1,5 Liter

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

Das Konzept, dass wir nur Bioprogramme waren, gedieh in mir schon seit mehr als zehn Jahren. Ich wusste, dass wir unsere eigenen Autoren sein konnten, um diese dünne Membran mit virtuosen und tiefen Handlungsmustern zu bespielen. Und ich wusste, ich konnte einige Zeilen des Codes schreiben, um Dinge in Gang zu setzen die Großes versprachen. Aber egal wie ich mich bemühte, ich fiel immer zurück in eine Schleife, die ich nicht begriff, deren Architekt das Chaos zu sein schien. Wollte ich mich aus etwas erheben, aus dem ich mich dem Bauplan nach nicht erheben durfte? Es war mächtig und zog mich mit aller Kraft an, je mehr ich nach alternativen Handlungswegen suchte. War es das, was die Menschen mit Bestimmung und Schicksal verwechselten? War es ein über Jahrhunderte überdauerndes, tief in mir, in einem uns unbekannten Vererbungsmuster, codiertes psychologisches Handlungsschema, das gegen meine eigenen Anweisungen konkurrierte? War mein Zustand das Ergebnis von Kollisionen mit meinem „echten“ Willen oder dem Willen meiner Vorfahren? Tobte im Zellkern jeder einzelnen meiner Körperzellen eine epigenetische Schlacht zwischen Schwaben, Franken, Khoisan und Massai?

Ich musste an das Foto meines Urgroßvaters deutscher Linie denken. Heinrich. Diesen Namen wollte ich tragen, seit meiner Jugend. Warum, ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht ist es die Suche nach meinen Wurzeln, vielleicht die Sehnsucht eines Schwarzen nach deutscher Anerkennung. Jedenfalls jetzt, da ich Vater werden sollte, überlegte ich, meinen Sohn Heinrich zu nennen. Der Name hatte für mich einen starken Klang. Doch ein Foto änderte alles. Als meine Schwester ein Bild von ihm in den Fotoalben meiner Großmutter fand, machte mein Herz einen Sprung. Ich sah einen kleinen alten weißen Mann. Einen kleinen alten zerknitterten weißen Mann, der sein Leben lang gehorchte.

Der Ort, an dem sich unser bewusstes Sein abspielt, ist physikalisch so dünn wie ein Papiertaschentuch. 1 bis 2 mm. Die Großhirnrinde. Das sind wir also. Ein Papiertaschentuch voll Erinnerungen. Die in der räumlichen Anordnung und Ausdehnung von Biomasse geschriebene Vergangenheit und Grundlage unserer Gegenwart: ein Papiertaschentuch. Der Zauber, der uns das Jetzt begreifen lässt, das Gehirn, passt mitsamt seiner Evolution püriert in eine 1,5 Liter Flasche. 1,5 Liter. Meine kompletten Gefühle, meine Welt passt in eine beschissene Pfandflasche. Unruhe durchsetzte mich bei den Gedanken, die dann aufzogen.

Als ich das Bild sah, sah ich Fehlerfortpflanzung, ich sah meine Vergangenheit, ich sah meine Gegenwart.