Europäische Zivilgesellschaft stärken! Plädoyer für ein Europäisches Vereinsstatut

Kommentar

Europäische Vereine und zivilgesellschaftliche Organisationen können sich nicht auf einen eigenen Rechtsstatus in den EU-Verträgen stützen. Dabei gibt es triftige Gründe, diese Lücke zu schließen und ein Europäisches Vereinsstatut zu schaffen.

Grafitti - Megaphon auf grauen Steinplatten

Bis heute bietet die EU keinen rechtlichen Rahmen für europäische Vereine. Dies ist angesichts der umfassenden grenzüberschreitenden gesellschaftlichen Aktivitäten und den damit verbundenen bürokratischen und rechtlichen Hürden verwunderlich. Es gibt triftige Gründe, diese Lücke zu schließen und ein Europäisches Vereinsstatut zu schaffen.

1. Europäische Demokratie stärken!

Die Europäische Union bezeichnet sich selber als eine „Union der Völker Europas (…), in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“ (Art. 1 EUV). Sie gibt sich demokratische Grundsätze, sieht die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sowie von Verbänden explizit vor und fördert sie (Art. 11 EUV). Der zivile Dialog auf europäischer Ebene ist damit ein konstitutiver Bestandteil der EU. Dass gleichzeitig keine europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen gegründet werden können, weil es keine genuine Rechtsform dafür gibt, ist ein erhebliches Missverhältnis und führt bei der konkreten Umsetzung des Art. 11 zu Schwierigkeiten, Intransparenz und Ungerechtigkeiten. Dies hat gravierende demokratiepolitische Implikationen und ist angesichts des Geringen, was es bedürfte, um dieses Demokratiedefizit zu beheben, nicht nachzuvollziehen.

Jenseits der politischen Beteiligung europäischer zivilgesellschaftlicher Netzwerke im Brüsseler Politikprozess hat sich der politische Handlungsrahmen der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren bedenklich verändert. Shrinking Space bezeichnet die zunehmende Verengung zivilgesellschaftlicher Handlungsräume, des Civic Space. Der Begriff bezieht sich zum einen auf die Einschränkung fundamentaler Rechte wie die Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit durch die Regierung oder Justiz eines Landes. Zum anderen umfasst er aber auch die Grundstimmung in einem Land oder einer Region im Hinblick auf das öffentliche zivilgesellschaftliche Engagement. Er bezieht sich also nicht ausschließlich auf unmittelbar staatliche Repressionen wie Diskreditierung und Diffamierungen, Drohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegenüber NGOs, ihren Aktivist*innen und Anliegen.

Das Netzwerk CIVICUS legt jährlich eine weltweite Bestandsanalyse des Civic Space vor. 109 Länder sind von einem eingeschränkten zivilgesellschaftlichen Raum betroffen und nur drei Prozent der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen dieser Raum als offen bezeichnet werden kann. In diesem Monitor wird aber auch deutlich: Das Phänomen des Shrinking Space ist nicht nur auf Autokratien anderer Kontinente oder auf die wenigen medial diskutierten Einzelfälle in Europa beschränkt. Die im Monitor ausgewiesenen weltweiten negativen Trends können EU-weit nachgewiesen werden. Die Schaffung einer europäischen Rechtsform für zivilgesellschaftliches Engagement wäre für die vielen betroffenen Organisationen in den EU-Mitgliedstaaten ein wichtiges politisches Signal, dass Werte und Grundrechte europaweit gestärkt und zugänglich sind, und böte effektiven legalen Schutz für die transeuropäisch organisierte Zivilgesellschaft.

2. Europäische Zivilgesellschaft stärken!

Die Zivilgesellschaft und ihr bürgerschaftliches Engagement sind tragende Säulen für den sozialen Zusammenhalt und eine lebendige Demokratie in unseren Gesellschaften. Bürger*innen engagieren sich gemeinsam für ihre Anliegen, vernetzen und organisieren sich in Initiativen und Vereinen und formulieren Forderungen an die Politik. In allen europäischen Ländern wird diese soziale und politische Bedeutung der Zivilgesellschaft anerkannt und durch ein Vereinsrecht geregelt. Dieses gibt der Zivilgesellschaft einen Handlungs- und Organisationsrahmen. Auch Gemeinnützigkeit ist in vielen EU-Ländern rechtlich verankert.

Bürgerschaft ist aber kein nationalstaatliches Konstrukt mehr. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1992 die Unionsbürgerschaft eingeführt: Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union werden dadurch automatisch zugleich Unionsbürger*innen. Ihr bürgerschaftliches Engagement macht zudem lange nicht mehr an Grenzen halt: Sie unterstützen und befördern die Entwicklung des europäischen öffentlichen Raums, indem sie sich beispielsweise in paneuropäischen oder transnationalen Organisationen, in bi- bzw. multilateralen Städtepartnerschaftsvereinen, in den durch die EU geförderten regionalen Verbünden EUREGIOs oder in anderen grenzüberschreitenden Organisationen ehrenamtlich engagieren. EU-Förderprogramme wie „Europa für Bürgerinnen und Bürger“ oder ERASMUS+ unterstützen ausdrücklich dieses Engagement.

Auch die politische Beteiligung der Zivilgesellschaft europäisiert sich zunehmend. Viele große Themenbereiche der Zivilgesellschaft entziehen sich der Lösungsfähigkeit einzelner Nationalstaaten, so etwa der Klimawandel, Migration und Flucht, Mobilität. Mit der Europäischen Bürgerinitiative (Art. 11/4 EUV) haben sich zusätzliche weitreichende Möglichkeiten der Partizipation erschlossen. Gleichzeitig geraten die Handlungsräume für zivilgesellschaftliches Engagement immer mehr unter Druck, wird Demokratie und Rechtstaatlichkeit mit dem Erstarken der politischen Rechten in Europa sowie nicht zuletzt auch durch die Folgen der Corona-Pandemie von innen und außen bedroht. In grenzüberschreitenden Kooperationen liegen die effektivsten Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Herausforderungen. Die Landschaft europäischer Netzwerke der Zivilgesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten entsprechend ausdifferenziert und vergrößert mit zahlreichen neuen Akteur*innen, die ihren Austausch und ihre Aktivitäten digital organisieren.

Noch immer aber setzen nationale Regelungen Grenzen für die Selbstorganisation europäischer Bürger*innen: Die europäische Zivilgesellschaft ist rechtlich entlang nationaler Grenzen fragmentiert. Diese Zersplitterung verhindert eine starke europäische Stimme der Unionsbürger*innen. Das Fehlen eines einheitlichen europäischen Rechtsrahmens verhindert das Gemeinschaftsgefühl, sich im Alltag nicht nur als nationale Staatsbürger*innen sondern auch als Unionsbürger*innen, als Europäer*innen wahrzunehmen und durch einen rechtlichen Rahmen gefördert agieren zu können. Eine rechtliche Grundlage für europäische Vereine ist deshalb vonnöten, um das europäische Bewusstsein zu untermauern sowie die Sichtbarkeit der europäischen Bürger*innengesellschaft zu stärken. Ohne einen europäischen Verein ist ein „Europa der Bürger*innen“ weiterhin keine europäische Realität.

3. Einschränkung europäischer Freiheiten und Diskriminierung gemeinnütziger Tätigkeiten beenden!

Solange zivilgesellschaftliche Organisationen lediglich nach nationalem Recht tätig sein können, bleibt zivilgesellschaftliches Engagement entlang der Landesgrenzen zersplittert. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist die EU im Gegensatz dazu bereits viel weiter vorangeschritten: Bereits seit dem Jahr 1989 gibt es für Lobbyverbände die Rechtsform der Europäischen wirtschaftlichen Interessengemeinschaft (EWIV), seit 2004 die europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea – SE), seit 2006 die europäische Genossenschaft (Societas Cooperativa Europaea – SCE), und seit 2007 den Europäischen Verbund für Territoriale Zusammenarbeit (EVTZ). Den einfachen „europäischen Verein“ für zivilgesellschaftliches Handeln über Landesgrenzen hinweg gibt es hingegen noch nicht. Dieses Bild entspricht einer Auslegung der EU als ein europäischer Binnenmarkt, der auf eklatante Weise dem Stand der Europäischen Integration und seiner rechtlichen Auslegung hinterherhinkt.

Zum einen ist die Vereinigungsfreiheit in Artikel 12 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta explizit „auf allen Ebenen“ – also auch auf europäischer Ebene – verbürgt. Dieses Recht läuft aber weitgehend leer, wenn es nicht, wie es der Rechtsanwalt Tim Wöffen formuliert, „auf einfache und unbürokratische Weise möglich ist, einen europäischen Verein zu gründen.“ Zwar garantiere die Vereinigungsfreiheit nicht per se das Recht auf eine spezifische Rechtsform. Der jetzige Zustand sei jedoch unhaltbar in der Weise, dass für bürgerliches Engagement überhaupt keine gesamteuropäische Rechtsform zur Verfügung stehe.[1]

Eng verbunden mit der Notwendigkeit, sich europäisch in einem Verein zusammen zu schließen, ist für die europäische Zivilgesellschaft die Frage der Anerkennung der Gemeinnützigkeit ihres grenzüberschreitenden bürgerschaftlichen Engagements, die bislang fehlt. Wie das Vereinsrecht, so verharrt auch das Gemeinnützigkeitsrecht in nationalstaatlichen Traditionsmustern. Dieses Verharren behindert das grenzüberschreitende Engagement des gemeinnützigen Sektors in einem europäischen Binnenmarkt. Auch wenn die meisten Gemeinnützigkeits- und Spendenrechte der EU-Staaten transnationale Aktivitäten der Zivilgesellschaft nicht ausschließen, werden ausländische Organisationen oft von Steuervergünstigungen ausgenommen. Für Aktivitäten im EU-Ausland müssten sie aufgrund fehlender Abkommen eine zusätzliche Gemeinnützigkeitsanerkennung durchlaufen. Andersherum sind Spenden an ausländische Organisationen in der Praxis häufig deshalb nicht abzugsfähig, weil die Finanzämter den Gemeinnützigkeitsstatus ausländischer Empfänger*innen nicht prüfen können oder wollen.

Zwar gehört das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht nicht in den Kompetenzbereich der Europäischen Union, aber die Nationalstaaten sind bei ihrer Gesetzgebung verpflichtet, sich an den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts zu orientieren. Dieser Verpflichtung sind sie bisher nur zögerlich und unzureichend nachgekommen. Es geschah auch nicht freiwillig, sondern erst nach Aufforderungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Folge von mehreren Rechtsstreitigkeiten.[2]

Insgesamt musste mit der Rechtsprechung des EuGH unterstrichen werden, dass sich auch gemeinnützige Organisationen, die dort Engagierten und ihre Förderung auf den Schutz ihrer Grundfreiheiten berufen können: im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten auf Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und ideell auf Freizügigkeit. Die Gerichtsentscheidungen bewirkten bisher aber nur punktuelle Angleichungen des Gemeinnützigkeitsrechts in den Mitgliedstaaten – von Fall zu Fall. Sie zeigen nur die Spitze des Eisbergs und stehen exemplarisch für einen generellen und dringenden Regelungsbedarf.[3]

Dass der Europäische Gerichtshof damit unterschwellig das Verständnis zivilgesellschaftlichen Handelns in Europa schärfen und Rahmenbedingungen des europäischen Engagements gegenüber dem Gesetzgeber durchsetzen muss, ist ein unwürdiger Prozess. Es steht im deutlichen Gegensatz zur Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Es widerspricht der Grundrechtecharta der EU und der darin enthaltenen Vereinigungsfreiheit. Und es erschwert die Umsetzung und weitere Auslegung von Art. 11 EUV, der Grundzüge der partizipativen Demokratie in Europa und die Rolle der Zivilgesellschaft festlegt. Proaktiv eine gemeinsame Körperschaftsform für das europäische bürgerschaftliche Engagement zu entwickeln und einen Weg zur Harmonisierung der Gemeinnützigkeit in Europa einzuschlagen, sollte dem Interesse politischer Steuerung doch eher entsprechen als das absehbare Hinterherlaufen hinter höchstrichterlichen Vorgaben aus dem EuGH.

Es ist deshalb zu hoffen, dass mit der neuen Initiative des Europäischen Parlaments, das die Europäische Kommission mit seinem Februar 2022 verabschiedeten "Bericht für ein Statut für länderübergreifende Europäische Vereine und Organisationen ohne Erwerbszweck" aufgefordert hat, eine neue Gesetzesvorlage zu erarbeiten, eine neue Dynamik entsteht, die schlussendlich zu einer gesamteuropäischen Rechtsform führt.

 

[1] Tim Wöffen: Überlegungen zur Einführung der Rechtsform des „europäischen Vereins“, in: BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation in Europa 2/2017

[3] Dass ein signifikanter Bedarf an transnationalen Regelungen besteht, zeigt u.a. das Netzwerk Transnational Giving Europe: https://www.transnationalgiving.eu/