Das verprügelte Minsk

Analyse

Bei den Protesten in Minsk nach den Präsidentschaftswahlen wurden viele Menschen Opfer von Polizeigewalt. Der Text gibt Aufschluss über das Ausmaß der Verletzungen.

Warnhinweis: Dieser Beitrag enthält Gewalt- und Verletzungsbeschreibungen.

Lesedauer: 11 Minuten
Illustration Menschenmasse/Dremonstrant*innen

In Zusammenarbeit mit der Initiative „Stimmen aus Belarus“ dokumentieren wir an dieser Stelle Übersetzungen von Texten belarusischer Autor*innen über die Ereignisse im Land nach den Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 und der daraus entstandenen Demokratiebewegung.

Mindestens 1.376 Personen wurden in Minsk von August bis September 2020 zu Opfern von Gewalt seitens der Polizei- und Sicherheitskräfte. Jede dritte Person erlitt dabei Verletzungen mittlerer Schwere und Verstümmelungen. Mehr als 600 Personen wurden nicht während einer Protestaktion zum Opfer Polizeigewalt, sondern erst nach einer Festnahme in den Räumen von Polizeidienststellen und in der Haftanstalt von Okrestina. Es gab mindestens drei Fälle sexualisierter Gewalt, einer der Vergewaltigten war minderjährig. All dies wurden „Medizona“ nach Auswertung von Daten bekannt, die aus einer Quelle im Ermittlungskomitee der Republik Belarus stammten [Das „Ermittlungskomitee“ ist eine zentralisierte Stelle des Innenministeriums, die damit betraut ist Ermittlungen im Bereich strafrechtlicher Verfolgung durchzuführen. Die Einrichtung wäre vergleichbar mit dem deutschen BKA. - Anm. d. Ü.].

Staatliche Stellen veröffentlichten keine Statistiken über Opfer von Polizeigewalt, aber die Sicherheitsbehörden sammelten diese Informationen. Eine anonyme Quelle setzte sich mit der Redaktion von „Mediazona“ in Verbindung und stellte ein Archiv mit Dokumenten aus dem Ermittlungskomitee zur Verfügung. In den Unterlagen sind Informationen zu Verletzungen von Protestteilnehmer*innen in Minsk enthalten. Die Dokumente enthalten mehrere Tabellen mit Kurzinformationen zu jedem Fall [einer Körperverletzung], sowie Materialien aus der Prüfung von Folterfällen. Damit man auf dieser Grundlage eine allgemeine Statistik erstellen kann, haben wir diese Daten zusammengefasst und analysiert.

Zur Anschaulichkeit der Analyse empfehlen wir diese Materialien mit einem Computer zu lesen - das Original der Auswertung auf mediazona.by enthält mehrere interaktive visuelle Darstellungen der Auswertung und ist über den Link zur Quelle abrufbar.

Zu Mediazona.by

„Mediazona.by“ ist eine belarussische Ausgründung von "medizona.ru" - einer unabhängigen russischen Medienplattform, die von zwei Mitgliedern von Pussy Riot, Nadezhda Tolokonnikova und Maria Alechina, ein halbes Jahr nach ihrer Haftentlassung im September 2014 gegründet wurde. Der Focus in der Berichterstattung und Analyse von Mediazona richtet sich auf Vorgänge im Gerichtswesen, das Vorgehen der Polizei- und Sicherheitskräften, politische Verfolgung von Bürgern seitens der staatlichen Sicherheitsbehörden und die Lage in den Haftanstalten des Landes. Im August 2020 wurde Mediazona zum Preisträger des Free Media Awards der Zeit-Stiftung.

Im Juli 2020 wurde das Projekt „Mediazona Belarus“ gestartet - es bietet Nachrichten zu aktuellen Ereignissen in Belarus, berichtet über individuelle Schicksale politisch Verfolgter und Opfer von Polizeigewalt, sammelt und wertet Informationen in Dossiers aus, u.a. zur Verfolgung von Journalisten in Belarus.

Warum vertrauen wir einer anonymen Quelle?

Eines der Dokumente aus den zur Verfügung gestellten Unterlagen, war "Mediazona“ bereits bekannt. Es ist eine Tabelle über Verletzungen durch Einsatzmittel der Polizei:  Blendgranaten, Gummigeschosse und Tränengas. Diese Tabelle haben wir zuvor aus einer anderen anonymen Quelle erhalten.

In den Unterlagen sind unter anderem Namen von medizinischen Einrichtungen vermerkt, in welche die Verletzten eingeliefert wurden. Wir legten diese Informationen unseren Quellen im städtischen Krankenhaus Nr. 10 und im städtischen Klinikum für Notfallmedizin vor. Die gesamte Liste der Betroffenen stimmte mit der Patientenliste des Klinikums für Notfallmedizin überein; im Krankenhaus Nr. 10 wurde uns gesagt, dass zwei Personen aus der Liste sich nicht an sie gewandt hätten.

Viele schwerwiegende Fälle, bei denen Augenverletzungen, Amputationen, Koma oder der Tod eines Demonstranten oder einer Demonstrantin aufgetreten sind, wurden bereits zuvor von Journalist*innen beschrieben. Die Beschreibung dieser Fälle stimmte mit den Angaben überein, die in den Tabellen aus unseren Unterlagen vermerkt sind.  

Die Daten über Gewaltopfer in der Haftanstalt von Okrestina haben wir mit den Informationen zu Verhafteten vom Menschenrechtszentrum „Wjasna“ abgeglichen. 

Darüberhinaus hat "Mediazona" die Unterlagen einer weiteren Quelle in einer der zentralen Abteilungen des Ermittlungskomitees vorgelegt. Die zweite Quelle hat die Authentizität der vorliegenden Tabellen und Unterlagen bestätigt.

Wie kommt das Ermittlungskomitee an Daten über die Zahl und Art der Verletzungen?

Die Gesamtzahl der Opfer von Polizeigewalt im Verlauf der Protestaktionen kann nicht genau bestimmt werden. Die Daten, die uns zur Verfügung stehen, betreffen nur die Situation in Minsk und in der Haftanstalt von Schodino, obwohl die Gewalt auch in anderen Städten von Belarus ausgeübt wurde. Darüber hinaus werden dem Ermittlungskomitee nur die Fälle bekannt, in denen die Protestierenden entweder ins Krankenhaus eingeliefert wurden oder sich selbst an die Rettungsstellen gewandt haben, oder aber, sie haben sich entschieden eine Anzeige gegen Polizei- und Sicherheitskräfte zu stellen.

Eine unserer Quellen im städtischen Krankenhaus Nr. 10, wo verletzte Protestteilnehmer eingeliefert wurden, erklärte uns, dass die Ärzte alle solche Fälle der Polizei melden - die Meldung erfolgt über die Registrierungsstellen der Krankenhäuser. Dieses Vorgehen wird auch von einem Mitarbeiter einer Rettungsstelle in Minsk bestätigt: „Wenn wir in den Unterlagen zum Rettungseinsatz solche Diagnosen wie „geschlossene Schädel-Hirn-Verletzung, Verstauchungen, Knochenbrüche usw. vermerken, dann müssen wir da auch die Ursache für die Verletzung nennen. Wir vermerkten überall „kriminell“ und fügten hinzu, dass nach Aussage von Patienten die Verletzungen ihnen von Mitarbeitern der Polizei, der Bereitschaftspolizei (OMON) oder von Verkehrspolizisten zugefügt wurden.  Nach Angaben unseres Gesprächspartners werden solche Informationen automatisch an die Polizei übermittelt, woraufhin die Ärzte vorgeladen werden um eine Aussage zu machen.

Andere Protestteilnehmer haben möglicherweise Verletzungen erlitten, die keiner Behandlung bedurften, oder sie haben sich an medizinische Freiwillige gewandt [Ärzte und anderes medizinisches Personal, das sich außerhalb des Dienstes bei den Protesten vor Ort erste und andere medizinische Hilfe leistet - Anm. d.Ü.] und haben keine Anzeige beim Ermittlungskomitee erstattet. Es sind Fälle bekannt, bei denen eine Anzeige gegen die Sicherheitskräfte zu einem Strafverfahren gegen die Opfer der Gewalt selbst geführt hat; das motiviert die Menschen dazu unterzutauchen, ins Ausland auszureisen und keine Sicherheitsbehörde zu kontaktieren.

Wie haben wir die Verletzungen analysiert?

In den Unterlagen aus dem Ermittlungskomitee werden medizinische Diagnosen aufgelistet, die den [verletzten] Protestteilnehmer*innen ausgestellt wurden. Aus den meisten Diagnosen geht eindeutig hervor, welcher Teil des Körpers verletzt wurde. Wir visualisierten diese Verletzungen auf der Silhouette eines jeden der 1.376 Opfer der Gewalt.

Wir unterteilten die Verletzungen in leichte (1), mittlere (2) und schwere (3). Wenn kein Körperteil verletzt war, haben wir bei der visuellen Darstellung den Wert „0“ angegeben. Darüber hinaus analysierten wir die Verletzungen nach ihrer Ursache: Schlagstöcke, Gummigeschosse, Blendgranaten oder [Tränen-]Gas [bzw. Pfefferspray].

Als leichte Verletzungen wurden Hämatome, Prellungen und leichte Verbrennungen eingestuft; zu den mittelschweren Verletzungen gehörten Risswunden, Schädel-Hirn-Verletzungen und kombinierte Verletzungen; zu den schweren Verletzungen zählten wir Schusswunden mit einem Durchschuss, Verletzungen der inneren Organe, Frakturen und Amputationen.

Die Polizei nahm gezielt lebenswichtige Organe ins Visier

Junge Männer haben bei den Demonstrationen die meisten Verletzungen davon getragen. Das Durchschnittsalter der Verwundeten beträgt 31 Jahre. Die schwersten Verletzungen wurden durch Einsatzmittel der Polizei verursacht: Gummigeschosse und Blendgranaten.

Analysiert man die Wunden durch Gummigeschosse (davon 40 Fälle), so wird deutlich, dass die Polizeikräfte im Einsatz gegen Demonstrant*innen auf Kopf, Brust und Bauch zielten; solche Schüsse verursachten die schwersten Verletzungen. So war es auch ein Schuss direkt in die Brust, der am 10. August zum Tod des 34-jährigen Alexander Taraikowskij führte, der mit erhobenen Händen auf eine Kette aus Einsatzkräften des Antiterror-Kommandos „Alpha“ [Spezialeinheit des belarussischen KGB] in der Nähe der U-Bahnstation „Puschkinskaja“ zuging.

Einem weiteren Protestteilnehmer, einem 37-jährigen Mann, hat ein Schuss den Brustkorb rechts durchbrochen und beschädigte seine Lunge: Die Ärzt*innen diagnostizierten bei ihm einen „offenen Pneumothorax“ [Verletzung des Brustkorbs mit Lufteintritt durch die Brustwand]. Er lag drei Tage lang im Koma. Einem 24-jährigen Demonstranten wurde in den Unterleib geschossen, was zu einer Verletzung des Dünndarms führte.

Bei einem Kopftreffer verursachen Gummigeschosse Hirnverletzungen und Gesichtsknochenfrakturen. So wurde zum Beispiel ein 40-jähriger Demonstrant nach einem Beschuss ins Krankenhaus gebracht und bei ihm wurden ein „geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung, mehrere Schusswunden im Bereich des rechten Unterkiefers" diagnostiziert. Außerdem erlitt er Schäden am Brustkorb, Bauch und dem linkem Oberschenkel. Einem 29-jährigen hat ein Gummigeschoss die Kieferhöhle durchbrochen, die Nase gebrochen und eine Verschiebung von Knochenfragmenten verursacht. Einem weiteren Opfer wurde ins Auge geschossen: Er hatte eine schwere Kopfprellung erlitten.

Blendgranaten verstümmeln Demonstrant*innen

Blendgranaten, die in den ersten Tagen der Proteste massenhaft eingesetzt wurden, explodierten bei einem Treffer in der Menge auf Höhe der Oberschenkel und darunter, aber sie hinterließen Risswunden vom Schrapnell am ganzen Körper und die Druckwelle der Explosion verursachte Kopfprellungen und Schädel-Hirn-Traumata. Solche Explosionen hinterließen nicht weniger schwere Verletzungen als Gummigeschosse.

Einem der Opfer, einem 30-jährigen Mann, wurde bei einer Explosion die Fußsohle des rechten Fußes abgerissen. Zwei weitere Demonstranten haben den Splitterbruch eines Fingers an ihrer linken Hand, einen Splitterbruch des linken Fußes und des Wadenbeins mit ausgerenkten Fragmenten erlitten. Bei einem 33-jährigen Mann wurde nach der Explosion durch eine Granate eine transversale Lendenwirbelfraktur diagnostiziert.

Einen der Verletzten traf die Schrapnelle in die Brust, was zu einem Pneumothorax (Brustverletzung mit einer Beeinträchtigung der Lunge, Anm. d. Ü.) führte. 

Die meisten Opfer polizeilicher Einsatzmittel wurden wegen der Schwere ihrer Verletzungen von der Straße direkt ins Krankenhaus eingeliefert, ohne den Umweg über Polizeidienststellen und Haftanstalten. Die Schwerverletzten wurden ins Militärkrankenhaus gebracht, die weniger schwer Verletzten wurden in städtische Krankenhäuser und in das Klinikum für Notfallmedizin gebracht.  

"Wir stießen auf eine Kombination von Verletzungen. Es handelt sich immer um ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma kombiniert mit weiteren Verletzungen: Rippenbrüche, Knochenbrüche der oberen und unteren Gliedmaßen oder Frakturen einzelner Teile von Gliedmaßen. Hämatome, Blutergüsse, Schürfwunden haben wir nicht mehr kodiert, wir haben nur beschrieben wo sie vorhanden sind" - das erzählte „Mediazona“ einem Gesprächspartner aus einer der Einrichtungen für Notfallrettung. 

Die meisten Menschen wurden nach ihrer Festnahme verprügelt, nicht bei Konfrontationen auf der Straße

Mehr als die Hälfte der Opfer wurden in Gefangenentransportern, auf Polizeidienststellen und in Haftanstalten von Okrestina und in Schodina verletzt - also in Situationen, in denen sie keinen Widerstand leisteten und keine Bedrohung für Polizei- und Sicherheitskräfte darstellten. Viele der Verletzten wurden mehrfach zu Opfern von Gewalt: während ihrer Festnahme auf der Straße, dann im Gefangenentransportern oder auf Polizeidienststellen, dann in der Haftanstalt. In einigen Fällen dauerten die Folterungen mehrere Tage lang.

Die Inhaftierten wurden gezielt auf den Kopf und Gesäß geschlagen

Nach dem die Festgenommenen in der Haftanstalt von Okrestina und in Polizeidienststellen geschlagen wurden, wurden die Personen mit Schädel-Hirn-Traumata und Hämatomen am Rücken, unterem Rücken, Schulterblatt, Gesäß und Hüften entlassen. Fast 200 Menschen erlitten Schädel-Hirn-Verletzungen und Gehirnerschütterungen. Die Gefangenen wurden höchstwahrscheinlich mit den Gesichtern nach Unten auf den Boden gelegt oder an die Wand gestellt, und wurden dann mit Schlagstöcken geschlagen. Am 11. Oktober veröffentlichte der Telegramm-Kanal „NEXTA“ ein Video, in dem die Gefangenen in der Haftanstalt von Okrestina durch die Reihen von Polizei- und Sicherheitskräften gejagt wurden, die sie kontinuierlich schlugen.

Mehr als 25 Menschen wurden, nachdem sie auf Polizeiwachen und in Haftanstalten verprügelt wurden, mit Knochenbrüchen und schweren Verletzungen in die Krankenhäuser eingeliefert. Ein 21-jähriger Mann wurde so schwer geschlagen, dass er einen Bruch der linken Hauptbronchie erlitten hat und es zu einer Luftansammlung im Mittelfellraum kam. Einem anderen gleichaltrigen Mann wurden zwei Rippen gebrochen; außerdem war praktisch sein ganzer Körper von Hämatomen übersät, er hatte Prellungen an Brust, Rücken, Hüften, Knien, Schultern und seinem linken Arm.

Verletzungen durch sexualisierte Gewalt

Drei Gefangene haben in der Haftanstalt von Okrestina oder in einem Gefangenentransporter auf dem Weg dorthin, Verletzungen erlitten, die auf sexualisierte Gewalt schließen lassen. Ein 31-jähriger Mann wurde mit intramuskulären Blutungen des Enddarms ins Krankenhaus eingeliefert, ein 29-jähriger mit einer Analflissur und Blutungen. Das dritte Opfer war ein 17-jähriger Jugendlicher, bei dem neben anderen Verletzungen auch eine Schädigung der Schleimhaut des Enddarms diagnostiziert wurde.

Zu einem schlagartigen Anstieg der Gewalt kam es am 10. August auf der Straße; danach wurden Protestierende meist in Haftanstalten und auf Polizeiwachen verprügelt

Die brutalste Auflösung einer Demonstration haben die Polizei- und Sicherheitskräfte am 10. August durchgeführt: bei Straßenprotesten, die Gewalt auf Polizeiwachen und in Haftanstalten nicht mitgerechnet, wurden mindestens 291 Menschen verletzt. Am selben Tag fanden Massenverhaftungen statt, mehr als 3.000 Personen wurden festgenommen und in die Polizeidienststellen gebracht.  Nach dem 10. August haben die Gesetzeshüter Gewalt vor allem an denjenigen ausgeübt, die bereits festgenommen waren oder unter Arrest standen: Die Markierungen[1] auf der Polizeidienststelle und der Haftanstalt in der Okrestina-Straße  sowie auf anderen Polizeidienststellen von Minsk sind sehr gut auf der Karte sichtbar.

Die nächsten Zusammenstöße mit den Polizei- und Sicherheitskräften ereigneten sich am 13. September während einer Demonstration im Wohnviertel Drozdy, in dem viele Regierungsbeamte wohnen: Zum ersten Mal seit einem Monat wurden mehr als zwei Dutzend Fälle von Gewalt registriert. Mit diesem Datum endet auch der Datensatz von den uns verfügbaren Informationen.

Die Gewalt der Polizei- und Sicherheitskräfte traf alle ohne Unterschied: Frauen und Jugendliche sind unter den Opfern der Polizeigewalt.

Die Gewalt von Polizei- und Sicherheitskräften trat massenhaft auf und wurde wahllos ausgeübt: sie versuchten nicht eine bestimmte Gruppe zu treffen, die eine Bedrohung dargestellt hätte, sie schlugen wahllos auf alle ein. Der Prozentsatz von Personen unter Alkoholeinfluss unter den Verletzten, ist entgegen den [staatlichen] Propagandaberichten unbedeutend gering, weniger als 2 Prozent. In den Daten [der hier vorliegenden internen Polizeistatistik] wird kein einziger Fall von einer Person unter Drogeneinfluss erwähnt.  

Unter den Opfern der Polizeigewalt sind 24 minderjährige Personen. Ihnen gegenüber wurde die Gewalt mit gleicher Wucht ausgeübt, wie gegenüber den Erwachsenen: Unter den Verletzungen, die Jugendliche erlitten haben, sind Gehirnerschütterungen, Prellungen und Hämatome. Der 17-jährige Timur M. wurde so stark geschlagen, dass er in ein medikamentöses Koma versetzt werden musste.

Unter den Opfern der Polizeigewalt sind 57 Frauen. Die älteste von ihnen ist 72 Jahre alt: Am 12. August wurde sie in der Nähe der Haftanstalt in der Wolodarskaja-Straße von Polizeikräften geschlagen, ihre Hand wurde dabei gebrochen. Auch die Frauen wurden nach ihrer Inhaftierung gefoltert; aus der Schwere ihrer Verletzungen ist ersichtlich, dass sie nicht geschont wurden und sie der Gewalt genauso stark ausgesetzt waren wie die Männer. Dabei kann man auch nicht sagen, dass Frauen weniger häufig festgenommen wurden: In den ersten Tagen der Proteste haben sich Frauen einfach weniger beteiligt, Frauenmärsche und Solidaritätsketten begannen erst nach den ersten Massenverhaftungen.

Bisher ist kein einziges Strafverfahren bekannt, das gegen Polizei- und Sicherheitskräfte eingeleitet worden wäre. Die Minsker Staatsanwaltschaft weigert sich mitzuteilen, ob die Folterfälle in der Haftanstalt von Okrestina untersucht werden: Informationen darüber wurden als „Dienstinterne Information“ bezeichnet [und daher nicht für die Öffentlichkeit bestimmt].

Am 11. Oktober haben die Polizei- und Sicherheitskräfte erneut damit begonnen Protestteilnehmer gewaltsam festzunehmen und gewaltsam gegen Demonstranten vorzugehen, während der stellvertretende Innenminister erklärte, die Polizei sei auch dazu bereit direkte Waffengewalt einzusetzen.

 

Autor*innen: Maksim Litavrin, David Frenkel, Jegor Skoworoda und Anastasia Boiko. Übersetzt aus dem Russischen mit freundlicher Genehmigung von Mediazona.by für „Stimmen aus Belarus“ und die Heinrich-Böll-Stiftung von Wanja Müller


[1] Die Auswertung von „Mediazona, die auf ihrer Webseite präsentiert ist, wird begleitet von detaillierten interaktiven Visualisierungen und Übersichten zu Orten der Gewalt und Art von erlittenen Verletzungen. An dieser Stelle wird auf eine interaktive Karte verwiesen, auf der von August bis September 2020 Tag für Tag die Orte der Polizeigewalt aller (in den Unterlagen des Ermittlungskomitees) dokumentierten Fälle auf dem Stadtplan von Minsk verzeichnet werden.