung, während des Verfahrens der ungenügende Zugang für Medien und Prozessbeobachter zu Informationen, mangelnde Unterstützung und fehlender Schutz für Kläger, Opfer und Zeugen und das fehlender Bewusstsein dafür, wie wichtig die Prozessakten für das historische Gedächtnis und die erinnerte Wahrheit sind.



Ausgehend von diesen Erfahrungen erarbeiteten Joumana und das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte Vorschläge für dringend notwendige Verbesserungen, und diese wurden dem Bundestag und dem Justizministerium unterbreitet. Ich bin glücklich, ihnen sagen zu können, vor wenigen Tagen, am 23. Februar 2023, hat das Justizministerium eine Reihe von Reformen vorgestellt, die weitgehend auf die Empfehlungen von Joumana und ihren Kolleginnen und Kollegen eingehen. Dafür meine Hochachtung!



Ja, Gerechtigkeit ist wichtig, und wir müssen beständig unsere Gesetze so verbessern, dass Recht gesprochen wird, denn das schulden wir den Opfern. Straffreiheit führt zu weiteren Gräueln und Verbrechen.

Straffreiheit ermutigt die Täter in Syrien

Straffreiheit ermutigt diejenigen, die zynisch darauf setzen, dass sie, ohne Folgen fürchten zu müssen, abweichende Meinungen durch Angst und Terror zum Schweigen bringen, indem sie Verbrechen wie Folter und Vergewaltigung als Waffe einsetzen.



Straffreiheit für den Beschuss von Krankenhäusern, Schulen, Märkten, Wohnhäusern und Infrastruktur ermutigt brutale Gewaltherrscher und verbrecherische Regimes, ihre Ziele weiter durch Kriegsverbrechen zu verfolgen und zudem Macht, Reichtum und Sonderrechte zu festigen.



Straffreiheit für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Angriffskriege hat in Zukunft, hat für die Welt, in der unsere Kinder morgen leben werden, verheerende Folgen.



Zu einem guten Teil konnte das syrische Regime an seinem Kurs, jeden Widerstand brutal zu unterdrücken, festhalten, da Russland und Iran es vorbehaltlos unterstützen. Diese beiden Länder waren unmittelbar an Kriegsverbrechen in Syrien beteiligt. Russland hat Krankenhäuser, Schulen und Zivilbevölkerung bombardiert und ganze Städte in Schutt und Asche gelegt, und iranische Milizen haben zusammen mit Kräften des syrischen Regimes Kriegsverbrechen begangen.



Währenddessen ist unklar, was aus Tausenden von Menschen geworden ist, die ISIS entführt hat. In Teilen Nordost-Syriens, die von der Türkei besetzt sind, sind Menschen- und Freiheitsrechte nach wie vor beschränkt, und die von den USA unterstützten, unter kurdischer Führung stehenden Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben gleichfalls Aktivisten und Journalisten festgesetzt. Die unter Leitung der USA stehende Koalition gegen ISIS hat wiederholt Militäreinsätze in Teilen Syriens unternommen, und über 60.000 ISIS-Mitglieder sowie der Mitgliedschaft verdächtigte Menschen werden zusammen mit ihren Familien, Frauen und Kindern, unter schrecklichen Bedingungen gefangen gehalten. Auch Israel hat Ziele in Syrien militärisch angegriffen.

In Syrien gibt es keine Sicherheit! Flüchtlinge aus Syrien haben ein Recht, Schutz zu suchen und zu erhalten. Niemand sollte gezwungen werden, in ein Land zurückzukehren, in dem die Menschenrechte nicht gelten.



Straffreiheit ist in Syrien nach wie vor die Regel, das stimmt, doch Beweise für Verbrechen, die alle Konfliktparteien begehen, werden gesammelt, und Gerechtigkeit und Recht bleiben ein Thema, nicht zuletzt dank der zähen Bemühungen von Aktivisten und von Juristinnen wie Joumana.



Gerechtigkeit ist wichtig!

Russlands Krieg fordert das internationale Rechtssystem heraus

Wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dem internationalen Rechtssystem den Todesstoß versetzen? Oder wird es der Beginn einer neuen Ära sein, einer Ära, im Zeichen von Schutz und Recht?



Als Russland die Ukraine großflächig angriff, wobei es zu systematischen Kriegsverbrechen kam, sagten viele, dieser eklatante Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen – unsere ‚Weltverfassung‛ – sowie die Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht stellten nicht nur die bislang größte Gefahr für die auf internationalen Regeln beruhende Ordnung dar, sondern bedeuteten ihr Ende.



Stimmt das aber auch? Könnte es sich nicht umgekehrt verhalten? Ich denke, das hängt ganz von uns ab!



Als Reaktion auf Putins offensichtlich rechtswidrigen Krieg, erleben wir die Wiederbelebung von zuvor ‚scheintoten‛ internationalen Organen, und eine noch nie dagewesene Entschlossenheit, das Verbot von Kriegen durchzusetzen sowie die rechtliche Aufarbeitung dieses größten aller Verbrechen voranzutreiben.



Das Ausmaß der von Russland verübten Gräueltaten – der Zerstörungen, Morde, Vergewaltigungen, Folter, Vertreibungen und der Entführung von Kindern, hat weltweit, regional und national zu einer beispiellosen Entschlossenheit geführt, Beweise für diese schrecklichen Verbrechen zu sammeln und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.



Die Ukraine ist kein Mitgliedsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), doch hat Kiew bereits 2013 und 2014 dem Gerichtshof die rechtliche Zuständigkeit für sein gesamtes Staatsgebiet übertragen. Der IStGH untersucht bereits Verbrechen, die in der Ukraine begangen wurden, und mehrere Staaten haben ihm erhebliche zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt, um das möglich zu machen. Der IStGH kann Spitzenpolitiker wegen Kriegsgräueln anklagen, darunter möglicherweise die Präsidenten von Russland und Belarus. Gerichte einzelner Länder jedoch können, wenden sie das Weltrechtsprinzip an, amtierende Präsidenten, Premiers oder Außenminister strafrechtlich nicht belangen, genießen diese doch Immunität.



Ukrainische Ermittlungsbehörden sammeln, unterstützt von Fachleuten aus anderen Ländern, Belege für Kriegsverbrechen. Die Staatsanwaltschaften mehrerer europäischer Staaten, darunter die Bundesanwaltschaft, führen Untersuchungen durch, und Eurojust, die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, ist die zentrale Anlaufstelle.



Bei all diesen rechtlichen Initiativen fehlt jedoch ein wichtiges Puzzlestück. Derzeit gibt es keinen Weg, um russische – und eventuell belarussische – Spitzenpolitiker und Militärs für den rechtswidrigen Krieg anzuklagen – und das obgleich der Angriffskrieg die Ursache aller Gräueltaten ist. Die Gerichtsbarkeit des IStGH für die Verantwortlichen besteht nur bei Bürgerinnen und Bürger von Staaten, die das Gericht für zuständig erklärt haben, was weder bei Russland noch bei Belarus der Fall ist. Natürlich könnte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den IStGH beauftragen, den Angriff auf die Ukraine zu untersuchen, doch würde Russland das mit seinem Veto verhindern.

Die Weltordnung zu erhalten, braucht kühne internationale Vorstöße

Können wir also gar nichts tun? Bleibt uns nichts, als den politisch Verantwortlichen zu sagen: „Wenn ihr mit Gewalt Grenzen ändern wollt – bitteschön. Die internationale Gemeinschaft mag euch deswegen kritisieren und sanktionieren, aber weiter wird nichts geschehen‟. Nein, das darf nicht sein! Wenn die Weltordnung auf dem Spiel steht, sind kühne internationale Vorstöße gefragt. In diesem konkreten Fall brauchen wir ein Internationales Sondertribunal für den Angriffskrieg auf die Ukraine. Da der Sicherheitsrat solch ein Tribunal nicht einsetzen wird, müssen wir uns auch hier an die Generalversammlung der Vereinten Nationen wenden, die per Resolution die Einrichtung eines solchen Tribunal unterstützen würde. Außerdem sollten Staaten den IStGH schleunigst reformieren und sicherstellen, dass er in Zukunft bei Angriffskriegen die volle Gerichtsbarkeit hat.



Im Unterschied zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Angriffskrieg vor Gericht nicht allzu schwer zu beweisen. Der Juraprofessor Philipp Sands formulierte es in einem Interview so: „… offen gesagt ist es kinderleicht, das Verbrechen eines Angriffskriegs zu beweisen – die Anklageschrift schreibt sich fast von selbst. Die Beweisführung ist simpel, und Beweise vorzulegen kein Problem. Es geht dabei ja nicht nur um die Entscheidung, Krieg zu führen, sondern auch darum, ihn weiterzuführen … Jede Handlung, jeder Angriff, jede Bombe, die auf ein Theater fällt in dem 1000 Menschen sind, ist eine A
ggression. Ich will nicht, dass die Leute, die dafür verantwortlich sind, ungestraft davonkommen.‟



Jetzt, da alles auf die Ukraine schaut und es unzählige Versuche gibt, die dortigen Verbrechen juristisch aufzuarbeiten, bemängeln einige zurecht, es werde mit zweierlei Maß gemessen und über andere Konflikte und die Gräuel dort werde hinweggesehen. In ihren Augen vergessen wir die Menschen, die anderen Konflikten zum Opfer fallen. Und – sie haben recht! Eben dies muss sich ändern!



Die Reaktion auf solch berechtigte Kritik sollte nicht sein, den Opfern in der Ukraine keine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Reaktion muss sein, noch mehr zu tun, um den Opfern in aller Welt zu helfen!



Von dem Versagen, dass in der Vergangenheit nicht nach Recht und Gesetz gehandelt wurde, darf man nicht weitere Ungerechtigkeit, weiteres Versagen herleiten.



Vielmehr sollten wir den historischen Moment nutzen, diesen Weckruf, um in aller Welt entschlossener denn je, die auf festen Regeln basierende internationale Ordnung zu schützen. Das Völkerrecht muss gelten – darauf müssen wir bestehen, und wir müssen dafür sorgen, dass Verstöße, gleich wo auf der Welt, rechtlich geahndet werden. Nur wenn dies geschieht, kann das internationale Regelwerk glaubhaft Menschen und Menschenrechte in aller Welt schützen.

Alle haben ein Recht auf Gerechtigkeit



Im Sommer vergangenen Jahres nahm ich an einem Treffen mit Dr. Denis Mukwege, dem Friedensnobelpreisträger von 2018, teil. Er sprach über die Kriegsverbrechen, zu denen es nach wie vor in seiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo kommt. Grauenhafte Einzelheiten kamen zur Sprache, wie das Leid von Frauen und Kindern, selbst Kleinkindern, die von Rebellen brutal vergewaltigt und sexuell missbraucht worden waren. Die körperlichen und psychischen Wunden solcher Gewaltopfer werden im Panzi-Hospital, wo er arbeitet, behandelt. Dr. Mukwege sprach davon, wie wichtig es sei, den Opfern solcher schrecklichen Verbrechen – Verbrechen, die mit dem Ziel verübt werden, die Leben dieser Frauen und Kinder sowie der Familien und Gemeinden, aus denen sie kommen, zu zerstören –, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dann sprach er über den Krieg in der Ukraine und über die schreckliche sexuelle Gewalt und die Vergewaltigungen, die russische Soldaten verübten. Wenn man in einer Klinik in der Demokratischen Republik Kongo arbeitet, so Dr. Mukwege, wo brutale Verbrechen weiter ungestraft stattfänden, was international nur wenig beachtet werde, dann könne man versucht sein, ‚neidisch‛ zu werden auf die weltweite Aufmerksamkeit für die Schrecken in der Ukraine sowie auf die Versuche, den Opfern dort Recht zu verschaffen.



Für einen Moment hielt Dr. Mukwege inne. Dann sagte er mit fester Stimme: „Aber nein, ich bin nicht neidisch. Ich sage: Bravo! Und ich sage: Lasst uns so weitermachen, überall, lasst uns den Opfern beistehen, denen, die, gleich wo in der Welt, Vergewaltigungen und andere furchtbare Verbrechen überlebt haben. Sie alle haben ein Recht auf Gerechtigkeit!‟

Ja, Gerechtigkeit ist wichtig, und ja, sie muss ohne Unterschied gelten. Wir dürfen nicht an einem Ort rechtlich gegen Verbrechen vorgehen und andernorts vergleichbares links liegen lassen, gar rechtliche Abhilfe verweigern. Wir dürfen Verbrechen nicht deswegen ungeahndet lassen, weil die Täter als unsere Verbündeten gelten, oder weil es nicht im Sinne unserer nationalen Interessen wäre, an bestimmten Orten Gerechtigkeit für Gewaltopfer einzufordern. Das Völkerrecht ist kein Wunschkonzert, bei dem wir unsere Lieblingstitel herauspicken können.



Die Unnachgiebigkeit und der Mut von Joumana und ihren syrischen Kolleginnen und Kollegen sollte uns Vorbild sein – Menschen, die nicht Rache fordern für Verbrechen, welche gegen sie und ihre Angehörigen begangen wurden, sondern die menschlich und in Würde darauf bestehen, der einzige Weg voran sei die Gerechtigkeit.



Folgen wir dem, was Joumana, dem was Dr. Mukwege sagt und treiben wir die internationale Dynamik für mehr Gerechtigkeit weiter voran, mit dem Ziel, Gerechtigkeit zu schaffen für die Opfer schrecklicher Gewalt in aller Welt.

Verbrechen müssen international verfolgt werden, egal wo sie geschehen

Sorgen wir dafür, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht das Ende des Völkerrechts und international gültiger Regeln bedeutet. Stattdessen muss es ein neuer Anfang sein für unsere juristische Entschlossenheit, für unseren politischen Willen, dafür zu sorgen, dass Täter nicht weiter ungestraft foltern, vergewaltigen und morden können, dass das Verbot von Kriegen ernst genommen wird, und dass international Verbrechen strafrechtlich verfolgt worden, gleich ob sie in Europa, Afrika, Asien, Nahost, Nord- oder Südamerika geschehen.



Lasst uns neue, hoch gesteckte Ziele für Gerechtigkeit ausrufen, ein Programm, das diejenigen Menschen und Gemeinden, die von Verbrechen am stärksten betroffen sind, in den Mittelpunkt stellt.



Liebe Joumana, ich kann gar nicht ausdrücken, wie groß die Ehre ist, heute Abend hier zu sein und mit dir gemeinsam zu feiern – deine Arbeit, deinen Mut und deine Menschlichkeit. Du beflügelst uns, besser zu werden, mehr zu tun, niemals aufzugeben, im Kampf für Frauenrechte, und gegen jene, die Menschenrechte verletzen, vorzugehen und sich bei schwerwiegenden Verstößen für Rechenschaft und Gerechtigkeit einzusetzen, gleich wer die Opfer, wer die Täter sind. Du und deine wunderbaren Kolleginnen und Kollegen zeigen uns, durch harte Arbeit kann man der Gerechtigkeit einen Weg bahnen. Du hast Berge bewegt – und die Arbeit geht weiter.



Für die Überlebenden, die Opfer und ihre Familien, das hast du uns bewusst gemacht, ist Gerechtigkeit für Vergewaltigungen und für andere Gräuel kein moralischer Luxus, es ist ein Recht!



Vielen Dank, Joumana – und herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Anne-Klein-Frauenpreises.

Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Herrmann