„Und wird der Schamane durch diese fiktive Mythologie nicht zum Schamanendarsteller?“ – Ein kritischer Blick auf Leben und Arbeit von Joseph Beuys

Joseph Beuys war zweifellos eine der wichtigsten Kunst-Figuren im Nachkriegsdeutschland. Als Mensch verfügte er über ein beträchtliches Charisma, alles ist über ihn gesagt und bedeutet hat er mir nicht viel.

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Größerer Hippias, Canon Lucia auf Fabiano Disegno 5, 46 cm x 69 cm. Ed. 5, 2018

Auch wenn Joseph Beuys zweifellos eine der wichtigsten Kunst-Figuren im Nachkriegsdeutschland war und als Mensch über ein beträchtliches Charisma verfügte, hat er mir persönlich nie viel bedeutet – wenn Filz, dann Arte Povera, und wenn Honig, dann Antoni Tàpies. Selbstverständlich bin ich ihm nie begegnet, kenne nur seine Arbeiten und seine Sprache, aus der er nach eigener Aussage seine Werke entwickelte, und habe die Texte anderer über ihn gelesen. Heute im Jahr 2021 ist eigentlich alles über ihn gesagt, und ich kann auch nur aus heutiger Sicht auf ihn zurückblicken.

Als die Universität der Künste Berlin noch Hochschule war, erhielt ich in der Grundlehre den Rat, mir doch den Beuys anzusehen. Hilflos mit allem, was nicht Malerei war, gab es noch den Hinweis dazu, dass sie mit seiner Arbeit ja auch nichts anfangen könnten, seine Zeichnungen aber „die haben Qualität!“. Damals schon empfand ich die von ihm so benannte Braunkreuzfarbe seiner Zeichnungen nur als Versuch, es Yves Klein und seinem Internationalen Yves Klein Blau gleichzutun und wie sich später herausstellte, als dass was sie war: Rostschutzfarbe. In einer motivischen Kombination, die von Kreuzen und deutscher Wald- und Wiesenfauna geprägt war, verströmten seine Zeichnungen für mich, im Gegensatz zu manchen Arbeiten seiner Zeitgenossen, den Mief der 50er Jahre. Eine Metaphorik, welche in seinen Installationen aufgrund der verwendeten Materialien zu einem realen Mief wurde: Fett und Filz, von Beuys zum Leitmotiv seiner Kunst erkoren und mit seiner erfundenen Rettung durch Krimtataren begründet. Mit dem Fett wurde sein Körper eingerieben, damit die Wärme zurückkehre und er wurde in Filz gewickelt, um die Wärme zu erhalten. Nur fand er eben diese Materialien nicht durch die Begegnung mit den nomadisch lebenden Tataren, sondern beim Anthroposophen Rudolf Steiner, der Fett als paraphysikalisches Phänomen beschrieb, bei dem Wärme erzeugt wird. Wie Hans Peter Riegel in seiner Beuys-Biographie hinlänglich belegt hat, hat sich Beuys leidenschaftlich mit der Ordnung der obskuren und okkulten Lehren Steiners befasst – einem „Geheimwissen“, das Beuys neben einer gewissen Orientierung auch eine Erhabenheit durch die angelesene „Erkenntnis“ verlieh. Und wenn Beuys sich mal nicht auf Steiner bezog, kamen solch unvergessene Perlen wie „Wir wollen: Sonne statt Reagan“ heraus – eine Refrainzeile zum Fremdschämen und damit auch ein seltener Moment, in dem seine Selbstinszenierung nicht aufging; vielleicht auch, weil sich seine eigene musikalische Vorliebe auf Volkslieder und Wagner beschränkte. Erst durch die Begegnung mit Nam June Paik wurde er zu dem sogenannten Avantgardekünstler und löste sich von seinem bis dahin konservativen Schaffen, das er von seinem Lehrer Ewald Mataré übernommen hatte, indem er spät auf die Fluxus-Bewegung aufmerksam wurde und deren Ideen für seine Zwecke nutzte. Mit unverständlichen Aktionen machte er auf sich aufmerksam, wie beispielsweise der Zerstörung eines von Paik präparierten Klaviers mit der Axt.

Natürlich ist Beuys nicht der einzige, der Mythen- und Legendenbildungen zum Mittel seiner biografischen Erfindung und künstlerischen Praxis nutzte. Wenn man nun seine eigene Biografie erschafft, sie als „Lebenslauf Werklauf“ betitelt, die Stationen seines Lebens zu Ausstellungen, zu Kunstwerken hochstilisiert und auf dieser sein künstlerisches Werk aufbaut, lässt sich Person und Werk kaum mehr trennen. Warum hat er in seiner Biografie den Geburtsort von Krefeld in das wohlhabendere Kleve verlagert und als Vater den erfolgreicheren Onkel angegeben? War es der Wunsch nach einer standesgemäßeren Herkunft, nach größerer Anerkennung? Vielleicht waren auch seine späteren Bemühungen, Andy Warhol zu seinem Freundeskreis zählen zu wollen, von dieser Idee geprägt. Beuys’ Werk wird ja gerne eine besondere Authentizität zugesprochen, aber wie ist es darum bestellt, wenn diese nur erdacht ist? Und wird der Schamane durch diese fiktive Mythologie nicht zum Schamanendarsteller? Ist die Erfindung seines Lebenslaufs nicht eigentlich von größerer Bedeutung, als sein künstlerisches Werk, wenn sich Kunst und Künstler nicht mehr voneinander trennen lassen? Mit diesen selbstgeschaffenen Tatsachen und Erzählungen, sowie seinen politischen Aktionen hat er quasi die Blaupause zur gelungenen Selbstvermarktung geschaffen, die auch heute noch Künstlern wie Ai Weiwei als Vorlage zu dienen scheint.

Von Steiner übernahm er neben der anthroposophischen Esoterik auch die Vorstellung, dass das „deutsche Volk“ eine zentrale Rolle in der „Menschheitsentwicklung“ übernehmen müsse. Auch äußerte er sich noch 1982 positiv über die Schulbücher der Nazi-Zeit, welche in vielerlei Hinsicht besser als die heutigen gewesen seien. Weshalb ich ihn mir heute, wenn er denn noch am Leben wäre, gut als querdenkenden, völkischen Siedler vorstellen könnte. Waren es damals Basaltstelen, die die kosmische Energie aufnehmen sollten, wären es heute vermutlich Akasha-Säulen, mit denen er den Himmel von energetischen Verschmutzungen reinigen würde.

Wenn ich heute in den Hamburger Bahnhof gehe, immerhin das Museum für Gegenwart, und seit gefühlt einer Ewigkeit im Westflügel über die stets gleichen Arbeiten stolpere, denke ich mir, wie erfrischend es sein könnte, wenn dieser Raum von zeitgenössischeren Positionen belebt wäre.

Oder um es in hoffentlich korrekter rheinländischer Mundart zu sagen: Isch maach den ja, aber …


Martin Dörbaum, 1971 geboren und lebt in Berlin

Martin Dörbaum erkundet in seinen Arbeiten die Möglichkeiten des digitalen Raums. Basierend auf persönlichen Erinnerungen und gefundenen Materialien schafft er computergenerierte Momentaufnahmen, die jedoch nicht auf fotografischen Abbildungen basieren. In diesen von Architektur und Film geprägten Inszenierungen werden die Dinge durch ihre bloße Existenz zu Erzählern einer Geschichte über privaten und öffentlichen Raum, soziale und ökonomische Realität. Seine Arbeiten nutzen die verschiedensten Medien wie Bild, Skulptur, Animation, Klang und Musik.

Dörbaum lehrte Medienkunst unter anderem an der Universität der Künste Berlin, an der Chinesisch-Deutschen-Kunstakademie an der China Academy of Art in Hangzhou, sowie der Xi’an Academy of Fine Arts. Seit 2019 unterrichtet er Visuelle Kommunikation am International College der Hunan City University in Yiyang, China.