Ernährungsarmut: Wer schlecht isst, ist nicht selber schuld

Analyse

In einem reichen Land wie Deutschland können sich alle Menschen ausreichend und gesund ernähren? So einfach ist das nicht. Einkommen, Bildung und Arbeit sind eng verknüpft mit dem Gesundheitszustand.

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Der Begriff Ernährungsarmut beschreibt die strukturellen Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer Position, Ernährung und Gesundheit. Regelmäßige Erhebungen dazu fehlen in Deutschland, denn der Zugang zu Nahrungsmitteln gilt hierzulande als relativ sicher. Nie war das Angebot an Lebensmitteln größer, die Lebensmittelpreise niedriger und der Anteil der Lebensmittelausgaben am gesamten Konsum privater Haushalte geringer.

Das verfassungsrechtlich garantierte Grundsicherungssystem soll die gesellschaftliche Teilhabe aller sicherstellen. Wenn sich unter diesen Bedingungen Menschen ungünstig ernähren, muss das an mangelnden Informationen, Kompetenzen oder anderen Prioritäten liegen – so die im öffentlichen Diskurs oft formulierte Annahme.

Die sozialepidemiologische Forschung weist allerdings auf den großen Einfluss struktureller und materieller Bedingungen auf das Ernährungs- und Gesundheitsverhalten hin. Demnach beeinflussen Faktoren wie das verfügbare Haushaltseinkommen, die relativen Lebensmittelpreise und die Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen das Ernährungs- und weitere Gesundheitsverhalten deutlich – insbesondere gilt das für Haushalte, die wenig Geld zur Verfügung haben. So errechnet das Robert-Koch-Institut zwischen der niedrigsten und der höchsten Einkommensgruppe Unterschiede in der Lebenserwartung von 8,4 Jahren bei Frauen und 10,8 Jahren bei Männern.

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Die Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz-IV) stellen die größte Besuchergruppe an den Tafeln.

Armut ist ein Gesundheitsrisiko. Als armutsgefährdet gelten Personen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des nationalen Mittels beträgt. Im März 2020 lebten 6,48 Millionen Menschen in Deutschland von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen, darunter rund 1,87 Millionen Kinder und Jugendliche. Für allein lebende Erwachsene betrug 2020 die monatliche Grundsicherung 432 Euro. Darin enthalten ist ein Budget für Lebensmittel von etwa 150 Euro im Monat, rund fünf Euro am Tag. Damit das reicht, kaufen Armutshaushalte häufig entweder weniger oder qualitativ schlechtere Lebensmittel ein.

Für Deutschland ist der Zusammenhang zwischen Lebensmittelpreisen und ihrer Energiedichte beziehungsweise ihrem Nährstoffgehalt wenig untersucht. Studien aus anderen wohlhabenden Ländern zeigen aber, dass energiedichte Lebensmittel mit hohem Stärke- und Zuckeranteil im Vergleich zu gesunden Lebensmitteln wie Obst und Gemüse, Fisch oder magerem Fleisch relativ preisgünstig sind. Softdrinks, Brot, Nudeln oder Pizza enthalten viele Kalorien pro Euro, während Obst und Gemüse verhältnismäßig teuer sind. Preisgünstiger als stärkehaltige Grundnahrungsmittel sind, bezogen auf den Kaloriengehalt, in den wohlhabenden Ländern nur Fette und Zucker.

Cover: Armut macht Hunger

Der Artikel ist Teil des Factsheets Armut macht Hunger. Mit dieser Publikation möchten wir zu einer lebendigen gesellschaftlichen Debatte beitragen. Wir möchten die Gründe für Hunger und Fehlernährung darstellen und zeigen, dass es klarer politischer Regeln und Strategien bedarf, um diesen Entwicklungen zu begegnen. Die Publikation zum Download gibt es hier

Studien zeigen, dass es in armen Haushalten eine deutlich geringere Vielfalt an Lebensmitteln gibt und sie günstige, sättigende Lebensmittel gegenüber Obst und Gemüse bevorzugen. Insgesamt 11 Prozent der deutschen Haushalte der untersten Einkommensgruppen geben an, sich nicht jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten zu können.

Qualitative Untersuchungen wie die Gießener Ernährungsstudie über das Ernährungsverhalten von Armutshaushalten weisen auf finanzielle Engpässe hin, in denen – häufig am Monatsende – das Einkommen nicht für eine gesunde Ernährung ausreicht. In sogenannten „Zieh- oder Streckwochen“ wird die Ernährung sehr einseitig. Zum Teil berichten Betroffene von Hunger. Diese Ergebnisse decken sich mit ersten Studien, die den Ernährungsstatus von Nutzer*innen der in Deutschland zunehmend verbreiteten Lebensmitteltafeln untersuchen.

Die Tafeln geben unverkäufliche, gespendete Lebensmittel gegen zumeist geringe Unkostenbeiträge an Bedürftige aus. Im Jahr 2019 nutzten 1,65 Millionen Menschen regelmäßig das Angebot der Tafeln. Es sind größtenteils Menschen, die von staatlicher Grundsicherung leben, gefolgt von Senior*innen und Asylsuchenden.

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In vielen Armutshaushalten reicht
der Regelsatz für eine gesunde und
ausgewogene Ernährung nicht aus

Zwischen 2018 und 2019 ist die Zahl der Nutzer*innen innerhalb eines Jahres um zehn Prozent gestiegen. Jede*r zweite der 1.033 befragten Tafelnutzer*innen gab an, sich eine gesunde und nahrhafte Ernährung nicht leisten zu können, rund 60 Prozent sprachen  von  einer einseitigen Ernährung und rund 10 Prozent berichteten, in den letzten zwölf Monaten aus Geldmangel mindestens einmal einen ganzen Tag lang ohne Nahrungsmittel gewesen zu sein. Ernährung dient jedoch nicht nur der Gesundheit, sondern hat auch soziale und kulturelle Funktionen.

Ein Leben in Armut kann dazu führen, dass Menschen an Alltagsroutinen wie dem Besuch von Restaurants, Mensen oder Kantinen oder an einer gemeinsamen Familienmahlzeit nur noch begrenzt teilnehmen können. Dies kann zu einer verminderten Einbindung in soziale Netzwerke führen. Insbesondere Kinder und Jugendliche leiden unter psychosozialen Folgen wie einem geringen Selbstbewusstsein oder fehlender Wertschätzung.