Böll.Thema Verantwortung: Szene auf einer Demonstration

In die Pflicht genommen

Verantwortung ist ein zentraler Begriff unserer Epoche, die von Krisen und einem raschen Wandel geprägt ist. Was genau aber bedeutet er? Eine philosophische Annäherung.

Der Begriff der Verantwortung findet derzeit vor allem dann Anwendung, wenn von Regeln und Institutionen die Rede ist, die Verantwortlichkeiten zwischen Staat und Gesellschaft sowie unter den Bürgern festlegen und organisieren. Diese Regeln und Institutionen bedürfen einer Anpassung an neue Gegebenheiten, und sie werden unter dem Topos Verantwortung gegenwärtig auch entsprechend gesellschaftlich und politisch neu justiert.

Mit dem Begriff der Verantwortung wird aktuell also auf tiefgreifende Veränderungen im Selbstverständnis und der objektiven Lage moderner Gesellschaften reagiert. Man denke etwa an folgende Beispiele als Belege für diese Vermutung: weltweite Umweltprobleme; Deregulierung und Privatisierung sozialer Funktionsbereiche, inklusive Sozialstaatsreformen zu mehr „Eigenverantwortung“; krisenhafte Entwicklungen der weltweiten Finanzmärkte; die Pandemie Sars-Cov-19; schließlich weltweite Migration aufgrund von Hunger und Kriegen.

In all diesen Beispielen und vielen anderen, die man noch nennen könnte, zeigt sich eine gemeinsame Schwierigkeit: Hier muss – zum Teil aus funktionalen, zum Teil aus moralischen Gründen – auf Problemlagen reagiert werden, bei denen zum einen die kausalen Verursacher nicht immer eindeutig oder nur unvollständig ausgemacht werden können und bei denen zum anderen die für die Beseitigung des Problems Zuständigen nicht klar bestimmbar sind. Entsprechend notwendig wird eine gesellschaftliche Bearbeitung dieses Problems im Sinne einer sozialen Organisation moralischer Verantwortung. Auf diesen Regelungsbedarf reagiert die Gesellschaft mit der gegenwärtigen Konjunktur des Terminus Verantwortung.

Eine Verantwortungszuschreibung bedeutet zunächst, dass die betreffende Person für moralisch zuständig erachtet wird. Um zu zeigen, wie diese notwendige soziale Organisation mittels Verantwortungszuschreibung moralisch plausibel gelingen kann, werden im Folgenden vier Arten der Verantwortung unterschieden. Ziel ist es, durch die gerechtfertigte Kombination dieser vier Verantwortungsarten ein integrierendes Verantwortlichkeitssystem zu begründen, in dem moralische Verantwortung sowohl effizient als auch gerecht verteilt werden kann.

In der paradigmatischen Grundbedeutung bezeichnet Verantwortung die Möglichkeit, einem Menschen die Folgen seines Handelns vorzuhalten, ihn also für diese Folgen „verantwortlich zu machen“, und die daraus für diesen Menschen erwachsende Nötigung, diese Vorhaltungen zu akzeptieren oder sich gegen sie zu verteidigen. Der Begriff der Verantwortung bezeichnet damit eine vierstellige Relation: Jemand ist für etwas oder für jemanden gegenüber einer oder mehreren Personen oder Institutionen in Bezug auf ein normatives Kriterium im Rahmen eines Verantwortungs- und Handlungsbereiches verantwortlich.

Nur nebenbei sei eine wesentliche, aber philosophisch nicht banale Voraussetzung von Verantwortlichmachen erwähnt: Die betreffende Person muss überhaupt zurechnungs- bzw. verantwortungsfähig sein. Die Zuschreibung von Verantwortung als Verpflichtung ist an eine unterstellte Verantwortlichkeit als Kontrollfähigkeit oder Zurechenbarkeit gekoppelt. Ohne Verantwortlichkeit kann eine Handlung oder ein Ergebnis nicht einer Person zugerechnet werden. Zurechnungsfähigkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils üblicherweise unterstellt, sofern die handelnde Person aus eigenem Antrieb freiwillig und bewusst (also vor allem ihre Situation und die Handlungsfolgen überschauend) handeln kann.

Man unterscheidet zwischen prospektiver und retrospektiver Verantwortung, die eng zusammenhängen. Eine Person kann (aufgrund zuschreibbarer Taten) nur dann retrospektiv, also zurückschauend, zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie für die relevanten Handlungen generell auch prospektiv (also vorausschauend, bevor sie ausgeführt werden) verantwortlich ist. Man trägt also zunächst schon prospektiv Verantwortung, handelt dann verantwortlich (oder unverantwortlich) und wird daraufhin retrospektiv zur Verantwortung gezogen.

Sich verantworten heißt so viel wie Rede und Antwort stehen

Der deutsche Begriff Verantwortung verweist – ebenso wie die analogen Begriffe in anderen Sprachen – unverkennbar auf die Praxis des „Für-etwas-Rede-und-Antwort-Stehens“. „Sich verantworten“ heißt so viel wie „sich rechtfertigen“.

Neben der gerade vorgestellten grundlegenden, moralisch-kausalen Verantwortung kann man drei wesentlich unterschiedliche Arten (und nicht nur Kontexte) der Verantwortung unterscheiden, nämlich eine strukturelle Verantwortung, Rollenverantwortung und Fähigkeitsverantwortung.

Da Handelnde in einem System oder strukturellen Rahmen agieren, sind sie oft für die Ergebnisse ihres Tuns und Unterlassens insofern nicht kausal voll und allein verantwortlich, als es primär andere, aus ihrer Perspektive äußere, strukturelle, systemische Einflüsse sind, die das Ergebnis mit verursachen. Das entbindet sie aber nicht der Verantwortung; vielmehr haben sie auch eine strukturelle Mitverantwortung für die Hintergrundstruktur selbst. Sofern ein struktureller Rahmen unseres Handelns, zum Beispiel das Weltwirtschaftssystem, moralisch verwerflich ist, sind alle am System Beteiligten moralisch verpflichtet, diesen zu verbessern.

Rollenverantwortung umfasst Verpflichtungen aus Aufgaben und Ämtern, die man als Inhaber institutioneller Rollen für eine gewisse Zeit übernommen hat. Eine solche Rolle muss nicht notwendig freiwillig übernommen worden sein, um Rollenverantwortung zu generieren. In einige Rollen kommt man nämlich gegebenenfalls ungewollt, in andere wächst man langsam hinein. Bei der Verantwortung, die mit einer Rolle einhergeht, wird dem Rolleninhaber pauschal Verantwortlichkeit für einen kontrollierbaren Handlungsbereich ohne Rücksicht auf ein konkret nachweisbares schuldhaftes Verhalten zugeschrieben.

Die bekannte Ministerverantwortung ist dafür ein aussagekräftiges Beispiel; „Eltern haften für ihre Kinder“ ein weiteres. Es besteht zunächst eine moralisch-gesellschaftliche Forderung, die Rolle, so wie sie institutionell konzipiert ist, adäquat auszufüllen, insbesondere Regelverletzungen zu vermeiden und alle damit zusammenhängenden Pflichten korrekt zu erfüllen, auch wenn nicht immer offensichtlich ist, welche Pflichten mit der Rolle einhergehen. Dabei müssen mögliche Fehlentscheidungen, so sie üblicherweise unvermeidbar in der Rollenausübung sind, zu einem gewissen Grad toleriert werden.

Es bestehen positive Pflichten, Übel abzuwenden

Fähigkeitsverantwortung (wie ich es nenne) ergibt sich, wenn man nicht nur für die Folgen des tatsächlichen eigenen Tuns verantwortlich ist, sondern auch für das mögliche eigene Tun oder Unterlassen verantwortlich sein soll. Es bestehen positive Pflichten, mögliche Übel zu verhindern oder zu beseitigen. Wer diesen Pflichten zur Hilfe in Not nicht nachkommt, handelt unverantwortlich. Beispielsweise darf eine Mutter ihr Kind im Straßenverkehr nicht nur nicht selbst gefährden, sondern muss auch in ihren Rollen als Mutter und Verkehrsteilnehmerin die Schädigung ihres Kindes und anderer tunlichst vermeiden; darüber hinaus muss sie zudem, wenn sie die Gefährdung eines anderen Kindes wahrnimmt, das zum Beispiel leichtsinnig an einer viel befahrenen Straße spielt, dieses vor dem heranbrausenden Wagen retten, wenn das keine ungebührlichen Nachteile für sie bringen würde.

Böll.Thema: Blick in eine halb volle Einkaufstasche mit Lebensmitteln

Die Gesellschaft kann und sollte rechtlich aufgrund von moralischen Überlegungen in Kombination mit Effizienzbetrachtungen festlegen, wer für welche möglichen Schäden verantwortlich sein soll, wie etwa bei Haftung ohne Schuld im Recht. Wir alle haben ein großes Interesse daran, dass Mechanismen in Kraft sind, die Schäden verhindern (präventive Wirkung von Haftungsregelungen) und deren Folgen im Fall ihres Eintretens möglichst beseitigen oder zumindest kompensieren (retrospektive Wirkung von Haftungsregelungen). Der Besitz bestimmter relevanter Fähigkeiten (vor allem das mögliche Übel zu verhindern) bringt also – sofern keine Gegengründe gelten – Fähigkeitsverantwortlichkeiten mit sich.

Diese Konzeption birgt allerdings die Gefahr, dass sie eine kontraproduktive Überdehnung und Entleerung des Verantwortungsbegriffs zur Konsequenz haben kann. Hier schafft ein integratives Verantwortungsmodell Abhilfe: Die mir vorschwebende Lösung für dieses Problem ist die bewusste gesellschaftliche Schaffung eines kooperativen Akteurs (wie im Haftungsrecht): Da man insbesondere der Strukturverantwortung und Fähigkeitsverantwortung nur durch (koordinierte) Bemühungen vieler einzelner nachkommen kann, stellt dies eine Gemeinschaftsaufgabe dar. Ein Kollektiv von Individuen wird dementsprechend für die Beseitigung von Notlagen prospektiv verantwortlich gemacht, allerdings abhängig von den Individuen, besonders ihren Fähigkeiten und ihrer Mit- bzw. Teilverantwortung. Im ersten Schritt müssen also die Verantwortlichkeiten einem kollektiven Akteur als solchem zugerechnet werden, der aus Individuen besteht, die zusammen effektiv in der Lage sind, allen Verantwortlichkeiten nachzukommen und die Kosten dafür zusammen zu tragen. Der nun gemeinsam geteilten Verantwortung kommen die Gruppenmitglieder nach, indem sie in einem zweiten Schritt eine vernünftige Allokation der Pflichten durch gesellschaftliche und moralische Arbeitsteilung vornehmen, in deren Rahmen die Individuen entweder gleichmäßig belastet werden oder auch nur einige Personen Aufgaben zugeteilt bekommen und dafür von den anderen kompensiert werden. Bei der Spezifizierung der Verantwortlichkeiten von Individuen kommt es so bis zu einem gewissen Grad zu einer Re­individualisierung kollektiver Verantwortung bzw. Haftung, indem die Gruppe den internen Verteilungsmaßstab der Lasten in der Gruppe bestimmt.

Es ist die Rolle des Staates und suprastaatlicher Organisationen, angesichts der am Anfang genannten globalen Herausforderungen genau diese integrative Doppelaufgabe zu leisten und so jeden von uns in die Pflicht zu nehmen, unseren Beitrag verantwortlich zu erbringen. Wahrlich keine leichte Aufgabe, aber eine notwendige.


Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin und Co-Direktor der Kolleg-Forschergruppe Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und Theorien der Rationalität.

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