Brasilien: Bolsonaro auf Anti-China-Kurs

Analyse

Chinas Einfluss in Brasilien wächst rasant: Innerhalb weniger Jahre ist das asiatische Land zu einem wichtigen Handelspartner und Investor in Brasilien geworden. Die Regierung von Präsident Bolsonaro macht keinen Hehl aus ihrer Feindseligkeit gegenüber Peking. Doch Brasiliens Wirtschaft, vor allem das Agrobusiness, das Bolsonaro bei den Wahlen unterstützt hatte, ist von China abhängig.

Schachspiel Brasilien China

Bis vor kurzem spielte China in der brasilianischen Politik kaum eine Rolle. Unter der Regierung von Präsident Jair Bolsonaro hat sich das geändert. Im Wahlkampf 2018 beschwerte sich der Rechtspopulist über den wachsenden Einfluss Chinas: „China kauft Brasilien“, kritisierte er. So störten ihn etwa die massiven Investitionen im Stromsektor durch chinesische Konzerne: „Sollen wir unserem Strom bald von den Chinesen beziehen?“, schimpfte er.

Im ersten Regierungsjahr 2019 dagegen hielt sich Bolsonaro zurück. Er besuchte China und wurde von Staatspräsident Xi Jinping empfangen. Noch im April 2020 verkündete seine Regierung, bei seiner Ausschreibung für das 5G-Netz keine Restriktionen gegen den chinesischen Anbieter Huawei zu erlassen.

Doch diese Phase der Harmonie ist mit der Corona-Pandemie wieder vorbei: Erst wies Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro China die Schuld an der weltweiten Corona-Krise zu, dann beleidigte der mittlerweile zurückgetretene Bildungsminister das Land in einem rassistisch-infantil formulierten Post. Er unterstellte China, es würde von der Verbreitung des Virus profitieren und ersetze dabei den Buchstaben r durch ein L: BLazil statt Brazil.

Bei einer Kabinettssitzung der brasilianischen Regierung Ende April kamen die Animositäten gegenüber Peking klar zum Vorschein. Außenminister Ernesto Araújo kritisierte die Weltmacht China als undemokratisch und menschenrechtsverachtend. Als Gegengewicht solle Brasilien gemeinsam mit einer Hand voll anderer Länder „eine neue Weltordnung definieren“. Despektierliche Äußerungen gegenüber China wurden allerdings im Protokoll geschwärzt. Man müsse die Typen eben aushalten, weil sie so viel von Brasilien kaufen, erklärte Wirtschaftsminister Paulo Guedes.

Bolsonaros Anti-China-Kurs könnte Brasilien schaden

Unter brasilianischen Diplomat/innen wie Marcos Azambuja ist das Entsetzen groß. „Wir beleidigen China zu einem Zeitpunkt, in dem das Land für die Welt und für uns immer wichtiger wird“, so Azambuja gegenüber der Zeitung Valor Econômico. Beleidigungen sind für die Regierung Bolsonaro zwar nichts Ungewöhnliches, angesichts der Bedeutung Chinas für die brasilianische Wirtschaft, erstaunt dieser Umgang mit der asiatischen Weltmacht jedoch.

Seit den 2000er Jahren kauft China neben Öl und Erz auch immer mehr Agrarprodukte aus Brasilien, vor allem Soja, aber auch tierisches Protein. Heute ist das Land der mit Abstand größte Exportmarkt für Brasiliens Landwirtschaft und Lebensmittelkonzerne. Diese Bedeutung hat sich durch die Pandemie noch verstärkt, denn in der schweren Rezession sind die Lebensmittelexporte nach China eine der wenigen stabilen Einkommensquellen Brasiliens. In alle anderen großen Exportregionen haben die Ausfuhren abgenommen oder stagnieren.

Um Bolsonaro für die Beleidigungen und Anschuldigungen zu bestrafen, bräuchte Peking lediglich auf US-Agrarexporte zurückgreifen. So könnte der einseitig vom Zaun gebrochene Streit mit China Brasiliens wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise erheblich behindern.

Zwischen 2008 und 2018 investierte China 60 Milliarden Dollar

Brasilien ist einer der Staaten der Welt, in den China erst spät, aber dafür umso massiver zu investieren begonnen hat. Noch um die Jahrtausendwende war China in Südamerika kaum als Handelspartner, Investor oder politischer Akteur bekannt.

Brasilien ist nicht Teil von Chinas „Belt and Road Initiative“ (BRI) – ebenso wenig wie Mexiko, Argentinien und Kolumbien, die nächstgrößeren Ökonomien der Region. Erst seit Ende 2017 sieht China Lateinamerika als „natürliche Verlängerung der maritimen Seidenstraße“ und hat mit einigen Staaten Abkommen getroffen. Peking hat jedoch seine Strategie für Lateinamerika in zwei Grundsatzpapieren von 2008 und 2016 formuliert. Sie gleicht in Teilen der BRI.

Nachdem es sich um die Jahrtausendwende zunächst als Abnehmer von brasilianischen Agrarprodukten etabliert hatte, ging es China von 2005 bis 2010 vor allem darum, neben der Lebensmittelversorgung auch die Energiequellen zu sichern. Das geschah über Großkredite an das halbstaatliche brasilianische Mineralölunternehmen Petrobras gegen künftige Öllieferungen und durch Investitionen von chinesischen Agrar-Tradern.

Während des Wirtschaftsbooms in Brasilien von 2011 bis 2013 investierten chinesische Konzerne in erste lokale Maschinenbauer und Autohersteller. Von 2013 bis 2015 begannen die chinesischen Banken in São Paulo Niederlassungen zu gründen, die am Anfang vor allem den Handel mit China finanzierten, inzwischen aber auch die Investitionen begleiten.

Mit dem Vorwurf, China „kaufe Brasilien“, kritisiert Bolsonaro den massiven Anstieg chinesischer Investitionen in den vergangenen Jahren. Zwischen 2008 und 2018 lagen diese bei knapp 60 Milliarden Dollar. Damit rangierte Brasilien, als einziger Emerging Market, auf Platz fünf unter den zehn wichtigsten Investitionsstandorten für chinesische Unternehmen. Doch trotz der hohen Investitionen zählt China nach seinem Kapitalstock immer noch nicht zu dem Dutzend der größten Auslandsinvestoren in Brasilien. Die ersten Plätze belegten 2018 die Niederlande, USA und Deutschland.

Doch China zeigt ein gutes Timing: Die Konzerne begannen mit ihren Investitionen in Brasilien als dort der Staat und die privaten Unternehmer durch die Rezession und den Korruptionsskandal „Lava-Jato“ außer Gefecht gesetzt waren. Vielerorts in Lateinamerika übernahmen chinesische Konzerne die Aktiva des tief in die Korruption verwickelten brasilianischen Bau- und Chemiekonzerns Odebrecht. Die Hoffnung der Vorgängerregierungen von Luiz Inácio „Lula“ Da Silva und Dilma Rousseff, dass vor allem chinesische Hi-Tech-Konzerne in Brasilien investieren würden, wurde jedoch enttäuscht: Nur ein Prozent der Direktinvestitionen ist in Technologiekonzernen gelandet.

„Wenn du reich werden willst, baue eine Straße“

Aktuell folgt Chinas Investitionsstrategie in Brasilien dem chinesischen Sprichwort „Wenn du reich werden willst, baue eine Straße“. Staatskonzerne begannen also in die brasilianische Infrastruktur zu investieren: Häfen, Eisenbahnen, aber vor allem in der Strombranche langten sie zu. Alleine 2017 kauften sie für rund zehn Milliarden Dollar Stromkonzerne. State Grid ist heute der größte integrierte Stromkonzern Brasiliens, China Three Gorges der führende private Stromproduzent im Land.

2019 haben chinesische Staatskonzerne als einzige ausländische Unternehmen bei der Ausschreibung von neuen Ölfeldern mitgeboten. Zudem besitzen sie Anteile an Raffinerien, sowie an der Tankstellenkette Total. China wird damit in Kürze ein wichtiger Akteur im Up- und Downstream in Brasilien sein und die gesamte Versorgungskette vom Ölfeld über die Raffinerie bis zur Tankstelle kontrollieren.

China kann Brasilien gut einschätzen

Es besteht kein Zweifel, dass China versuchen wird, seine Präsenz in Brasilien auszuweiten und zu diversifizieren. Vor allem die Digitalisierung und Vernetzung der Investitionen sind nur eine Frage der Zeit. Denn wer Stromnetze, Straßen, Schienenwege, Häfen und möglicherweise bald 5G-Netze kontrolliert, hat einen gewaltigen Vorsprung als Investor bei der Umsetzung von Industrie 4.0. Es geht um Stichworte wie Big Data, Künstliche Intelligenz, autonomes Fahren.

Im chinesischen Konzeptpapier von 2016 steht, dass die institutionalisierte Zusammenarbeit mit Brasilien auf ministerieller Ebene wie auch in den Bundesstaaten ausgebaut werden soll. Etwa durch öffentlich-private Investitionsprojekte. Doch das dürfte derzeit auf föderaler Ebene schwerfallen, sollten die Ressentiments gegen China zunehmen. Von der Zusammenarbeit im erst 2017 mit 20 Milliarden Dollar eingerichteten China-Brasilien-Kooperationsfonds ist nichts mehr zu hören. Zwar sind Brasilien und China Gründungsmitglieder der New Development Bank der BRICS-Staaten. Doch auch dort verläuft die Koordination eher zäh. Die Bolsonaro-Regierung zeigt bisher wenig Interesse an der BRICS-Staatengemeinschaft.

Andererseits dürfte Brasilien nach der Pandemie dringend ausländische Investitionen benötigen, vor allem in der Infrastruktur. Es sei deswegen unwahrscheinlich, dass China als Investor umfassende Beschränkungen auferlegt werden, schreiben Pedro Veiga und Sandra Rios vom Forschungsinstitut Centro de Estudos de Integração e Desenvolvimento in einer neueren Analyse (China’s FDI in Brazil: recenttrendsandpolicydebate).

Zu Hilfe kommt, dass China Brasilien inzwischen gut einschätzen kann. Es hat in wenigen Jahren nicht nur an seinen Universitäten viel Wissen über Brasilien angesammelt. Nach nur einer Dekade treten chinesische Korrespondent/innen, Diplomat/innen, Unternehmer/innen und Banker/innen überaus sattelfest in Brasilien auf. Sie sind bestens vernetzt, sprechen perfekt Portugiesisch und kennen sich in Details über die brasilianische Politik aus. Umgekehrt gilt das nicht: Die Kenntnisse über China in Brasilien sind verschwindend gering angesichts der Tatsache, dass das Land Investor und der wichtigste Handelspartner geworden ist. Das gilt für die Meinungsführer in den Medien, der Politik und Wirtschaft genauso wie in der Bürokratie.

Vieles deutet darauf hin, dass Brasilien gegenüber China eine pragmatische, aber kurzfristige ad-hoc-Tagespolitik fahren wird. Diese wird von ökonomischen Bedürfnissen gesteuert sein, nicht von einer Strategie. Das sei eine verpasste Chance, meinen einige. Brasilien sollte seine Stärke als wichtigster Lebensmittellieferant Pekings ausspielen, fordert etwa der brasilianische Ex-Diplomat Philip Yang. Brasilien habe mit China als Handelspartner eine einmalige Chance, seinen technologischen Rückstand durch einen Modernisierungsschub zu überwinden. Yang sieht es als kleineres Übel an, dass sich Brasilien damit vollends abhängig machen würde von der geopolitischen Großmacht aus Fernost.