Der Mensch als soziales Wesen bildet Gemeinschaften und schafft Regeln für das Zusammenleben, Gemeinsinn und Wohlstand stärken das gegenseitige Vertrauen.
Auch wenn manche Menschen gerne mehr Zeit allein verbringen als andere, so ist es doch fast allen gemein, dass sie in Gruppen zusammenleben und sich organisieren. Darin wirken Bindungskräfte, durch festgelegte Regeln oder Gesetze, die unser Zusammenleben prägen und aufgrund derer die daran Teilhabenden Aufgaben übernehmen. Spätestens seit der Entstehung von Nationalstaaten, die durch ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt gekennzeichnet sind, werden die sozialen Aufgaben auch – und zunehmend – staatlich organisiert und politisch gesteuert.
Sozialer Zusammenhalt kann also auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen bestehen oder hergestellt werden, die nicht durch persönliche Bande, sondern durch übergeordnete Ziele oder Interessen verknüpft sind oder werden. Eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie geteilte bürgerliche Werte sind die Bindemittel. Auch öffentliche Rituale und das gemeinsame Erinnern an historische oder kulturelle Errungenschaften spielen insbesondere in Staatsbildungsprozessen eine wichtige und zugleich nicht unproblematische Rolle: Wo Gemeinsames gefeiert wird, wird immer auch jemand oder etwas ausgeschlossen.
Das Verbundenheitsgefühl wirkt daher als eine Art Kitt zwischen den Gruppen und ist eine wichtige Bedingung für den Zusammenhalt – und damit für das Funktionieren und den Lebenswert einer Gesellschaft. Schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte, etwa extreme soziale Ungleichheit oder strukturelle Benachteiligungen, können diesen Zusammenhalt gefährden. Ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat dagegen mit seiner Gewaltenteilung, den anerkannten Institutionen zur Konfliktlösung und für den sozialen Ausgleich stärken die Verbundenheit. Häufig gibt es in Gesellschaften mit hohem Zusammenhalt eine Übereinkunft darüber, welchen Zweck staatliche Institutionen erfüllen sollen und wo die Grenze zwischen der Freiheit des Einzelnen und staatlicher Regelung gezogen wird. Beispielhaft genannt sei hier die Steuerpflicht.
Eine weitere messbare Größe für den sozialen Zusammenhalt ist die Bereitschaft der Menschen, zur Gesellschaft, deren Teil sie sind, etwas beizutragen. Das kann ein Bekenntnis zur Einhaltung der Rechtsordnung sein, die Akzeptanz von Steuern und Abgaben oder ehrenamtliche Arbeit.
Man muss, wenn man von einem erstrebenswerten sozialen Zusammenhalt spricht, verstehen, auf welches „Wir“ man sich bezieht. So kann der Verbund innerhalb eines Dorfes oder unter den Mitgliedern einer religiösen Gemeinschaft groß sein, während sich dieselben Menschen gleichzeitig von gesellschaftlichen Prozessen abgrenzen.
Will man die Bindungskräfte messen, müssen unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden, zum Beispiel: Gibt es in der Gesellschaft große soziale, ökonomische oder regionale Gefälle? Können auch Menschen am kulturellen und politischen Leben teilhaben, die über wenig Vermögen verfügen oder mit Krankheiten leben? Ein wiederkehrender Befund in Untersuchungen dazu ist, dass Gesellschaften mit größerem materiellen Wohlstand und weniger Ungleichheit im Allgemeinen von stärkerem zwischenmenschlichen Vertrauen und damit größerem sozialen Zusammenhalt gekennzeichnet sind.
Solidarität – die Bereitschaft, Mitmenschen zu unterstützen, mit denen man sich verbunden fühlt – kann auf unterschiedlichen Ebenen entstehen: von Mensch zu Mensch, in einer Gruppe oder in institutionalisierter Form. Ein Beispiel für Letzteres ist das öffentliche Gesundheitssystem.
Sich miteinander zu verbünden fördert aber nicht immer den Zusammenhalt. Es kann genauso gut ausschließen, denn jedes „Wir“ hat ein Außen. Wenn man von Beistand aus Gründen ausgeschlossen ist, die man nicht oder nur schwer ändern kann, etwa aufgrund des Geschlechts, der Religion oder des Bildungsstatus – dann kann exklusive Solidarität problematisch für jene sein, die nicht dazugehören.
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie ambivalent Solidarität wirken kann: Als es um den Zugang zu Impfstoffen ging, führte das zwischen den Nationen zu Egoismen, und man stritt um Kontingente. Dieselbe Krise motivierte die Staaten jedoch auch, den Not leidenden europäischen Nachbarn medizinisches Gerät zur Verfügung zu stellen oder ausländische Intensivpatienten aus anderen Ländern zur Behandlung einzufliegen.
Inklusive Formen der Solidarität bauen auf einen politischen Diskurs, der die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen betont und Toleranz fördert, der auf Zugang zu öffentlichen Institutionen setzt, die die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigen – und auf effektive Konfliktlösung. Aktuell zeigt sich an der Digitalisierung, Automatisierung und ökologischen Transformation, wie soziale Bindungskräfte immer wieder neu auf die Probe gestellt werden. Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft, bei den Arbeitsbedingungen und der Verteilung von Ressourcen, in Kultur und Lebenswandel bergen immer wieder Risiken, aber auch Chancen für den Zusammenhalt: Ist unsere Gesellschaft solidarisch mit jenen, deren Arbeit von Maschinen übernommen wird? Bürdet sie künftigen Generationen Umweltprobleme auf? Gestaltet sie Rahmenbedingungen für Neuankömmlinge in der Gesellschaft? Wenn es gelingt, Lösungen zu finden, die nicht jene die Kosten solcher Transformationen tragen lassen, die bereits am unteren Ende der Einkommenspyramide stehen, kann der soziale Zusammenhalt wachsen.