Nigeria: "Bleibt innovativ und bildet Allianzen"

Interview

Das Internet kann für marginalisierte Gruppen Räume eröffnen, in denen sie ihre Identität stärken, sich austauschen, Communities bilden und sich organisieren können. In Nigeria wird die Kommunikations- und Informationsfreiheit jedoch zunehmend von der Regierung eingeschränkt. Mit der Sicherheitsexpertin Azeenarh Mohammed sprachen wir über LGBTIQ-Rechte, Risikoprofile und den Twitterblackout.

Illustration: Porträt von Azeenarh Mohammed, davor eine zur Faust geballte Hand mit einem Smartphone

Du bezeichnest dich selbst als Grassroots-Aktivistin, die im Bereich der Cybersicherheit tätig ist. Wie kamst du zu deinem Aktivismus?

Azeenarh Mohammed Ich betrachte mich als Grassroots-Aktivistin, da ich zwar auf globaler und nationaler Ebene arbeite, der Großteil meiner Energie und der Ressourcen mit denen ich arbeite, aber immer noch auf die lokale Organisation und den Aufbau von Bündnissen entfällt. Es ist kein Geheimnis, das Top-Down-Ansätze nicht funktionieren. Unsere Narrative müssen von uns erzählt werden und unser Aktivismus muss von der Basis aus betrieben werden, sonst verlieren wir «Ownership» an unserer Arbeit.

Das Thema Cybersicherheit ist mir dabei auf unterschiedlichen Ebenen begegnet. Ich bin von Hause aus Juristin und mein Berufsziel als Anwältin war es, Recht und Rechtsprechung zu nutzen, um das Leben der Menschen zu verbessern. Zunächst setzte ich mich insbesondere für die Rechte von Frauen ein, bevor ich mich letztendlich auf die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft spezialisierte.

Wir waren eine der ersten Communities, die ihre Gemeinschaft «online» definierte. Zum einen als Ort von Freundschaft, Austausch und Entertainment, zum anderen aber auch um an Informationen rund um Gesundheitsfragen heran zu kommen, die unsere sexuelle Orientierung betreffen. Gleichzeitig war und ist das Internet kein besonders sicherer Raum für LGBTIQ-Personen. Es gibt Zensur, Online-Tracking oder regelrechte «Fallen», die LGBTIQ-Personen gestellt werden. So kam es, dass ich mich in meiner Arbeit und in meinem Aktivismus auf diese Online-Räume und die Bedürfnisse der LGBTIQ-Gemeinschaft konzentrierte. Ich muss zugeben, dass auch ich zu Beginn das Internet frei nach dem Motto «Wir nehmen, was wir kriegen» genutzt habe. Das änderte sich aber schnell mit der Erkenntnis, dass wenn das Internet «gegen uns» eingesetzt werden kann, es oberste Priorität sein muss, zunächst einmal sich selbst und seine Community zu schützen.

Welchen Einfluss haben digitale Technologie auf deinen Aktivismus?

Die Technologie hat mich nicht zur Aktivistin gemacht, aber sie hat den Umfang und Geltungsbereich meines Aktivismus erweitert. Der digitale Raum ermöglicht es uns mit Menschen in Kontakt zu treten und Allianzen zu bilden, ohne dass wir uns physisch treffen müssen. Menschen, die wir sonst nicht hätten erreichen können, sind jetzt viel näher an uns dran und dies macht die Arbeit um ein Vielfaches einfacher.

Als ich bei Tiers («The Initiative for Equal Rights») gearbeitet habe (Anm. D. Redaktion: eine nigerianische Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzt), waren wir dank der Technologien in der Lage, Menschen in Gefahrensituationen umgehend zu helfen. Die Menschen konnten Verstöße und Missstände melden und Tiers konnte umgehend darauf reagieren. Vor zehn Jahren noch waren LGBTIQ-Personen vor staatlichen oder aber auch nicht staatlichen Übergriffen kaum geschützt und hatten nur beschränkt Zugang zu Gemeinschaftsressourcen. Das hat sich durch das Internet und seine Tools extrem gebessert.

Wo können digitale Technologien Netzwerke und Bewegungen wirklich stärken?

Die Technologie leistet gute «Verbindungsarbeit» zwischen Gruppen, Aktivist*innen, Bewegungen und ihren Verbündeten. Sie fördert Zusammenarbeit und Kooperation. Sie hilft Gruppen sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Online findet weltweit so viel statt: die Sensibilisierung für unpopuläre Themen, die Beschaffung von Fördermitteln, die Unterzeichnung von Petitionen, Forschung und Dokumentation. Die digitalen Technologien machen auch die Arbeit vieler Grassroots-Aktivist*innen sichtbar und inspirieren somit wiederum andere, voneinander zu lernen und miteinander zu wachsen. Und so wird eine zunehmende Anzahl unterschiedlicher Stimmen hörbar. Online wurde schon sehr viel bewirkt, es gibt aber noch viel mehr Potenzial, insbesondere für Gruppen, die immer noch unterrepräsentiert sind.

Der Kurznachrichtendienst Twitter erfreut sich in Nigeria großer Beliebtheit und hat bei einer Reihe von Social-Media-Kampagnen – wie #BringBackOurGirls oder den Protesten gegen Polizeibrutalität (#EndSARS) im vergangenen Jahr – eine Schlüsselrolle gespielt. Doch die nigerianische Regierung hat erst kürzlich ein Verbot von Twitter verhängt. Wie sieht der aktuelle politische Kontext aus, in dem du arbeitest?

Momentan ist die politische Situation in Nigeria ziemlich düster. Zivilgesellschaftliche Räume schrumpfen weiterhin, sowohl physisch als auch online. Die Möglichkeit, sich zu organisieren wird stark reguliert und zensiert. Webseiten werden blockiert, wenn sie zum Beispiel über den Biafra-Krieg, über Abtreibung oder LGBTIQ-Rechte informieren.

Twitter ist in Nigeria die Plattform für politischen Diskurs. Hier wird organisiert, mobilisiert und hier werden politische Akteur*innen öffentlich zur Rechenschaft gezogen. Das Ausmaß der nationalen und internationalen Mobilisierung während der Proteste gegen Polizeigewalt (#EndSARS) im vergangenen Jahr sind hierfür ein gutes Beispiel. Im Juni 2021 löschte der Kurznachrichtendienst zwei Tweets von Präsident Muhammadu Buhari, da diese gegen die Richtlinien von Twitter verstießen. Die Regierung sah dies als Angriff auf den Staat und ließ die Plattform blockieren. Dieses Verbot führte jedoch lediglich dazu, dass die Nutzer*innen einen «Umweg» gehen mussten, um zu Twitter zu gelangen. Über VPNs («Virtual Private Network») oder Anonymisierungswerkzeuge wie TOR Browser waren viele Nigerianer*innen weiterhin auf Twitter aktiv. Aber dennoch hat diese Einschränkung die Twitter-Nutzung zu einer «Klassenfrage» gemacht: man braucht ein gewisses Bildungsniveau und die finanziellen Mittel, um sich durch eine VPN-Einrichtung zu navigieren und diese bezahlen zu können.

Twitter ist in Nigeria aber nicht nur für den politischen Diskurs, sondern auch als eine Art Nachrichtendienst von großer Bedeutung. Informationen über COVID-19 oder aber auch Brände und andere Notfälle können in Echtzeit gemeldet werden. Da hier grundlegende staatliche soziale Sicherungssysteme fehlen, kann über die Plattform schnell und unkompliziert Hilfe organisiert werden. Mit dem Verbot ist diese Funktion stark eingeschränkt. Die Regierung schneidet sich derzeit also «ins eigene Fleisch», und das ist wirklich bedauerlich.

Das harte Durchgreifen im Internet ist bloß eine Erweiterung der Restriktionen im «physischen Raum», und zeigt, dass die Regierung zu Allem entschlossen ist, wenn es darum geht, kritische Stimmen mundtot zu machen.

Was sind deiner Meinung nach die größten Herausforderungen des Internets, insbesondere im Hinblick auf Cybersicherheit?

Die Herausforderungen sind vielfältig und hängen von dem «Risikoprofil» der Nutzer*innen ab. So sind zum Beispiel die Risiken von Menschenrechtsverteidiger*innen oder Journalist*innen völlig anders, als die von Geschäftsleuten, die das Internet nutzen. Während bei Letzteren die Risiken eher finanzieller Natur sind, können Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen nicht nur selbst, sondern auch ihre Informationsquellen ins Visier von staatlichen und ihnen nicht wohlgesonnenen nichtstaatlichen Akteur*innen geraten.

Auch hat die digitale Gewalt im Netz stark zugenommen, z.B. in Form von Cybermobbing, sexueller Belästigung und Doxing (Anm. d. Redaktion: Offenlegung von identifizierenden Informationen über eine Person im Internet), die sich insbesondere gegen Frauen und LGBTIQ-Personen richtet.

Wie überall auf der Welt, ist auch in Nigeria Internetkriminalität und insbesondere «Identitätsdiebstahl» ein riesiges Problem. Das Internet ist voll von Leuten, die versuchen, sich als jemand anderes auszugeben und leichtgläubige Menschen dazu zu bringen, ihnen Geld zu schicken (Scamming). In den letzten Jahren wurde «Erpessungssoftware» entwickelt, die dafür sorgt, dass Menschen den Zugang zu ihren Geräten und Daten verlieren und erst dann wiedererhalten, wenn sie eine bestimmte Summe zahlen. Es gibt noch viel mehr Risiken – sie sind überaus komplex und existieren parallel. Und je nach dem Risikoprofil der Menschen können sie entweder einen riesigen Schaden anrichten oder gerade noch abgewehrt werden.

Was ist deine persönliche Botschaft an junge Netzaktivist*innen?

Bleibt innovativ! Die Welt ist voller Möglichkeiten, habt keine Angst sie zu nutzen! Es gibt viele Wege und Kanäle, die das Internet für uns öffnen kann. Das Cyberspace ist nur so weit, wie wir träumen können. Legt los! Ich wünschte, mehr Menschen würden sich dazu entschließen, es einfach zu tun.

Eine weitere Botschaft ist: bildet Allianzen! Wir brauchen mehr Menschen, die ihre Fähigkeiten und ihr Wissen weitergeben. Ich sehe viele afrikanische Programmierer*innen und Menschen, die im Bereich der Cybersicherheit und der Technologien arbeiten, die alle aus der Ferne arbeiten und eine globale Perspektive auf die Dinge haben. Und ich denke, da muss noch mehr geschehen. Wir leben heute buchstäblich in einer globalisierten Welt, in der die Dinge, die zum Beispiel in Deutschland passieren, Auswirkungen auf die Dinge haben, die in Nairobi gemacht werden. Und vice versa. Diesem Lernen und Teilen müssen wir Vorrang einräumen.

Vielen Dank für das Interview Azeenarh.


Azeenarh Mohammed ist Juristin und Grassroots-Aktivistin. Sie arbeitet als Trainerin für ganzheitliche Sicherheit mit marginalisierten Gruppen in Afrika südlich der Sahara. Sie unterstützt mit ihren Trainings besonders Menschenrechtsverteidiger*innen und Organisationen, die sich für Gleichberechtigung und Akzeptanz einsetzen.