Abschied von Sergej Kowaljow

Nachruf

Am 9. August 2021 ist Sergej Adamowitsch Kowaljow gestorben, ein herausragender Streiter für Menschenrechte und Demokratie. Für Russland und ganz Europa ein herber Verlust.

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Sergej Kowaljow

Als sowjetischer Dissident, als Gründungsmitglied und Vorstand unserer langjährigen Partnerorganisation Memorial, als erster Menschenrechtsbeauftragter der Russischen Föderation, als Abgeordneter der Duma und als Naturwissenschaftler blieb er zeitlebens ein unbestechlicher und unbeirrbarer Streiter für die Würde und Rechte aller Menschen gegenüber jeder Art von Willkürherrschaft und Gewalt. Sein furchtloses Eintreten für Verfolgte in den schlimmsten Krisensituationen seines Landes hat Geschichte geschrieben.

Sergej Kowaljow wurde 1930 in der Ukraine geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er in einer Arbeitersiedlung bei Moskau. 1955 promovierte er an der Moskauer Universität im Fach Biologie; in Folge veröffentlichte er über 60 wissenschaftliche Arbeiten im Bereich der Zellforschung.

Seit Ende der 60er Jahre – in Zusammenhang mit den Protesten gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei – wurde er ein aktives Mitglied der sich gerade formierenden sowjetischen Menschenrechtsbewegung; seit 1969 war er Mitglied der „Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR“, ab 1972 Mitherausgeber der Samizdat-Publikation „Chronik der laufenden Ereignisse“. Wegen seiner Dissidententätigkeit von der Universität entfernt, arbeitete er fortan als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Moskauer Fischzucht-Anstalt.

Im Dezember 1978 – kurz vor Erscheinen der 34. Ausgabe der „Chronik“ – wurde Kowaljow in Moskau verhaftet und nach einem aufsehenerregenden Gerichtsverfahren zu sieben Jahren Lagerhaft und drei Jahren Verbannung wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ verurteilt. Nach Haft und Verbannung kehrte er erst 1987 nach Moskau zurück, wo er sich unmittelbar nach seiner Rückkehr gemeinsam mit Andrej Sacharow und anderen an der Gründung der Moskauer „Helsinki Gruppe“ und von Memorial beteiligte, in dessen Vorstand er gewählt wurde. 1989 kandidierte er auf Bitten von Andrej Sacharov für den Volkskongress der UdSSR und wurde im März 1990 als Moskauer Direktkandidat gewählt. Dort machte man ihn zum Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses; als solcher war er einer der maßgeblichen Autoren der Menschenrechtskapitel der neuen russischen Verfassung, des Gesetzes zur Rehabilitation der Opfer politischer Verfolgungen u.a. wichtiger Dokumente. Nach der Auflösung der Sowjetunion blieb er Abgeordneter der russischen Duma bis zum Jahre 2003 und war ein kritisches Mitglied der russischen Delegation beim Europarat.

Im Herbst 1993 wurde er von Präsident Jelzin zum Vorsitzenden der Kommission für Menschenrechte beim russischen Präsidenten ernannt und im Januar 94 von der Duma zum Menschenrechtsbeauftragten benannt. Während des ersten Tschetschenien-Krieges erlangte Kowaljow in Russland und international große Bekanntheit als unerbittlicher Kritiker der Gewaltpolitik der russischen Führung gegenüber den tschetschenischen Separatisten und leitete eine Monitoring-Mission zur Überwachung von Menschenrechtsverletzungen. Die Duma setzte ihn darauf im März 1995 als Menschenrechtsbeauftragen ab. Im Sommer 1995 leitete er als Vermittler im Auftrag der Regierung die Verhandlungen mit dem Geiselnehmer Shamil Basaev. Nachdem er sich im Austausch für die Befreiung eines Krankenhauses selbst in die Hände der Geiselnehmer begeben hatte, konnte er die Umsetzung der erreichten Vereinbarung erreichen.

Im Januar 1996 legte er aus Protest gegen die Fortsetzung des Tschetschenien-Krieges auch sein Amt als Vorsitzender der Menschenrechts-Kommission beim Präsidenten nieder und besetzte seither nie wieder eine staatliche Funktion.

Seit Beginn der Präsidentschaft Vladimir Putins war und blieb Sergej Kowaljow einer der schärfsten und prinzipiellsten Kritiker der Innen- und Außenpolitik des Präsidenten.

Für seine zivilgesellschaftliche und politische Arbeit wurde Sergej Adamowitsch Kowaljow vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Nürnberger Menschenrechtspreis (1996), der Kennedy-Prämie (2000), dem Olof-Palme-Preis (2000), dem Preis der französischen Ehrenlegion (2006), dem Sacharov-Preis des Europaparlaments (2009), dem großen polnischen Verdienstorden und vielen mehr.

Wir verlieren einen guten Freund und einen engen Verbündeten  der deutsch-russischen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Wir werden uns immer dankbar an ihn erinnern.

Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Walter Kaufmann, Leiter des Referats Ost- und Südosteruropa