Kinder in Südafrika

Backen für eine bessere Zukunft

Die Hungerkrise in den finsteren Monaten des Lockdowns macht eines besonders deutlich: Südafrika muss sein Ernährungssystem langfristig verändern, wenn es seine Bürger*innen auf Dauer gut und richtig versorgen will. Im Arbeiterviertel Bonteheuwel in Kapstadt übernehmen das derweil Henriette Abrahams und ihre Mitstreiter*innen. Sie können und wollen nicht mehr warten, bis der Staat endlich etwas tut.

Henriette Abrahams hat eine Idee. Die Feiertage stehen vor der Tür, aber sie muss noch einen guten Plan entwerfen, wie sie das neueste Projekt des Bonteheuwel Development Forum (BDF) genau stemmen kann. Sie will eine betriebsfertige Bäckerei in ihr Viertel bringen, damit die Bewohner*innen ihr eigenes Brot backen und sich so ein wenig aus ihrer wirtschaftlichen Not befreien können.



Abrahams lebt in Bonteheuwel, einem Arbeiterviertel in ­Kapstadt. Die Menschen leiden unter hoher Arbeitslosigkeit, ­unter Armut und Fehlernährung. Der Lockdown des Jahres 2020 hat ­gezeigt, wie prekär die Lage vieler Menschen ist. Wie können sich Gemeinden wie die ihre gegen Hunger wappnen? Auch in anderen ­Zeiten? Dass der Staat endlich etwas tut, darauf wollen sie und der BDF nicht mehr warten. Ihre Strategie ist einfach: Die Gemeinde muss eine eigene lokale Wirtschaft aufbauen, damit die Bewohner*innen ein Einkommen erzielen und sich selbst ernähren können.



Natürlich ging es den Menschen in dem Viertel auch schon vor der Covid-19-Pandemie nicht gut, aber ihre Lage hat sich durch den Lockdown enorm verschärft. Auch landesweit. Millionen Südafrikaner*innen haben ihre Arbeitsplätze oder Lebensgrund­lage verloren – und damit ihre Einkommen. Sogar das Geld für die Grundnahrungsmittel fehlt ihnen nun. «Gemüse ist zu einem ­Luxusgut geworden», sagt Abrahams. 

Die Bäckerei soll in einem Schiffscontainer geliefert werden und über alles verfügen, um vier Menschen zu beschäftigen und etwa 1.500 Laibe Brot am Tag backen zu können. Das Brot soll einen höheren Nährwert haben als die billigen, übermäßig verarbeiteten Produkte, die in Supermärkten und Lebensmittelgeschäften angeboten werden. Menschen mit wenig Geld sind oft gezwungen, sie zu kaufen und so täglich Kompromisse bei wichtigen Ausgaben für ihre Ernährung zu machen.



Weitere Bäckereien will Abrahams mit Spenden finanzieren. Wenn sie und der BDF genug zusammenbekommen, werden sie zehn Containerbäckereien in einkommensschwache Gemeinden in drei Provinzen liefern lassen. Und – wenn ihr Pilotprojekt erfolgreich ist, überlegen sie, es im ganzen Land zu probieren. Möglich wären auch andere Kleinunternehmen, wie zum Beispiel eine Schneiderei. Durch den Zusammenbruch der Bekleidungsindustrie sind in der Gemeinde in den vergangenen Jahren viele Schneider*innen und Näher*innen arbeitslos geworden.

Die Hungerkrise wurde bewältigt – aber die Arbeit beginnt erst



Ursprünglich hatte Abrahams das Netzwerk BDF im Jahr 2018 mit dem Ziel gegründet, Sicherheitsprobleme in einer Gegend mit weit verbreiteter Bandengewalt anzugehen. Als die Covid-Pandemie ausbrach, bildete sich landesweit eine Welle der Solidarität: Regierungsbehörden, zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmen, religiöse Gruppen, wohltätige Organisationen und die breite Öffentlich­keit leisteten mit vereinten Kräften Hungerhilfe in den ärmeren Gemeinden. Neben Essenspaketen gab es ein Gutschein-System für den Lebens­mitteleinkauf, erweiterte soziale Beihilfen und anderes mehr. 



Zunächst in Kapstadt und dann auch anderswo im Land entstanden sogenannte Community Action Networks (CANs), selbstorganisierte Nachbarschaftsnetzwerke, die schnell und unbürokratisch Unterstützung leisteten und dabei solidarische Partnerschaften zwischen wohlhabenderen Stadtteilen und ärmeren Vierteln schlossen. Das BDF war an vorderster Front mit dabei. Es verfügte bereits über ein gut organisiertes kommunales Netzwerk und war optimal aufgestellt, um die lokale Verteilung der Nahrungsmittelhilfe zu unterstützen – vor allem mit Gruppen meist weiblicher Freiwilliger. In den ersten Wochen des Lockdowns verteilten sie über 1.500 Lebensmittelpakete an eine stetig wachsende Zahl Bedürftiger; Nachbar*innen und Freund*innen des Forums finanzierten diese Aktionen. Schnell kamen Gemeinschaftsküchen dazu. Zwei Monate nach dem Beginn des Lockdown bereiteten vorwiegend Frauen ­wöchentlich über 40.000 Mahlzeiten zu.



Doch das BDF und die anderen Organisationen stellten bald fest, dass sie die Mobilisierung von Nahrungsmittelhilfe in diesem Umfang auf Dauer nicht leisten können. Und dass sie vor allem auch keine Lösung für die große Ernährungsarmut im Land sein kann. Der Bericht «2020 Food Dialogues» kommt zu dem Schluss, dass nun, da die unmittelbare Hungerkrise bewältigt sei, erst die eigentliche Arbeit beginnen müsse: eine Reform des ungleichen, ausgrenzenden, profitorientierten Lebensmittelsystems, das so vielen Südafrikaner*innen Hunger und Krankheiten beschert hat, noch bevor die Pandemie überhaupt begonnen hatte.

Südafrika verzeichnet mit großem Abstand die meisten Covid-19-Fälle auf dem Kontinent. Über 37 000 Menschen sind bisher an der Pandemie gestorben und täglich kommen mehrere Hundert hinzu. Dabei hatte die Regierung zunächst schnell und konsequent gehandelt und das Land zu Beginn der Pandemie in einen der striktesten Lockdowns weltweit geschickt. Eine im Juli 2020 veröffentlichte Studie aber zeigt das Ausmaß der sozialen und wirtschaftlichen Folgen: Fast die Hälfte aller befragten Haushalte hatten im Monat April 2020 nicht genug Geld für Nahrungsmittel. Drei Millionen Menschen waren plötzlich 
ohne Arbeit, in der Mehrzahl schwarze Frauen. Viele dieser Arbeits-plätze sind wohl für immer verloren. Geschätzte 
60 Prozent kleiner und mittelständischer Unternehmen könnten die Krise nicht überstehen. Die südafrikanische Wirtschaft schrumpfte im Vergleich zum Vorjahr um acht bis zehn Prozent. Die Voraussagen für 2021 sind vorsichtig optimistisch – doch bei den geringeren Einnahmen und gefangen in einer Schuldenspirale bleibt dem Staat wenig finanzieller Spielraum, um mittelfristig der hohen Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und Ungleichheit zu begegnen. Während der erste harte Lockdown half, eine Überlastung des Gesundheitssektors weitgehend zu vermeiden, kämpfen seit Ende vergangenen Jahres immer weniger medizinische Fachkräfte gegen die tödlichere zweite Welle. Eine schnelle Entlastung durch ein Impfprogramm 
ist nicht in Sicht: Die für das erste Halbjahr bestätigten Lieferungen von Impfstoff reichen nur für etwa zehn Prozent der Bevölkerung.

Ernährungsarmut gab es bereits vor der Pandemie



Ein Bericht von Oxfam Südafrika aus dem Jahr 2014 mit dem ­Titel «Hidden Hunger» betont, das zentrale Problem des Lebensmittelsystems in Südafrika bestehe darin, es den Menschen zu leicht zu machen, sich schlecht zu ernähren. Die Wurzeln dieser Ernährungsarmut liegen bereits viele Generationen zurück. Gesetzgebung und Politik der Kolonial- und Apartheid-Ära setzten auf eine billige, schlecht bezahlte, passive Arbeitsbevölkerung und schlossen sie von der Wirtschaft und der Führung des Landes aus. Diese unterdrückte Klasse lebte meist in städtischen Industriezentren und litt zwar nicht unbedingt an Hunger, ernährte sich aber durchgehend sehr schlecht.



Die globale Ausbreitung des Neoliberalismus der vergangenen 50 Jahre hat auch in Südafrika ein industrialisiertes Lebensmittelsystem verankert, das den Markt mit stark verarbeiteten, übermäßig raffinierten, kalorienintensiven Produkten überschwemmt, die billig und ansprechend sind und aggressiv vermarktet werden. Familien mit knappen Geldmitteln entscheiden sich eher für diese als für gesündere, teurere Lebensmittel.



Hunger und Unterernährung gelten in Südafrika jedoch nach wie vor als persönliche Schande und werden als eigenes Versagen gebrandmarkt – ebenso wie die sogenannten «Zivilisationskrank­heiten», die mit schlechter Ernährung einhergehen, wie zum Beispiel Herzerkrankungen, Fettleibigkeit und Diabetes. Gareth ­Haysom vom African Centre for Cities (ACC) der Universität Kapstadt und Jane Battersby, außerordentliche Professorin beim ACC, plädieren für eine andere Perspektive: Sie fordern, Hunger, Unterernährung und Fettleibigkeit endlich als Folge eines grundlegenden, dysfunk­tionalen Systems zu werten – und nicht als Folge individueller Fehlentscheidungen von Menschen, die einfach versuchen, in diesem System zu überleben. Gelänge das, würde sich das Augenmerk auf die Verantwortung des Staates und die Rolle der mächtigen Unternehmen im Nahrungsmittelsystem richten – und auf das Recht der Bürger*innen auf angemessene Nahrung und Ernährung.

Ein Recht auf Nahrung



Die Verantwortung des Staates ist im Gesetz unmissverständlich festgeschrieben. Die südafrikanische Verfassung erkennt das Recht aller Bürger*innen unter anderem auf Gleichheit, Würde, Leben und Gesundheitsversorgung an. Dazu gehört auch das Recht auf Nahrung. Der Staat ist verpflichtet, ein «förderliches» Umfeld zu schaffen, in dem Menschen entweder ihre eigenen Lebensmittel anbauen können oder über ein Einkommen, einen Lebensunterhalt oder eine soziale Unterstützung verfügen, damit sie Lebensmittel für sich und ihre Angehörigen kaufen können. Wenn Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu versorgen, muss der Staat einspringen. 



An diese Verantwortung aber muss der Staat immer wieder erinnert werden. Als während des Lockdowns die Schulen ­schlossen, wurde die tägliche Schulspeisung weitgehend eingestellt, neun Millionen Schüler*innen standen auf einmal ohne Mahlzeiten da. Schulvorstände und zivilgesellschaftliche Organisationen zogen vor den Obersten Gerichtshof, der das Bildungsministerium schließlich anwies, das Schulmahlzeitenprogramm auch während der Schulschließung fortzusetzen.

Eigeninitiativen statt warten

Auch wenn es solche Erfolge gibt: In der Regel ist der Staat unsichtbar, wenn es darum geht, seine Bürger*innen zu versorgen. Und die Menschen sind es leid, auf seine oder die Hilfe privatwirtschaftlicher Unternehmen zu warten. Umso wichtiger ist es Henriette Abrahams und dem BDF, sie vor allem auch mit nachhaltigen Projekten zu unterstützen. Im Juni pflanzten Jugendliche aus Bonteheuwel 30.000 Setzlinge in 17 kommunalen Gärten. Auf diese Weise sollen nicht nur die Suppenküchen versorgt werden, sondern «Kinder können erleben, was es bedeutet, eigene Lebensmittel anzubauen». 



Henriette Abrahams wird auch den Plan mit der Bäckerei und vielleicht sogar einer Schneiderei hartnäckig weiterverfolgen. Denn nach dem Lockdown geht die Armut weiter.

Portrait Henriette Abrahams

Leonie Joubert ist eine südafrikanische Wissenschaftsjournalistin und Autorin. Seit zwanzig Jahren veröffentlicht sie Artikel und Sachbücher über die Klima- und Umweltzerstörung, Energiepolitik und die Frage, warum Städte hungrig, dick und krank machen. Joubert wurde zweimal mit dem Alan Paton Non-fiction Award ausgezeichnet.

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