Was ist von Ungarns Haushaltsveto zu halten?

Analyse

Ungarn und Polen haben im November ihr Veto gegen den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für 2021 bis 2027 und den wirtschaftlichen Aufbauplan ‚Next Generation EU‘ (NGEU) angekündigt. Neueste Entwicklungen zeigen jedoch, dass Ungarns und Polens Sichtweisen in dieser Frage mittlerweile auseinandergehen. Ungarn riskiert weiterhin, den Erhalt neuer EU-Subventionen zu verzögern, die es der Regierung ermöglichen würden, im dem Jahr vor den Parlamentswahlen 2022 neue Ausgabeversprechen zu machen. Schaut man sich jedoch die aktuelle wirtschaftspolitische Lage in der EU an, kann Ungarn tatsächlich einige seiner unmittelbaren Ziele erreichen. Die Schlüsselfrage lautet also: Was verspricht sich Ungarn von seinem Veto?

Das Veto legitimieren - von der Rechtsstaatlichkeit bis zur Migration

Budapest hat zunächst einmal argumentiert, dass der deutsche Vorschlag für einen Rechtsstaatmechanismus, der von einer qualifizierten Mehrheit im Rat der EU verabschiedet werden muss, keinerlei objektive Kriterien enthalte und somit zu einem „politischen Erpressungswerkzeug“ verkomme. In einer gemeinsamen Erklärung der polnischen und ungarischen Regierung heißt es, dass sie nur die Einrichtung eines Systems, das ausdrücklich den EU-Haushalt schützt, genehmigt hätten, nicht aber die Einführung von politischen Kriterien. Sie versicherten sich gegenseitig, ihre Zustimmung zum Haushalt so lange zu verweigern, wie eines der beiden Länder Vorbehalte gegen den Rechtsstaatsmechanismus habe.

Die polnische Regierung scheint aber langsam klein beizugeben: Der stellvertretende Ministerpräsident, Jaroslaw Gowin, kündigte an, dass Polen sein Veto fallen lassen würde, wenn es im Gegenzug eine „verbindliche“ Erklärung darüber gäbe, wie genau Brüssel den Konditionalitätsmechanismus einsetzen wird. Dem vorausgegangen war das Durchsickern von Informationen, wonach die Kommission angeblich dabei sei, Wege auszuloten, um den wirtschaftlichen Aufbauplan mit den 25 Mitgliedsstaaten, die dem EU-Haushalt zustimmten, auf den Weg zu bringen, an Polen und Ungarn vorbei.

Der ungarische Premierminister, Viktor Orbán, sagte, er unterstütze die von Polen vorgeschlagene Lösung nicht und forderte eine Trennung von Rechtsstaatsmechanismus und EU-Haushalt. Die Vorschläge zum EU-Haushalt und zum Rechtsstaatsmechanismus sind in der Tat zwei getrennte Gesetzesvorschläge, die von den Mitgliedsstaaten politisch miteinander verknüpft wurden. In jedem Fall ist das polnisch-ungarische Trotzbündnis bereits ins Wanken geraten, wenn nicht bereits zerbrochen: Zwar pochten polnische Regierungsbeamten nach der Erklärung von Gowin darauf, dass sie ihre „harte Verhandlungsposition“ aufrechterhalten würden; dieser Vorfall zeigt jedoch, dass Warschau leichter überzeugt werden kann, seinen Widerstand aufzugeben.

Nur wenige Tage nach seinem Veto sagte Orbán, dass Brüssel lediglich Mitgliedsstaaten als rechtsstaatskonform ansehe, die es Migrant*innen erlauben, sich in ihrem Land niederzulassen, was zur Grundlage für die nationale Kommunikation der ungarischen Regierungspartei wurde: „Migration ist der Schlüssel zu allem“. Laut der Fidesz-Partei versucht Brüssel, den Rechtsstaatsmechanismus zu nutzen, um den sogenannten „Soros-Plan“ durchzusetzen. Danach solle Budapest gezwungen werden, Migrant*innen ins Land zu lassen. Warum werden Migration und Soros auf den Plan geholt? Grund ist, dass sich die überwiegende Mehrheit der Ungar*innen laut einer jüngsten Umfrage für eine Kopplung von EU-Sanktionen an demokratische Prinzipien ausspricht.

Das Kabinett musste daraufhin zu seinem altbewährten Kommunikationsnarrativ zurückkehren, um wenigstens seine eigene Wählerschaft – über die staatlich kontrollierten Medien – davon zu überzeugen, dass die Entscheidung der Regierung lediglich ein Element im Kampf Ungarns gegen Brüssel zur Verteidigung der eigenen Souveränität sei. Nach einer aktuellen Medián-Umfrage bezüglich des ungarischen Vetos beginnt sich diese Strategie auszuzahlen: Jede(r) Zweite ist der Ansicht, dass die EU Ungarn für seine Politik der Migrationsbeschränkung „bestrafe“, und 17% der Oppositionswähler*innen – einschließlich 38% der MSZP- und 30% der Jobbik-Anhänger*innen – teilen ebenfalls diesen Gedanken. Das Thema Migration wird jedoch nicht mit einem einzigen Wort im Text über die Rechtsstaatlichkeitskonditionalität erwähnt.

Ein potenzieller Faktor, der Ungarn davon abhalten könnte, sein Veto schnell wieder fallen zu lassen, ist, dass die Regierungspartei einen Sieg braucht. Obgleich sie nach wie vor einen komfortablen Vorsprung vor der Opposition hat, geht Fidesz‘ Beliebtheit seit August 2020 langsam zurück. Einer Zavecz-Studie zufolge würden Wähler*innen, hätten sie die Wahl zwischen der Fidesz-Liste und einer Liste mit allen sechs wichtigsten Oppositionsparteien aktuell bei einer Wahl, der Oppositionsparteiliste einen kleinen Vorzug geben.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise und die chaotischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in den letzten Monaten haben sich sicherlich negativ auf die Beliebtheit der Regierungsparteien ausgewirkt. Daher hofft das Kabinett, dass ein Streit mit Brüssel über die EU-Gelder die Aufmerksamkeit vom Coronavirus ablenkt und einige unmotivierte, Fidesz zugeneigte Wähler*innen die Partei 2022 unterstützen werden.

Klientelismus und Machtpolitik spielen auch eine Rolle

Ein weiteres entscheidendes Thema für die ungarische Regierungspartei im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus ist, dass dieser die Bemühungen beim Aufbau eines Klientelismus unter Verwendung von EU-Geldern ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte. Ungarische Unternehmer*innen mit Verbindungen zu hochrangingen Regierungsvertreter*innen, einschließlich des Ministerpräsidenten selbst, profitieren erheblich von EU-finanzierten Aufträgen.

Diese Gewinne wurden unter anderem dazu genutzt, eine ganze Reihe von Medien aufzukaufen, die dann zu Sprachrohren der Regierung wurden und sich unter dem Dach der Central European Press and Media Foundation (KESMA) versammeln. Die vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung empfohlenen Finanzkorrekturen hinsichtlich zuvor verteilter Gelder betreffen 3,93% der EU-Kohäsions- und Landwirtschaftsmittel, die Ungarn zwischen 2015 und 2019 bereitgestellt wurden. Der entsprechende Anteil in Polen im gleichen Zeitraum bei nur bei 0,12%, weshalb der Mechanismus für Polen eine viel geringere Bedrohung darstellt.

Außerdem würde der Rechtsstaatsmechanismus Fidesz‘ Bestreben, die uneingeschränkte Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen, einen Strich durch die Rechnung machen. Das ungarische Kabinett hat die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt, und eine kürzlich beschlossene Verfassungsänderung strebt eine enge Definition für öffentliche Mittel an. Diese Themen finden in dem Rechtsstaatstext, auf den man sich bislang verständigt hat, Erwähnung, denn die Unabhängigkeit der Gerichte in den Mitgliedsstaaten beispielsweise ist ein wesentliches Element als Garant für die effektive Kontrolle der Verausgabung von EU-Mittel und damit zum Schutz des EU-Haushalts.

Was will Budapest erreichen?

Parteipolitisch könnten die ungarischen Regierungsparteien wahrscheinlich einen „Sieg“ erringen, indem sie ihre Partner*innen dazu zwingen, sich auf redaktionelle Änderungen zu verständigen, zum Beispiel durch einen expliziten Bezug auf das Thema Migrationspolitik, das keine Grundlage für Sanktionen gegen einen Mitgliedsstaat bildet. Dadurch könnte Fidesz ihren Kampf gegen Brüssel als Erfolg verkaufen.

Ein solches Ergebnis würde gut in das Narrativ von Orbáns Kabinett passen, das den ungarischen Ministerpräsidenten als Schlüsselakteur auf europäischer Bühne darstellt, an dem man nicht vorbeikommt und der es daher geschafft hat, die „Soros-geführten“ Angriffe aus Brüssel mit dem Ziel der Ansiedlung von Migranten im Land abzuwehren.

Ungarns oberstes Ziel - angetrieben durch politische Machtüberlegungen – besteht darin, den Rechtsstaatsmechanismus so zu schwächen, dass es praktisch unmöglich ist, Sanktionen gegen einen Mitgliedsstaat zu verhängen oder aber zumindest die Möglichkeit von Sanktionen auf nach den nächsten Wahlen zu verschieben.

Das würde es dem amtierenden Kabinett ermöglichen, seine Pläne zur Transformation des lokalen politischen Systems abzuschließen, bevor es irgendeine Art von Sanktionen zu befürchten hätte - zumindest kurzfristig. Auch wenn das Konditionalitätsgesetz mit einer solchen Deutungserklärung verabschiedet werden würde, könnte sich Ungarn – entweder allein oder zusammen mit Polen – an den Europäischen Gerichtshof wenden, um den Mechanismus rechtlich prüfen zu lassen und würde dadurch seine Umsetzung hinauszögern.

Die ungarische Regierung setzt darauf, dass erstens die Staatsoberhäupter der europäischen Staaten, die noch stärker unter der Pandemie leiden, wie Italien und Spanien, und zweitens die allgemeine wirtschaftliche Situation die deutsche Ratspräsidentschaft dazu zwingen werden, Zugeständnisse an Budapest zu machen. Während Berlin in der Tat gewillt zu sein scheint, genau das zu tun, wird jeder Plan zur Reduzierung der praktischen Funktionsfähigkeit des Rechtsstaatsmechanismus auf harten Widerstand der „Sparsamen Vier“ (Österreich, Dänemark, Niederlande, Spanien) und des Europäischen Parlaments treffen.

Außerdem darf man nicht vergessen, dass die ungarische Regierung zusätzliche EU-Mittel dringend braucht. Die Europäische Kommission prognostiziert einen 6,4%igen Rückgang des ungarischen BIP. Für Fidesz waren ein stabiles Wirtschaftswachstum und höhere Beschäftigungszahlen eine zentrale Säule für ihre Beliebtheit – neben ihrer Anti-Migrations- und Anti-Soros-Rhetorik. EU-Gelder sind für ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum in Ungarn stets von großer Bedeutung gewesen. Das Coronavirus und die daraus resultierende Wirtschaftskrise gefährden diese Ergebnisse. Daher liegt es im Interesse von Orbáns Kabinett, so viele Gelder wie möglich im letzten vollen Jahr vor den Wahlen 2022 in die Wirtschaft fließen zu lassen. 

Es wird ein Punkt kommen, wo Fidesz intern unter Druck gerät, Gelder freizugeben und die Wirtschaft wieder mit anzukurbeln: Langfristige wirtschaftliche Nöte helfen einer amtierenden Regierung in ihrem Wahlkampf nur selten. Die eigentliche Frage ist, ob der Druck auf die südlichen Mitgliedsstaaten einen Einfluss auf die „Sparsamen Vier“ und das Europäische Parlament haben wird, einen Kompromiss zu finden. Genau darauf setzt Budapest.


Die englische Originalversion ist am 07.12.2020 zuerst auf cz.boell.org erschienen.