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«Geschlagen gebe ich mich nicht»

Unterernährung und Hungersnöte – für Michael Fakhri, den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, ein Ausdruck grandiosen institutionellen Scheiterns.

Christiane Grefe: Es hat seit dem Jahr 2000 drei Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung gegeben, Sie sind seit Mai 2020 im Amt. Wie sehen Sie Ihre Rolle in der Kontinuität mit Ihren Vorgängern?

Michael Fakhri: Gewiss hat jeder seine besondere Note eingebracht. Der erste, Jean Ziegler, war ein großer Intellektueller, der mit flammenden Appellen die Öffentlichkeit wach gerüttelt hat. Sein Nachfolger Olivier de Schutter war dann brillant darin, konkrete politische Ansätze für mehr Ernährungssicherheit zu entwickeln. Hilal Elver war eine hervorragende Diplomatin, ihre kritische Stimme haben Regierungen ernst genommen.

Und Sie: Wo werden Ihre Schwerpunkte liegen?

Ich möchte neue Perspektiven für die Handelspolitik eröffnen. Vor 15, 20 Jahren stand sie im Zentrum der Ernährungsdebatten, heute ist sie von der Tagesordnung fast verschwunden. Dabei sind Handels­regeln für die Ernährungssysteme zentral. Viele Länder hängen vom Import oder Export ab, und ob sie das so lassen oder ändern wollen: sie müssen sich zu den Menschenrechten verhalten. Wenn man der lokalen Produktion den Vorrang geben will, braucht man dafür ebenfalls einen handelspolitischen Rahmen.

Mein zweiter Schwerpunkt sind die Folgen der Pandemie. Wir haben gesehen, wie Covid 19 alle Probleme verschärft hat: Wo Ungleichheit herrschte, wurde die Gesellschaft noch mehr gespalten; wo Gewalt ausgeübt wurde, tobte sie noch schlimmer. Die Ungerechtigkeit zwischen den Ländern hat sich zugespitzt, weil einige Zugang zu Impfstoffen haben, andere nicht.

Als dritte Herausforderung kommt unweigerlich der Klimawandel hinzu. Seine Auswirkungen erleben wir längst in Echtzeit, sie sind auch für die Ernährungssysteme weltweit dramatisch. Hier in ­Oregon, wo ich lebe, gab es in den letzten Jahren Waldbrände und Dürren, bei denen man sich an das Jüngste Gericht erinnert fühlte.

Warum glauben Sie, diese Themen gerade als Sonderberichterstatter voranbringen zu können? Sie haben wenig Mittel, aber mit Interessenskonflikten und nationalen Empfindlichkeiten zu tun.

Als ich mich beworben habe, fand ich das Menschenrecht auf Nahrung interessant und extrem wichtig. Mich hat inspiriert, wie es bereits zu einem machtvollen und sehr fortschrittlichen Recht entwickelt worden ist.

Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Indien, wo ­Anwälte, Anwältinnen und NGOs aus dem abstrakt erscheinenden Menschenrecht konkrete gesetzliche Ansprüche abgeleitet haben, etwa auf Schulspeisungen und Einkommensmöglichkeiten für arme Familien. Was hat Sie sonst noch motiviert?

Ja, Indien hat Großartiges geleistet, und auch in anderen Ländern gibt es Initiativen, das Menschenrecht auf Nahrung in nationales Recht zu übertragen; aktuell zum Beispiel in Schottland. Aber nicht nur die Gesetze als solche sind wichtig. Auf lokaler wie auf globaler Ebene ist hier besonders wirkmächtig, wie beim Thema Ernährungssicherheit ganz unterschiedliche Gruppen kooperieren: Gewerkschaften, Bauern, Fischer, Frauengruppen, Indigene. Schon Mitte der 90er Jahre haben solche breiten sozialen Bewegungen das Recht auf Nahrung dafür genutzt, bei der Welthandelsorganisation WTO gegen die destruktiven Wirkungen des globalen Handelsregimes Widerstand zu leisten. Dieses Menschenrecht birgt auf einzigartige Weise Chancen für Solidarität. Seinen Inhabern fühle ich mich verpflichtet. Also nicht nur den Regierungen, die mich eingesetzt haben, sondern auch den Menschen selbst.

Diesen Menschen sollte der UN-Gipfel für Ernährungssys­teme, der im September 2021 stattgefunden hat, ebenfalls eine Stimme geben. Mit Erfolg?

Das war absolut kein «People´s Summit», weder am Tag selbst noch in dem Vorbereitungsprozess, der fast zwei Jahre lang gedauert hat. Meine Sorge ist ganz im Gegenteil, dass dieser Prozess viel Frustration erzeugt hat. Abertausende sind dem Aufruf des Generalsekretärs seit 2020 gefolgt und haben über bessere Ernährungssysteme nachgedacht. Sie haben Zeit, Energie und Ideen investiert, Berichte geschrieben und Vorschläge eingereicht. Aber das alles war dann mit der konkreten Planung des Gipfels nicht wirklich koordiniert. Die Vorbereitung war unstrukturiert und intransparent.

War es nicht enorm wichtig, dass der UN-Generalsekretär Antonio Guterrez Regierungen und Gesellschaften weltweit mobilisiert hat? Schließlich nimmt die Zahl der Hungernden seit Jahren wieder zu, das UN-Nachhaltigkeitsziel «Kein Hunger» bis 2030 droht krachend zu scheitern.

Ursprünglich waren es Menschen aus den internationalen Organisationen für Ernährung in Rom, insbesondere dem High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition (HLPE) des Welternährungskommittees (CFS), die sagten: Wir müssen das zerrüttete Nahrungsmittelsystem von Grund auf ändern. Der Generalsekretär hat ihren Anstoß aufgegriffen. Und dann begann das Problem mit der Auswahl der Gipfel-Leitung.

Warum?

Ich will keine einzelne Person kritisieren, aber insgesamt gab es sehr enge Verbindungen zur Wirtschaft, sowohl im Sekretariat als auch unter den Vorsitzenden der «Action Tracks», in denen die Themenschwerpunkte diskutiert wurden. Deshalb wurde so gut wie nicht nach den eigentlichen Wurzeln der Ernährungsprobleme gefragt. Es ging sofort um Lösungen – und dabei standen unternehmerische Ansätze im Vordergrund.

Die müssen ja nichts Schlechtes sein. Die Landwirtschaft, das ganze Ernährungssystem braucht auch neue Agrarpraktiken und Geschäftsmodelle.

Um es klar zu sagen: Ich bin kein Gegner der Wirtschaft. Natürlich braucht jedes Ernährungssystem Unternehmen und Händler. Aber es gibt seit jeher eine Vielfalt der Möglichkeiten, unsere Ressourcen zu organisieren: Partnerschaften, Kooperativen, öffentliche Agenturen. Und das Problem ist: Heute ist zu viel Macht und Einfluss in der Hand zu weniger Konzerne konzentriert.

Diese Konzerne streben längst auch mehr Nachhaltigkeit an. Sie wollen es, weil keiner mehr übersehen kann, dass Landwirtschaft und Ernährung im Mittelpunkt der Klimakrise stehen.

Richtig ist: Saatgut- und Chemiekonzerne haben erkannt, dass ihre chemischen Lösungen nicht mehr funktionieren, und sie wollen sich entsprechend ihrer Vorstellung von Nachhaltigkeit anpassen. Im Zuge dessen versuchen sie nun, die Vereinten Nationen in ihre Richtung zu beeinflussen, die vor allem auf weitere Produktionssteigerung mit neuen Technologieprodukten zielt. Ein Beispiel: Gleich zu Beginn des Gipfelprozesses gab es eine Veranstaltung des Weltwirtschaftsforums in Davos. Ich war dabei, die Führung des UN-Gipfels war dabei, aber auch das gesamte Agribusiness von Cargill bis Coca-Cola. Dort wurden die Konturen des Gipfels schon deutlich.

Bei dem aber auch andere gesellschaftliche Gruppen beteiligt wurden.

Ein «Multistakeholder-Prozess»: Das klingt gut. Aber wenn dieser Prozess keine klaren, breit verankerten Verfahrensregeln hat und man die Tür einfach nur für jeden öffnet, dann ist die Frage: Wer springt zuerst rein? Wessen Stimme ist am lautesten, weil er die Mittel hat? Wer kann sich zum Beispiel unter Covid-Bedingungen per Internet beteiligen, auf Englisch, quer durch die Zeitzonen? Das kann am besten, wer Geld, Macht und Einfluss hat. Deshalb ging es beim Food Systems Summit sehr darum, welche Unternehmen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von öffentlichen Investitionen profitieren sollten. Und das sollten vor allem solche aus der Naturwissenschaft und Ökonomie sein, nicht aus der Ökologie, keine Indigenen, Praktikerinnen und Praktiker.

Aber sind nicht einige Innovationen, die Konzerne jetzt in der Landwirtschaft verfolgen, auch ein Fortschritt? Die digitalisierte Präzisionslandwirtschaft zum Beispiel, bei der mit Hilfe von Daten, Sensoren und Drohnen Pestizide und Wasser gespart werden, oder neue biologische Präparate?

Das ist gewiss spannend. Ich finde die ganze Dynamik trotzdem schwierig: Erst haben die Unternehmen Pestizide verkauft, die den Menschen geschadet und die Artenvielfalt verringert haben. Ausgerechnet diese Konzerne sagen jetzt: Vertraut uns, wir haben ­bessere Lösungen gefunden. Ich bin skeptisch, und das besonders, weil diese Konzerne trotz ihrer enormen Macht nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Was also, wenn sie erneut Fehler machen? Man kann gute Ideen haben, sie aber mit fatalen Folgen verkehrt umsetzen oder im unpassenden Kontext anwenden.

Was meinen Sie damit?

Nehmen wir die Digitalisierung: Das ist eine fantastische, mit Idealis­mus vorangetriebene Idee. Aber viele Farmer können doch nur antworten: Ich hab nicht mal Strom, bin arm, habe kein Geld, um zu investieren. Ich bin nicht gegen neue Technologien, Erfindungen liegen in der menschlichen Natur. Aber sie müssen ein Instrument sein, nicht die Lösung. Wir sollten also endlich diejenigen als ­erste fragen, die unsere Lebensmittel anbauen, ernten und zubereiten. Aber ihre Sorgen blieben geradezu weltfremd außen vor.

Welche Sorgen meinen Sie?

Zum Beispiel die Konzernmacht. Aber auch die Pandemie war nur ein Randthema bei diesem Gipfel. Wie kann man die Hungerkrise lösen wollen, ohne die zusätzlichen Nöte durch Covid 19 ins Zen­trum zu stellen? Anfangs standen nicht mal die Menschenrechte auf der Agenda. Aus all diesen Gründen haben viele Organisationen das Projekt von Anfang boykottiert und einen Gegengipfel organisiert.

Wer boykottiert, der kann nicht mitgestalten.

Diese Gruppen arbeiten ja gern auf multilateraler Ebene weiter mit – nur tun sie das lieber mit Organisationen, die Menschenrechte stärker einbeziehen und eine klare Rolle der Regierungen in der UN vorsehen. Denn das sind die legitimen Entscheidungsträger. Solche Organisationen sind die ILO oder das Welternährungskommittee (CFS) in Rom, das sich nach der Nahrungspreiskrise von 2007 komplett modernisiert hat. Ich finde, für dieses CFS sollten sich noch mehr Regierungen engagieren. Denn es sieht einen transparenten Beteiligungsmechanismus für indigene Gruppen und die gesamte Zivilgesellschaft vor. Dort können sie ihre Anliegen solidarisch und mit der Sprache der Menschenrechte vorbringen – gegenüber den Regierungen und den Unternehmen. Im CFS gibt es jetzt auch Bestrebungen, zu klären, wie wir auf die Pandemie und die Hunger­krise eine internationale Antwort finden.

Den UN-Food Summit bewerten aber nicht alle NGOs so kritisch wie Sie. Einige Umwelt- und Landwirtschaftsgruppen haben lieber von innen Einfluss genommen. So sei das Thema Agrarökologie auf die Tagesordnung gesetzt worden, eine Erneuerung der Böden, indigene Agrarsysteme und vieles mehr.

Das mag sein, aber was das genau bedeutet, bleibt unklar. Es gab keine transparente Beziehung zwischen der politischen Ebene des Gipfels, der wissenschaftlichen Beratung und den «Action Tracks», in denen die vielen Ideen gesammelt wurden. Nur wenige Personen haben am Schluss über Lösungscluster und Akteurskoalitionen aus gesellschaftlichen Gruppen, Regierungen und Investoren befunden. Da hat sich eine rückwärtsgewandte Theorie des Wandels gezeigt, die Experten und Expertinnen und nicht Beziehungen in den Mittelpunkt stellt. Es gab auch keine genaue Vorstellung davon, welche Gremien nun mit welchen Verfahren die Vorschläge umsetzen sollen.

Wie bewerten Sie denn das Ergebnis?

In den Gipfelpapieren wird ein Menu aus sehr unterschiedlichen Handlungsangeboten ausgebreitet, aus dem nationale Regierungen und andere Akteure wählen können. Wahrscheinlich wird es zu ­einem ungleichen Wettbewerb um begrenzte private und öffentliche Gelder kommen. Einige Lösungsansätze kommen nun mal leichter an Investoren als andere. In zwei Jahren soll es ein Follow-up ­geben. Angesichts dessen fragen sich Leute wie meine Eltern, die im ­Libanon eine Apfelplantage betreiben: Was hilft uns das alles? Wir kämpfen jetzt mit Dürren und Covid. Was der Gipfel vor allem versäumt hat, ist eine Vision, wie jedes Land sein Ernährungssystem so umbauen kann, dass sich alles in eine gemeinsame Richtung bewegt. Eine Vision, die gewährleistet, dass wir am Ende auf dem ganzen Planeten im Einklang mit den Anforderungen der Menschenrechte und der Ökosysteme leben.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie, was ist als nächstes zu tun?

Aktuell ist für mich die Frage am wichtigsten, wie wir den Fatalismus in der Zivilgesellschaft wieder auffangen können. Viele fragen sich: War das zwei Jahre Arbeit und 24 Millionen Dollar Aufwand wert? Ich ermutige deshalb alle, sich in ihren lokalen Ernährungssystemen zu engagieren, in einer Kooperative, einer Gewerkschaft. Da passiert der Wandel schon jetzt, und da entsteht Druck auf die Regierungen.

Was wir außerdem sehr schnell einleiten müssen, ist die Anpassung an den Klimawandel. Wir müssen herausfinden: Was bauen wir an, wo und wie machen wir das? Wo und wie jagen wir, wo und wie fischen wir? Wie können unsere Ernährungssysteme dazu beitragen, dass es wieder mehr Biodiversität gibt? Es gibt solche Techniken, heute nennen wir sie Agrarökologie.

Agrarökologie ist aber auch ein schillernder Begriff, unter dem jeder etwas anderes versteht. Die einen meinen damit landwirtschaftliche Anbaumethoden, andere Waldgarten-Systeme, wieder andere lokale Agrarkulturen. Was ist Ihre Definition?

Für mich ist Agrarökologie eine soziale Bewegung. Sie geht von ­politischen Fragen aus: Wem gehört das Land, wem das Wasser, wer hat Zugang dazu? Sie sieht stets den Zusammenhang zwischen Anbaupraktiken, Wissenschaft, Ernährung und Kultur, und das jeweils innerhalb einer ökologischen Umgebung. Ihre wichtigsten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen aus der Ökologie, nicht der Agarökonomie oder Chemie. Gemeinsam suchen sie neue technologische Ansätze, beziehen aber das besondere Erfahrungswissen, traditionelles und indigenes Wissen ein. Agrarökologie reichert Biodiversität an, sie schafft neues Leben. Ihre Technologien dienen den Menschen, die in der Fischerei, Landwirtschaft, Küche oder Lebensmittelherstellung arbeiten. Das alles gibt es in Ansätzen, die Frage ist jetzt: Wie weiten wir solche Systeme aus? Diese Aufgabe ist deutlich komplexer als die schlichte Agenda der Industrie.

Wie kommen agrarökologische Ansätze denn voran?

Das ist eine Frage guten Regierens. Ein Schlüssel auf globaler Ebene ist das Handelssystem, denn es begünstigt derzeit noch die großflächige, einheitliche Produktion. Wir brauchen Regierungen, die Handelsregeln verändern wollen.

Das hieße, ein dickes Brett zu bohren. Die WTO stagniert seit Jahren beim Thema Landwirtschaft.

Ich sehe durchaus Chancen, dass sich etwas ändert. Heute erkennen nicht nur Unternehmen die Probleme, sondern auch die Regierungen. Selbst die WTO hat im Zusammenhang mit dem Food Systems Summit einen Dialog über neue Ernährungssysteme organisiert, bei dem ich einen Workshop moderiert habe. Vor zehn Jahren wäre da noch eine rote Linie gewesen. Es gibt aber bislang keinen Plan, wie ein neues Handelssystem aussehen könnte. In meinen ersten Berichten als Sonderberichterstatter habe ich einige Antworten formuliert.

Welche sind das?

Ein Vorschlag betrifft regionale Märkte. Dabei gehe ich von der Frage aus: Wie können wir Handelspraktiken verstärken, die in agrar­ökologischen Systemen bereits existieren? Lernen wir doch von denen. Wir brauchen ein komplexeres Verständnis der Geographien, regionaler Grenzen, der informellen Märkte. Wie organisieren wir sie, wie verbinden wir sie global miteinander? Ein Agrarsystem in Indien wird komplett anders aussehen als eines im Libanon oder in den USA. Man wird künftig auch nicht mehr messen, wie viele Tonnen Getreide oder Mais pro Hektar produziert werden, sondern wieviel ein Hektar insgesamt an Produktvielfalt, Biodiversität, an Leben hervorbringt.

Märkte sollen sich also den ökologischen Bedingungen anpassen, nicht die Ökologie den Märkten?

Genau.

Aber wie wollen Sie solche neuen Handelsregeln durchsetzen? Die WTO ist da, wie gesagt, ziemlich festgefahren.

Ich bezweifle, dass die WTO der entscheidende Ort dafür ist. Dort droht das Thema wieder in der Sackgasse zu landen. Wir sollten die Diskussion deshalb in UN-Institutionen wie dem CFS, der UNCTAD oder der FAO mit neuer Frische und Kreativität in Angriff nehmen.

Solange es keine globalen Regeln gibt, sollen immer mehr Produktstandards Klimaschutz, Biodiversität oder die Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten. Ein großer Teil der Umweltorganisationen und die meisten Unternehmen setzen auf Nachverfolgbarkeit mit Hilfe der Digitalisierung. Ist das sinnvoll oder eine Überforderung der Kunden?

Es ist eine technische Lösung, und das heißt: Nur diejenigen können sich beteiligen, die sich solchen Anforderungen anpassen und entsprechend investieren können. Neue Standards für Märkte gehen meist mit einer Erhöhung der Produktionskosten einher. Außer­dem haben kleine Unternehmen, Landwirtinnen oder Arbeiter keinen Einfluss auf das Technologiedesign. Ich sehe deshalb auch hier eine Gefahr, dass sie aus dem Markt gedrängt werden, sodass noch mehr Macht in der Hand weniger konzentriert wird. Die Biolandwirtschaft ist ein Beispiel dafür. Ihre Produkte schmecken besser und sie sind mit weniger Pestiziden erzeugt. Aber es gibt jetzt auch bei Big ­Organic einen starken Konzentrationsprozess. Aus dem Handels­recht weiß ich außerdem, dass es Wichtigeres gibt, als technologische Herkunftsnachweise, nämlich gute Geschäftsbeziehungen zwischen Leuten, die einander vertrauen. In der Pandemie haben jene Versorgungsketten noch funktioniert, in denen es langfristige, stabile Verbindungen zwischen Verkäufern und Kundinnen gab, ob in langen oder kurzen Versorgungsketten. Man bekommt dann einfach besser mit, wie Kunden reagieren oder die Ökosysteme. Warum gehen wir also nicht lieber von solchen Vertrauensbeziehungen aus, verbessern und erweitern sie?

Das alles sind Riesenbaustellen, auf denen Sie mitten im Sturm des Artenschwunds und der Klimakrise arbeiten. Waldbrände, Trockenheit und Fluten gibt es nicht nur in Oregon, sondern auch in Deutschland, Australien, Indien, Madagaskar oder Sibiren. Macht Sie die Größe der Aufgabe manchmal auch kleinmütig?

Natürlich ist es beklemmend, zu sehen, wie der Hunger weltweit zunimmt, die Arbeitslosigkeit, in der Folge die Gewalt; wie verzweifelt viele Menschen mit ihrem Leben ringen. Der Libanon, aus dem ich stamme, ist leider das beste Beispiel dafür. Dort erlebe ich, wie Gewalt, Pandemie und Klimawandel ein Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben. Aber selbst wenn Naturkatastrophen ausbrechen, sind und bleiben Unterernährung und Hungers­nöte Ausdruck eines institutionellen Scheiterns. Auch das Virus mag die Folge eines Zoonosen-Transfers sein, weil menschliche Siedlungen fremden Ökosystemen zu nahe gerückt sind – aber es bleibt ein politisches Versagen, wie die Mächtigen auf die Pandemie reagiert haben. Und Politik kann man ändern. Deshalb: Geschlagen gebe ich mich nicht. Und es gibt ja auch Anlass für Hoffnung.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Ich beobachte, wie sich Menschen umeinander kümmern. Im Kampf ums Überleben finden sie neue Beziehungen, neue Kreativität, neue Alltagspraktiken, Solidarität. Immer mehr Menschen wird wieder klar: Wir können nicht als Individuen leben. Wir gehören Gemeinschaften an. Und selbst wenn man diese Gemeinschaften nicht ­immer mag, muss man mit ihnen klarkommen und seinen Nachbarn helfen – den Nachbarn gleich nebenan und denen draußen in der Welt.


Michael Fakhri lehrt an der University of Oregon. Im dortigen Environmental and Natural Resource Law Center  forscht er u.a. zu Internationalem Wirtschafts- und Handelsrecht, Ernährungspolitik sowie Agroökologie und ist einer der Leiter des Projektes für Resilienz in der Nahrungsmittelversorgung. 2020 wurde Fakhri zum Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Nahrung gewählt.

Christiane Grefe schreibt als Redakteurin und Reporterin im Hauptstadtbüro der Wochenzeitung die ZEIT über Ökologie, Landwirtschaft, Globalisierung und Gesundheitspolitik. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher, zuletzt «Global Gardening. Bioökonomie – neuer Raubbau oder Wirtschaftsform der Zukunft».

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