Führen mit Authentizität

Feministische Führung braucht sinnstiftendes Engagement  - und dass wir uns bewusst dafür einsetzen, tiefe menschliche Verbindungen durch Vertrauen, Inspiration, Empathie und Solidarität herzustellen. In einer von Ungewissheit geprägten Zeit dürfen diese Verbindungen nicht vernachlässigt werden. Da neue komplexe Herausforderungen zentral gesteuerte Führungs- und Entscheidungsfindungsansätze zunehmend überflüssig machen, müssen wir uns dafür stark machen, dass sich unsere individuellen und institutionellen Handlungsabsichten in einem Ökosystems von Solidarität und kollektivem Handeln gegenseitig befähigen.

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Figur Superwoman

Warum ist authentische Führung wichtig?

Ich hatte das Privileg, für fast drei Jahrzehnte über Zivilgesellschaft zu forschen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Mehr als die Hälfte dieser Zeit habe ich mit großen Netzwerken und Koalitionen zusammengearbeitet, und ein zentrales Thema meiner Arbeit befasste sich damit, wie wir uns von traditionellen Entscheidungsfindungsprozessen lösen können. Dadurch wurden wir angehalten, uns aktiv auf die Suche nach breiteren und kreativen Ansätzen gemeinschaftlicher Führungsformen zu machen.

Gemeinschaftliche Führung braucht sinnstiftendes Engagement - und dass wir uns bewusst dafür einsetzen, tiefe menschliche Verbindungen durch Vertrauen, Inspiration, Empathie und Solidarität herzustellen. Auf meiner Suche nach diesen Verbindungen fällt mir auf, dass die Art von Leidenschaft und Entschlossenheit, die uns im Aktivismus so wichtig ist, in organisatorischen Bereichen oft übersehen wird. Der Ehrgeiz und die Tatkraft, wofür wir einzelne Pionieren des Wandels so bewundern, wird oft reduziert, wenn wir uns in den Führungsriegen und Netzwerken organisieren.

In den vergangenen Jahren gab es mehrere Momente, in denen ich mit der beunruhigenden Erkenntnis "aufgewacht" bin, dass ich die Verbindung zu mir selbst verloren hatte, weil ich danach strebte, in einen größeren organisatorischen Rahmen oder eine kollektive Identität zu passen. Um mein Selbstgefühl wiederzufinden (und zu bewahren), musste ich mich bewusst und wiederholt bemühen, meine Grundwerte und Ansprüche mit den Zielen der Gruppe(n), mit denen ich zusammenarbeite, abzugleichen und in Einklang zu bringen.

In einer Zeit extremer Ungewissheit muss das Verhältnis zwischen individuellen Bestrebungen und den Zielen einer Organisation mitgedacht werden. Da neue komplexe Herausforderungen zentral gesteuerte Führungs- und Entscheidungsfindungsansätze zunehmend überflüssig machen, müssen wir uns dafür stark machen, dass sich unsere individuellen und institutionellen Handlungsabsichten in einem Ökosystems von Solidarität und kollektivem Handeln gegenseitig befähigen.

Die Bewegungen von heute haben nicht einen, sondern viele Führer und das beweist, dass es möglich geworden ist, über vorgeschriebene Rollen traditioneller Strukturen hinweg zu handeln. Feministische Führung verfolgt bestimmte Zielsetzungen, Authentizität und kollektives Engagement und ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft und des Arbeitsplatzes der Zukunft.

In den folgenden Abschnitten beschreibe ich, wie wir Authentizität erfahren können und wie sie hilft, uns mit einem breiten Netzwerk von Akteuren und Alliierten zu verbünden. Durch sie können wir Führung als universellen Ausdruck von Handlungsfähigkeit verstehen und sie verleiht uns Hoffnung, Relevanz und Widerstandskraft in einer sich stetig verändernden Welt.

Was ist authentische Führung?

Ein zentraler Bestandteil authentischer Führung liegt meiner Ansicht nach in der Anerkennung unserer Identität, unserer Handlungsabsichten und unseres Bewusstseins.

Wenn wir uns mit diesen Wirkungskräften auseinandersetzen, können wir bewusst enstcheiden, wie viel Zeit, Aufmerksamkeit und Energie wir in unser Handeln und unsere Führung investieren wollen.

Dies ist ein lebenslanger Lern- und Entwicklungsprozess, aber wenn wir unsere Kernstärken schrittweise ausbauen, können wir graduell größere und komplexere Schritte in Richtung unseres Ziels machen, authentisch zu führen.

Umgang mit Identität

Fragen der Identität sind für unser Streben nach authentischer Führung aus einer Reihe von Gründen wichtig. Dazu gehört, dass wir unser persönliches und öffentliches Leben in Einklang bringen, und dadurch das Gefühl haben, "ganz" und in unseren Schlüsselrollen angekommen zu sein; außerdem reduziert es das Risiko, entlang unserer vielfältigen Lebensbereiche fragmentiert zu werden.

Im Folgenden sind einige Hinweise aufgeführt, die ich bei der Erörterung dieses Aspekts der authentischen Führung als hilfreich empfunden habe. Diese Fragen wird jede*n von uns, je nach unseren einzigartigen Erfahrungen und Kontexten, unterschiedlich beantworten.

Tabelle: Fragen an uns selbst und unsere kollektive Zugehörigkeit

Keine dieser Fragen sind einfach, aber sie können uns dabei helfen, unsere Werte und Erwartungen an uns selbst auszusprechen und mit den Werten und Prioritäten der Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, in Zusammenhang zu setzen. Für mich waren sie auf jeden Fall sehr hilfreich, um zu verstehen, welche Bereiche meines Lebens im Einklang stehen und welche nicht. Indem ich mich regelmäßig damit auseinandergesetzt habe, habe ich gelernt, bewusster mit Spannungen umzugehen, die ich sonst nicht reflektiert hätte, sowohl am Arbeitsplatz als auch darüber hinaus. Dieses Bewusstsein hat mich wiederum ermutigt, die Hürden anzugehen, die einer vollständigen und sinnvollen Erfahrung meiner Identität im Wege stehen.

Bewusstes Handeln nutzen

Klare Absichten für bewusstes Handeln zu identifizieren und diese in die richtigen Bahnen zu lenken ist zweifellos einer der Dinge, die einen in der authentischen Führung am meisten bereichert. Regelmäßiges Üben hat mir ein tiefes Gefühl von Wertschätzung, Erfüllung und Erfolg gegeben. Diese Erfahrungen sind besonders jetzt wichtig, da wir in Kontexten leben und arbeiten, die von Unsicherheit und Veränderung geprägt sind.

Um unser Verhältnis mit bewusstem Handeln zu überprüfen, können folgende Fragen hilfreich sein:

Bereiche des Lebens

Das tolle an bewusstem Handeln liegt darin, dass sie uns unser Führungspotenzial und das von anderen vor Augen führt. Es gibt uns nicht nur das Gefühl, dass wir die Wahl und Handlungsmacht über alle Bereiche unseres Lebens haben, sondern auch, dass wir dadurch erst erkennen, welches universelle Führungspotenzial in uns und in anderen steckt.

Vor allem aber lernen wir, uns über die verzerrte “Verherrlichung” von Personen in Führungspositionen hinwegzusetzen. Wir wissen ja, dass wir dadurch oft Personen beurteilen, deren Identitäten und Fähigkeiten in traditionellen Führungsformen unterrepresentiert sind.

Eine Bewusstseinserweiterung

Der dritte wichtige Aspekt in diesem Prozess ist es, lernbereit, anpassungswillig und offen für Transformation zu sein. Dies mag in Theorie aufregend klingen, aber die Praxis erfordert eine schwierige und schmerzhafte Erfahrung, unsere eigenen Grenzen in Hinblick auf unsere Verletzbarkeit und Bescheidenheit zu hinterfragen und zu erweitern. Von allen drei Aufgaben ist mir diese am schwersten gefallen.

Wir sind nicht daran gewöhnt, in unserem Alltag dem Impuls offener Neugier oder Mitgefühl zu folgen. Unser Aktivismus ist dazu da, unsere gerechtfertigte Wut auszudrücken und aus vollster Überzeugung für die Alternativen einzustehen, für die wir kämpfen. Meiner Erfahrung nach erfordert es einen enorm hohen emotionalen Aufwand, auf Misstrauens- oder Konfliktsituationen mit Vorsicht und Respekt mir und anderen gegenüber zu reagieren.

In solchen Zeiten habe ich es als nützlich empfunden, mich darauf zu besinnen, dass wir als Verfechter bürgerlicher Freiheiten die Verantwortlichen in Regierung und Wirtschaft immer wieder dazu auffordern, es besser zu machen, wenn sie sich mit Andersdenkenden in ihrem Umfeld auseinandersetzen. Im Verlauf der Pandemie hatten wir viele Gründe, feministische Führungspersönlichkeiten zu feiern, die bewiesen haben, dass man den Dialog zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft fördern und dadurch differenzierte und kreative Antworten auf die beispiellosen und komplexen Probleme unserer Zeit finden kann. Ein hohes Maß an lösungsorientiertem Bewusstsein ist maßgebend für diese Art von Führung.

Folgende Fragen können uns dabei helfen, unsere kreativen Empfindlichkeiten zu überprüfen:

Tabelle: Entscheidungen und Handlungen

Es ist ein Zeichen von Authentizität, wenn wir hinterfragen können, wie wir in bestimmten Situationen entschieden haben, in denen wir im Sinne unserer Ideale gehandelt haben, aber dadurch mit unangenehmen Konsequenzen konfrontiert wurden.

Wie stark unsere Ideale und Integrität sind - als Individuen und als Gruppen - zeigt sich am ehesten, wenn wir mit Problemen oder Handlungen konfrontiert sind, die zwar mit unseren Absichten im Einklang stehen, aber die Folgen haben, die wir am liebsten vermeiden würden.

Wenn wir mit so einem Dilemma konfrontiert sind, hilft es, sich darauf zu besinnen, dass heute mehr Menschen für Gerechtigkeit einstehen als je zuvor. Im vernetzten Zeitalter sind wir viel eher dazu befähigt, Mut und Inspiration voneinander zu schöpfen anstatt unserem Instinkt zu folgen, uns zurückzuziehen. Wir müssen den Kampf für uns und unsere Themen in unseren Alltag integrieren - wie einen Muskel, den wir regelmäßig trainieren. Die kleinen Maßnahmen, die wir ergreifen, um für uns und unsere Werte einzutreten, schaffen Raum für die großen Ziele, die wir gemeinsam anstreben.

Lysa John ist Generalsekretärin von CIVICUS. Dieser Beitrag basiert auf ihrem Beitrag in der 8-teiligen Serie Feminist Leadership, die vom Fair Share of Women Leadership Network veranstaltet wird.  

Eine deutsche Übersetzung von Caroline Bertram.