Menschen auf einem Aussichtspunkt, dahinter Smog

"Wir blicken realistischer auf China"

Trotz Trump – die US-Demokratie ist uns immer noch unendlich viel näher als Chinas totalitäres System, sagt der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer. Wenn Europa und die USA sich einig sind, können sie sehr viel erreichen, meint Julianne Smith, Beraterin des US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden.

Felix Lee: Herr Bütikofer, wird China als Gewinner dieser Corona-Krise hervorgehen?

Reinhard Bütikofer (RB): Die Führung in Peking versucht, diese Krise zu einer Stärkung der eigenen Position zu nutzen. Ihr kommt entgegen, dass Präsident Trumps USA in dieser Situation international keinerlei Führungsrolle spielen. Trotzdem rechne ich nicht damit. Mit Maskendiplomatie wollte Peking sich als guter Partner präsentieren. Doch Chinas Propaganda löst spürbare Gegenreaktionen aus. Eine junge Garde chinesischer Diplomaten zerstört mit aggressivem Verhalten Hoffnungen auf Partnerschaft mit China. Die Sorge steigt, dass China die Krise ökonomisch ausnutzen könnte. Wir sind in Europa zu Gegenwehr fähig und ergreifen auch praktische Schritte dazu.

Der Westen verzeichnet aber sehr viel mehr Virus-Opfer.

Porträt von Reinhard Bütikofer

RB: Es ist nicht zu leugnen, dass in Europa und den USA im Kampf gegen die Pandemie Fehler begangen wurden, die Leben kosten. Aber Vorsicht beim Zahlenvergleich. Sind Chinas Zahlen vertrauenswürdig? Dazu kommt: China trägt durch seine verheerende Politik beim Ausbruch von COVID-19 große Verantwortung. Anders als etwa Taiwan haben wir die Zeit, die wir hatten, nicht gut genug genutzt. Auch die notwendige Solidarität fehlte. Frankreich und Deutschland verhängten Anfang März Exportverbote bei Schutzmasken – eine Sünde wider den europäischen Geist. Zu Selbstlob haben wir gewiss keinen Anlass.

Frau Smith, wie wird Ihrer Einschätzung nach die Weltordnung nach dieser Krise aussehen?

Julianne Smith (JS): Eine eindeutige Prognose wage ich nicht, die Krise hält ja noch an. Ein Szenario könnte lauten, der Westen lernt aus seinen Fehlern und rückt wieder mehr zusammen. Wir kooperieren eng bei der Suche nach einem Impfstoff, der dann weltweit zur Verfügung gestellt wird. Wir würden damit ein starkes Zeichen setzen für Demokratie und globale Verantwortung. Ein sehr viel düsteres Szenario: Die Welt gerät in eine schwere Finanzkrise. Die Europäische Union bricht zusammen, weil sie sich nicht in der Lage sieht, ein Land wie Italien zu retten. Autokraten könnten gestärkt hervorgehen – auf Kosten der Freiheit. Unsere demokratischen Institutionen wären ernsthaft bedroht.

Anders noch als bei der Finanzkrise vor zehn Jahren scheinen die großen Volkswirtschaften bei dieser Krise nicht koordiniert vorzugehen.

Porträt von Julianne Smith

JS: Mit Trump ist in den USA ein Präsident im Amt, der keine globale Führungsrolle mehr wahrnimmt. Trump ist gar nicht auf die Idee gekommen, die G7- oder die G20-Staaten an einen Tisch zu bringen. Das mussten andere Nationen tun. Zudem haben die USA ihre europäischen Verbündeten düpiert, indem sie alle Flugverbindungen gekappt haben, ohne das vorher abgesprochen zu haben. Ob es dem Westen unter diesen Umständen gelingt, ein globales Vorgehen hinzubekommen, einschließlich der Zusammenarbeit mit China? Ich denke, es gibt durchaus eine Neigung in diese Richtung. Aber ob das unter dem derzeitigen Präsidenten stattfindet, wage ich zu bezweifeln.

RB: In der EU ist in den letzten anderthalb Jahren gegenüber China mehr Realismus eingekehrt. Gegen Dumping oder zum Schutz von kritischer Infrastruktur gehen wir gemeinsam vor. Die EU sieht China nicht mehr nur als Partner, sondern auch als systemischen Rivalen. Chinas Menschenrechtsverletzungen sind stärker im Fokus. Xi Jinpings China ist aggressiver und nationalistischer als das China Deng Xiaopings war. Was China-Kritik betrifft, sind sich Europa und die USA eigentlich nahe. Dass Präsident Trump keine Partner kennt, sondern Alleingänge liebt, macht es aber schwerer, China multilateral einzubinden.

Auch die USA scheint nicht viel von Solidarität zu halten. Für Frankreich vorgesehene Masken schnappten die USA auf einem chinesischen Flughafen weg – zum dreifachen Preis. Die chinesischen Medien amüsierten sich köstlich darüber.

JS: Ja, in den letzten dreieinhalb Jahren gab es erhebliche transatlantische Spannungen. Und die Chinesen und Russen haben diese Gelegenheit genutzt. Jedes Mal, wenn eine Gesellschaft von innen gespalten wird, oder wenn Verbündete sich streiten, ist es ein leichtes für einen Dritten zu sagen: Sie sind mit uns besser aufgehoben.

Gerade die Deutschen pflegen wirtschaftlich beste Beziehungen zu China. Die USA fordern Deutschland auf, sich zu entscheiden.

RB: Trotz der negativen Erfahrungen mit diesem US-Präsidenten – die US-Demokratie ist uns immer noch unendlich viel näher als Chinas totalitäres System. Ich weiß von keiner demokratischen Kraft in Deutschland, die das in Frage stellt. Das lässt aber für nüchterne Beziehungen mit China genug Platz.

Aber die deutsche Wirtschaft – für sie ist China einer der wichtigsten Märkte.

RB: Große Konzerne wie Siemens etwa haben so viele Eier in den chinesischen Korb gelegt, dass sie jetzt zu abhängig von diesem Markt sind. Die deutsche Geschäftswelt besteht aber auch aus vielen mittelständischen Unternehmen. Diese haben heute ein viel kritischeres Verhältnis zu China als noch vor wenigen Jahren. Ich erwarte eine gewisse Neuorientierung auf andere asiatische Wachstumsmärkte.

Frau Smith, war es nicht ein Fehler, dass die Europäer sich zu lange auf die USA verlassen haben?

JS: Europäer und Amerikaner sind sich uneins, seit sie vor 70 Jahren zusammengekommen sind. Es gab immer wieder Streit, etwa bei Handels- oder Sicherheitsfragen, beim Irak-Krieg. Das Verhältnis war schon immer nicht einfach. Doch sobald es eine handfeste Krise gibt, sind die ersten Länder, die Europäer oder Amerikaner jeweils anrufen, die auf der anderen Seite des Atlantiks. Europäer sind diejenigen, die mit den Amerikanern die meisten Werte teilen. Und so sehr sich Europäer über die Vereinigten Staaten beschweren – wir sind es, von denen ein Großteil ihres Wohlbefindens abhängt. Und seien wir mal ehrlich: Wenn sich Europa und die USA in globalen Fragen nicht einig werden, gibt es auch keine andere Kombination, die die Probleme lösen kann. China und Indien können sie nicht alleine lösen, Russland und China kriegen das auch nicht hin. Wenn Europa und die USA dagegen sich einig sind, können sie sehr viel erreichen.

Obamas «Schwenk nach Asien» – stellte das nicht eine Abwertung der transatlantischen Beziehungen dar?

RB: Wenn wir glaubten, die USA würden weiter so für Europas Sicherheit einstehen wie das früher der Fall war, wären wir blind. Dass der Fokus der USA sich zum Pazifik verlagert hat, spiegelt eine reale Kräfteverschiebung wider. Sich als Europäer über diesen Schwenk zu beschweren, war naiv. US-Außenministerin Hillary Clinton antwortete bei der Münchner Sicherheitskonferenz einmal genervt: «Dann machen Sie doch ihren eigenen Schwenk.» In der Tat. Einiges ist auch passiert: Die EU hat ihre eigene Konnektivitätsstrategie gegenüber Asien entwickelt, sucht dort neue Partnerschaften. Und ja, Europa muss stärker für seine eigene Sicherheit sorgen. Das stimmte schon, bevor Trump kam.

Irgendwann wird es wieder eine USA ohne Trump an der Spitze geben. Wie glauben Sie, wird die Beziehung der USA zu China dann sein?

JS: Unter Trump ist Washington zwar nach rechts gerückt. Die Kritik an China ist aber parteiübergreifend. Die Demokraten würden möglicherweise eine andere Sprache wählen und nicht von einer Entkopplung von China reden. Sie wünschen sich auch, dass die Regierung Trump offener für den Schutz der Menschenrechte eintritt. Europa muss sich aber im Klaren sein: An den Grundzügen der China-Politik der Trump-Regierung wird die USA festhalten. Auch ein neuer Präsident wird mit der chinesischen Führung über den ungleichen Handel streiten. Ein wesentlicher Unterschied wird sicherlich sein, dass die europäischen Verbündeten wieder stärker eingebunden sind.


Julianne «Julie» Smith ist eine politische Entscheidungsträgerin aus den USA. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Europa und die transatlantischen Beziehungen. Von 2014 bis 2018 war sie Direktorin des Transatlantic Security Program am Center for a New American Security (CNAS). Bevor sie zu CNAS kam, war sie in der Obama-Regierung stellvertretende nationale Sicherheitsberaterin des damaligen Vizepräsidenten Joe Biden.

Reinhard Bütikofer ist Europaabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen. Für seine Fraktion ist er Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten sowie im Ausschuss für internationalen Handel. Zuvor war er stellvertretender Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China und Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Er ist Mitglied im Vorstand der Atlantik-Brücke und Beisitzer im Vorstand der Deutschen Atlantischen Gesellschaft.

Felix Lee war von 2012 bis 2019 China-Korrespondent der taz in Peking. 2011 ist sein erstes Buch erschienen: «Der Gewinner der Krise – was der Westen von China lernen kann», 2014 sein zweites: «Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiao-ping. Eine Biographie» – beide erschienen im Rotbuch Verlag.

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