Professor Josef Settele spaziert im Wald

„Wenn ich keine Ersatzteile mehr habe, dann ist es eben vorbei“

Professor Josef Settele hat im Jahr 2019 im Auftrag des Weltbiodiversitätsrates als Co-Chair mit zwei Kolleg/innen einen bahnbrechenden Bericht über den Zustand der Ökosysteme und der biologischen Vielfalt vorgelegt. Im Interview erzählt er, warum wir uns ernsthaft Sorgen machen müssen – und welche Chancen wir noch haben, das große Artensterben zu verhindern.

Barbara Unmüßig: Herr Settele, bevor wir zu Ihrem großen Bericht über den Zustand unserer Ökosysteme und der Artenvielfalt kommen:  Sie sind vor allem Schmetterlingsforscher. Wann haben Sie diese Leidenschaft entdeckt?

Josef Settele: Schmetterlinge waren von Kindheit an mein Hobby. Ich habe in den 60er Jahren angefangen, sie zu sammeln, da war ich sechs Jahre alt. Im Allgäu, wo ich herkomme, war sonst nicht viel los. Nach der Schule konnte man ein bisschen rausgehen in die Natur und mit dem Kescher Schmetterlinge fangen. Ich war übrigens ein miserabler Schüler… Die Falter waren da interessanter.

Wann haben Sie gemerkt, dass sie bedroht sind? Dass Falter und Landwirtschaft sich nicht so gut vertragen?

Auch ziemlich früh. Das Allgäu ist ja ein Superbeispiel für eine intensivierte Landnutzung. Die Straßenränder oder Böschungen wurden damals zum Teil ja noch abgebrannt. Meine Mutter sagte immer: ‚Da gehen die ganzen Insekten kaputt!’ Später, in meinem Agrarbiologiestudium in Stuttgart-Hohenheim, habe ich mich intensiv mit dem Verhältnis von Landwirtschaft und Biologie auseinandergesetzt, Pflanzenschutz war mein Schwerpunkt. Meine Fragen waren damals schon: Wie ändert sich die Fauna durch die Landnutzung? Wie wirken sich Pestizide aus? 

Und – wie geht es den Schmetterlingen heute in Deutschland?

Wir haben bei Tagfaltern genauso wie bei vielen anderen Tieren und Pflanzengruppen negative Trends. Es gibt ein paar bekannte Arten, die weit verbreitet und auch nicht gefährdet sind, zum Beispiel das Tagpfauenauge und den Zitronenfalter. Es gibt aber auch viele, meist eher spezialisierte Arten, die stark zurückgegangen sind. Wir haben gerade einen Tagfalter-Atlas publiziert, in dem wir das alles zusammengetragen haben.

Wenn Sie vergleichen: Wie viele Tagfalterarten gab es in den 60er Jahren in Deutschland und wie viele gibt es heute?

Wir haben immer noch annähernd dieselbe Zahl von Arten wie in den 60er Jahren, also etwa 180.  Drei oder vier sind auf der Fläche Deutschlands wirklich ausgestorben. Das Problem ist: Die große Masse – bei mehr als der Hälfte der Arten – ist mehr oder weniger deutlich zurückgegangen, weshalb so viele auch auf der Roten Liste stehen. Einige werden vermutlich sehr bald in den meisten Gebieten Deutschlands nicht mehr nachweisbar sein.

Ist da eine Art dabei, die jeder kennt? Das allgegenwärtige Pfauenauge ist es ja offenbar nicht.

Nein. Das Pfauenauge ist eher ein Indikator für die Stickstoffüberdüngung der Landschaft, ist also eher ein negativer Indikator. Die Arten, die die Leute kennen, sind meistens nicht die seltenen. Einer dieser seltenen heißt Maivogel, ein schöner Name. Er kommt in größeren Beständen jetzt nur noch zwischen Leipzig und Halle vor.

Es gibt nur noch eine größere Population?

Genau. Die Raupen der Art leben auf Eschen und zwar nur in Beständen, die Teil eines lichten Waldes sind. Mittelfristig ist nun ist auch diese Population bedroht, nämlich dann, wenn die Eschen dem Eschensterben zum Opfer fallen oder wenn sie zu einem dichteren Wald durchwachsen. Der Kleine Fuchs ist auch seltener geworden, er hat Probleme mit dem Klimawandel. Als erwachsenes Tier überwintert er, man kennt das vor allem vom Land, wenn auf dem Dachboden im Frühjahr die Falter am Fenster im Spinnennetz hängen. Wenn im Winter die Temperatur zu häufig zu hoch ist, wacht er zu früh auf und findet keine Nahrung. Er verhungert.

Der oben bereits erwähnte Bericht benennt die Dimensionen des Verlustes an Biodiversität und Ökosystemen bemerkenswert klar und deutlich. Warum müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen? 

In den nächsten Jahrzehnten sind global etwa eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht – wenn wir nicht gegensteuern. Bei Pflanzen und höheren Tieren ist etwa ein Viertel der Arten in Gefahr, also eine halbe Million der etwa zwei Millionen Arten; unser Kenntnisstand ist hier sehr gut. Bei den Insekten waren wir sehr konservativ, wir wollten nicht als alarmistisch gelten. Wir haben wohl insgesamt fünf bis sechs Millionen Insektenarten weltweit; einige sagen drei, andere sagen 15 Millionen. Wir schätzen, dass mindestens zehn Prozent der Insekten mittelfristig bedroht sind. Das ist die zweite halbe Million bedrohter Arten.

Sie haben sich auch mit dem Zustand von Ökosystemen beschäftigt und gefragt, was sie für Mensch und Natur noch leisten können. Was haben Sie herausgefunden?

Dass sie und damit ihre Leistungen ebenfalls bedroht sind. Ökosysteme stellen ja zum Beispiel Lebensräume für Tiere und Pflanzen bereit. Deren Vielfalt geht stark zurück – wie zum Beispiel die oben genannten lichten Eschenwälder – und damit die Arten, die auf sie spezialisiert sind – also in diesem Fall der Maivogel. Eine weitere Ökosystemleistung ist die Bestäubung oder die Ausbreitung von Samen, und auch diese Leistung nimmt durch den Verlust der „Agenten“ – also der Bestäuber - stark ab. Dann tragen Ökosysteme ja auch etwas zu der kulturellen Identität von Menschen bei – dazu gehört die Heimatverbundenheit. Das Volksbegehren „Artenvielfalt und Naturschönheit in Bayern“, bekannt geworden unter dem Motto „Rettet die Bienen“, hat auch aufgrund ihres Heimatbezugs viele Menschen mitgenommen. 

Wie können wir die Leistungen der Ökosysteme erhalten?

Zunächst natürlich, in dem wir sie schützen – und zwar die natürlichen wie die anthropogenen, also durch den Menschen geschaffenen und genutzten. Bei uns in Mitteleuropa handelt es sich fast ausschließlich um genutzte Systeme – was sehr offensichtlich wird, wenn man bedenkt, wo wir zum Beispiel eine große Insektenvielfalt haben: in extensiv genutztem Grünland, also Wiesen und Weiden. Die Nutzung ist hier Teil des Systems und Basis für dessen Erhalt. Umgekehrt ist die Biodiversität wiederum Grundvoraussetzung für den Erhalt von Leistungen, entsprechend der Idee einer Versicherung, uns Optionen für die Zukunft offenzuhalten. Beim Wald und der Waldnutzung stellt sich zum Beispiel längst die Frage: Welche Baumarten pflanze ich bei zunehmender Trockenheit? Klar ist schon, dass die Fichte nicht ganz so das Optimale ist. 

Josef Settele

Sie sprechen ausdrücklich von Ökosystemleistungen, andere von Ökosystemdienstleistungen. Ich sehe einen derart ökonomisierten Naturbegriff sehr kritisch. Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass wir da einen Unterschied machen?

Die Antwort haben Sie in Ihrer Frage schon gegeben. ‚Dienstleistung’ ist sehr ökonomisiert. Kulturelle Leistungen wie Schönheit, Erholung, Spiritualität sind monetär nicht oder allenfalls sehr schlecht messbar. Es gibt auch bei uns noch viele Kollegen, die den Begriff verwenden. Meine erste Korrektur, wenn ich einen Text bekomme, ist: ‚Dienst‘ streichen, das ist dann schon mal viel besser.  

In der Biodiversitätsdebatte sind Begriffe sehr wichtig, denn sie sind ja auch der Ausgangspunkt für Strategien. Wer Natur ausschließlich als ‚Senke‘ und als CO2-Absorbiermaschine betrachtet, der hat ein anderes Verständnis von Natur, als wir beide es wahrscheinlich haben. Von daher muss man sehr scharf gucken: Wer verwendet wann welche Begriffe? 

Das war ein spannendes Thema auch im Kontext unseres Biodiversitätsberichtes. Wir haben lange diskutiert, ob wir den Verlust und den Erhalt von Biodiversität nicht doch vor allem in ökonomischen und in Geldwerten ausdrücken. In Weltmarktpreisen ausgedrückt, schafft die Bestäubung einen Wert zwischen 250 und 600 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist eine der wenigen Zahlen dieser Art, die Sie in unserem Bericht finden werden. Viele der sonst diskutierten Zahlen sind auch aus Sicht vieler Ökonomen in unserem Team umstritten und unterstellen außerdem, dass man den Wert von Ökosystemen tatsächlich monetär quantifizieren könnte. 

Ihr Bericht ist deshalb so stark, weil er zum ersten Mal deutliche Antworten gibt auf die Frage, wer oder was die Haupttreiber sind für den Verlust von Biodiversität. Können Sie die kurz skizzieren?

Für die vergangenen fünfzig Jahre haben wir die Veränderung in der Nutzung des Landes, des Wassers und der Meere als die Haupttreiber identifiziert – industrielle genauso wie aufgegebene Landwirtschaft ist hier ein zentrales Stichwort. Und dann folgt die direkte Ausbeutung, also zum Beispiel die Überfischung der Meere oder die Abholzung der Wälder weltweit. An dritter Stelle steht der Klimawandel. Danach kommen die Verschmutzung der Umwelt mit Chemikalien und Plastik sowie schließlich die Wirkung invasiver Arten. Aber all diese direkten Treiber sind letztlich das Resultat der indirekten Treiber.

Und wer oder was sind die indirekten Treiber?

Die sehen wir in der Art, wie wir produzieren und konsumieren, also unsere Ökonomie, unser Sozialverhalten und unsere Wertvorstellungen. Hier müssen wir ansetzen, wenn wir grundsätzlich etwas korrigieren und ändern möchten.

Wo müssen wir „ansetzen“? 

Wir müssen die Wirtschaft Richtung Nachhaltigkeit entwickeln. Das beginnt bei der Verkehrsinfrastruktur, der Verkehrsentwicklung, dem Flugverkehr. Dann sollten wir die gesamte wirtschaftliche Vorgehensweise verändern. Wenn wir mehr regional produzieren und mehr im Sinne von Qualität statt Quantität, könnten wir auf der regionalen und der globalen Fläche sehr viel erreichen. Was aber tun wir? Wir holen das Soja aus Südamerika – das zerstört den Regenwald dort und hinterlässt uns den Stickstoff. Und dann geht das Fleisch noch woanders hin. Das ist eigentlich eine loose-loose-Situation, außer für die Menschen, die billiges Fleisch haben wollen. Ganz wichtig ist auch die Frage der Ungleichheit unter den Menschen, materiell wie ideell, regional genauso wie global. Sie führt dazu, dass es Bevölkerungswanderungen und Migration gibt, um lebensfeindliche Regionen zu verlassen. 

Was können die Antworten auf die direkten Treiber sein? 

Ganz weit vorne steht: Wir müssen die Landnutzung ändern. Eine Studie, die wir auch für Deutschland gerne zitieren, belegt, dass in der Landwirtschaft über die Hälfte der eingesetzten Insektizide eingespart werden können, bei fast demselben Ertrag. Das ist ein interessanter Sachverhalt, der zeigt, dass wir es uns eigentlich leisten könnten, uns weniger zu leisten. Die Studien dazu wurden in Frankreich auf nahezu 1000 landwirtschaftlichen Betrieben durchgeführt und im Fachjournal Nature Plants 2017 publiziert.

Die Menschen wissen mittlerweile ganz gut, wer das Bienen- und Insektensterben verursacht. Aber ich sehe nicht unbedingt eine Lobby, die die Biodiversität verteidigt. Hat sich da aus Ihrer Sicht etwas zum Positiven geändert? 

Die Lobby für beide Seiten finden Sie querbeet, in der Industrie und auch in der Landwirtschaft. Um ein Beispiel zu geben: Bei einem meiner Vorträge in Österreich vor tausend Landwirten war auch Michael Horsch dabei. Horsch ist ein großer Maschinenring, ein Maschinenhersteller aus Bayern. Er hat vor mir vorgetragen. Er hat mir komplett den Wind aus den Segeln genommen, weil er als Vertreter der Landmaschinen sagte: Was sie bislang machten, war alles falsch. Die Maschinen sind zu groß. Die Eingriffe sind viel zu massiv. Alle sind zu schwer. Sein Geschäftsmodell sei eigentlich nichts für die Zukunft. Damit hatte ich einen Kronzeugen aus einer völlig unerwarteten Ecke. Solche Leute brauchen wir. Ich sitze auch schon mal mit einem Pressesprecher der chemischen Industrie auf dem Podium, das ist eher ein neuer Trend, und nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig. Aber es zeigt, dass wir in neue Kreise vorstoßen. 

Sind Sie mit Ihrem Wissen auch gefragt, wenn Sie bei der chemischen Industrie eingeladen sind? Will die wissen, was passiert, wenn wir weiter massiv in Pestizide, in Dünger, in Fungizide investieren? Wenn unsere großen Chemiekonzerne in Deutschland Pestizide exportieren, die bei uns nicht mehr zugelassen oder schon verboten sind? 

Man kann es ansprechen. In der Thinktank-Atmosphäre sowieso. Da ist man sehr frei und kann sehr offen Sachen formulieren. Bei Meetings muss man schauen, wie der Kontext passt, aber man muss die Gelegenheit immer nutzen. Das gelingt eigentlich auch – und es ist ja nicht so, dass die Betroffenen sich des Sachverhalts nicht bewusst wären. 

Welche Erfahrungen haben Sie bisher gesammelt: Nützt Ihr Bericht, um Entscheidungsträger/innen in Politik und Wirtschaft zu beeinflussen?

Wir hatten sehr viel Resonanz in Europa, in einigen Ländern mehr als in anderen. Präsident Macron hat sich eine Stunde Zeit genommen, um mit uns zu diskutieren. Das fand ich ziemlich genial. In den USA gab es drei Einladungen in den Kongress, die meine Kolleg/innen aus den USA wahrgenommen hatten. Die erste lief desaströs mit üblichen republikanischen Polemiken. Die zweite und dritte Einladung war sehr gut, sehr konstruktiv – was nicht heißt, dass es Trump irgendwie beeinflussen würde. 

Hat Angela Merkel Sie auch schon einmal eingeladen?

Nein, Angela Merkel ist zurückhaltend. 

Blicken wir auf die EU: Solange Biodiversität kein Querschnittsthema ist für die Handelspolitik, für die gemeinsame Agrarpolitik, haben wir ein großes Problem. Im EU-Mercosur-Abkommen gibt es eine massive Absenkung der Zölle auf europäische Exporte von Pestiziden nach Lateinamerika. Das kann doch nicht der Weg sein. 

Das ist eine klassische Querschnittsaufgabe, natürlich. Wenn wir die Biodiversitäts-Strategie denken als integralen Bestandteil der Farm-to-Fork-Strategie, mit der die EU-Kommission den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Nahrungsmittelsystem ermöglichen will, sind wir ein gutes Stück weiter. Dann würden nachhaltige Landnutzung und der Schutz der Biodiversität gemeinsam angegangen. 

Zwei Hände berühren mit den Fingerspitzen ein Blüte

Die Corona-Pandemie hat eine Debatte um den Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Natur und Pandemien ausgelöst. Wird uns das dazu bringen, über das Verhältnis von Mensch und Natur neu nachzudenken? Oder werden wir uns damit begnügen, das Virus möglichst effektiv niederzuringen?

Ich glaube, wir erleben beide Reaktionen. Auf Seiten der AfD ist es klar eine Kampfansage gegen Viren, aber nicht im Sinne eines ökosystemaren Verständnisses wie bei Teilen der SPD und den Grünen. Bei der CDU scheint es mir gespalten: Es gibt eine interne Vorlage des Umweltministeriums, die zur Ressortabstimmung ans Landwirtschaftsministerium ging, bevor sie in den Umweltausschuss kommen sollte. Das Landwirtschaftsministerium hat wesentliche Umweltaspekte herausgestrichen und als Spekulation bezeichnet, die Kommentare dazu wurden über RiffReporter geleakt. Das zeigt mir, dass es da Kräfte gibt, die das einfach leugnen. Von daher bin ich nicht uneingeschränkt optimistisch. 

Die große Biodiversitäts-Vertragsstaatenkonferenz, die für dieses Jahr in China geplant war, ist verschoben worden – wahrscheinlich auf nächstes Jahr. Viele haben ja so einen Paris-Moment erwartet, also so eine Art ‚Erweckungserlebnis‘, das zeigt: ‚Biodiversität ist genauso wichtig wie Klima’. Und das sagt: Wir brauchen Abkommen. Wir brauchen konkrete Ziele. Wir brauchen klare Forderungen. Welche Hoffnungen hatten oder haben Sie?

Es ist aus meiner Sicht vor allem wichtig, dass sich in diesen Abkommen vieles wiederfindet, was wir im globalen Assessment des Biodiversitätsrates aufgeführt haben. Unser Bestäubungsbericht wurde von der Biodiversitätskonvention (CBD) eins zu eins übernommen, so wünsche ich mir das auch jetzt für den globalen Bericht. Das wäre dann deutlich verpflichtender.

Was wären für Sie die wichtigsten Verpflichtungen, auf die man sich einigen müsste? 

Wir brauchen eine grundlegende Transformation. Wir brauchen ein globales Finanz- und Wirtschaftssystem, das sich vom derzeitigen Paradigma des Wirtschaftswachstums abwendet. Wir müssen die Ungleichheiten verringern, übermäßigen Verbrauch zurückfahren, Abfälle reduzieren und externe Umweltauswirkungen wirtschaftlicher Aktivitäten einbeziehen – von der lokalen bis zur globalen Ebene. Letztlich brauchen wir auch eine Revision der üblichen Wirtschaftsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt, um diejenigen einzubeziehen, die ganzheitlichere und langfristigere Sichtweisen auf Wirtschaft und Lebensqualität haben.

Was macht Ihnen noch am meisten Hoffnung? Wo, denken Sie, verändert sich etwas, sowohl im Bewusstsein als auch im politischen Handeln?

In der persönlichen Auseinandersetzung und Begegnung mit ganz vielen Gruppen stoße ich eigentlich immer auf sehr viel Verständnis und Akzeptanz. Ich glaube, wir müssen auch als Wissenschaftler mehr und mehr mit den Menschen sprechen –  das wirkt ganz anders als Pressemitteilungen oder irgendwelche abstrakten Geschichten. Und wenn man diesen Menschen die persönliche Betroffenheit offenbart und auch den Hintergrund erläutert, wenn man ihnen zeigt, dass man nicht nur ein verrückter Typ ist, sondern seine Ideen aus vielen Quellen bezieht, die alle zusammenlaufen: dann erreichen wir einiges. 

Ich glaube, dass den Menschen auch bewusster wird, dass es ein ganzes Lebens-Netz ist, das uns trägt. Dass es auf jedes Teil ankommt, auf die großen wie die kleinen Arten. Und dass sie sehen: Auch größere Systeme können zusammenbrechen, wenn man dauernd nur entnimmt, ausbeutet, zerstört, irreversibel zerstört.

Ich glaube, wir werden ab und zu etwas verlieren, das wird immer so sein, war auch immer in der Evolution so. Aber das wurde dann wieder ersetzt. Wenn ich aber keine Ersatzteile mehr habe, dann ist es vorbei. Das klingt logisch, aber dieses Denken des Vernetzseins, von dem Sie sprechen, dieses Denken zu vermitteln, ist nicht ganz einfach. Klimathemen können klarer kommuniziert werden. Da kann man von 1,5 Grad oder 2 Grad sprechen, dann haben die Menschen eine Vorstellung. Ich kann nur sagen: Jede Art, die verschwindet, ist ein kleiner Tipping Point oder Kipppunkt. Viele Millionen Jahre von Investition, wenn man es ökonomisch denkt, viele Millionen Jahre von Evolution: Sie sind dann einfach unwiderruflich verlorengegangen.


Professor Josef Settele arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle/Saale und ist Mitglied des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (IDiv) Halle-Jena-Leipzig. Er ist promovierter Agrarwissenschaftler und Professor für Ökologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit dem Forschungsschwerpunkt Insektenkunde. Er war u.a. Koordinierender Leitautor (CLA) im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) und im Bestäubungs-Assessment des Weltbiodiversitätsrates (IPBES). Er ist Co-Chair des Globalen Assessments des IPBES und Leiter des Tagfalter-Monitoring Deutschland (TMD), dem einzigen deutschlandweiten Langzeitmonitoring für Insekten.

Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.


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