Die niederländische Sicht auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020

Hintergrund

Die Bewältigung der Covid-19-Krise, die Bekämpfung des Klimawandels, die digitale Transformation und die zukünftigen Beziehungen zu Großbritannien. Es ist unmöglich, all diese Herausforderungen während einer sechsmonatigen Ratspräsidentschaft zu meistern. Aber Deutschland hat genug Einfluss, um erste entscheidende Weichen zu stellen.

Flagge der Niederlande an eienm Haus

Es liegt auf der Hand, dass die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft aufgrund der Covid-19-Krise vor enormen Herausforderungen steht. Ganz besonders wird dies deutlich, wenn man sich die kürzlich überarbeiteten (und weiterhin ehrgeizigen) Prioritäten Deutschlands anschaut: Zuallererst natürlich die Bewältigung der Covid-19-Krise; dann aber auch die Bekämpfung des Klimawandels; die digitale Transformation und die zukünftigen Beziehungen zu Großbritannien, die vor Ende des laufenden Jahres geregelt werden müssen. Es ist unmöglich, sämtliche Herausforderungen während einer sechsmonatigen Ratspräsidentschaft zu meistern. Aber Deutschland hat genug Einfluss, um erste entscheidende Weichen zu stellen.

Der deutsche Umgang mit Covid-19 verdient Lob. Deutschland hat es nicht nur geschafft, Covid-19 im eigenen Land erfolgreich einzudämmen; das Land war auch an vorderster Front bei der Aufnahme von Covid-19 Patient*innen aus zahlreichen anderen europäischen Ländern, als dort große Not herrschte. In düsteren Stunden, als die Niederlande in ein „schwarzes“ Szenario zu rutschen drohten, bei dem Ärztinnen und Ärzte gezwungen gewesen wären, Patient*innen aufgrund fehlender Intensivbetten abzuweisen, ist unser Nachbar Deutschland eingesprungen und hat Dutzende niederländischer Covid-19-Patient*innen aufgenommen. Ein bemerkenswerter Akt europäischer Solidarität, der unvergesslich bleiben wird.

Mehr Unabhängigkeit bei Produktion von Arzneimitteln

Deutschland ist daher hervorragend aufgestellt, um den Weg für EU-weite gesundheitsbezogene Vorschläge zu ebnen, z.B. medizinische Ausrüstung zu bevorraten und strategisch unabhängiger von Lieferketten zu werden (insbesondere in Bezug auf Arzneimittel). Da die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Infektionswelle hoch ist, muss schnell gehandelt werden. Finnland ist ein außergewöhnliches Beispiel für die Sicherstellung einer strategischen Reserve: Es hat sich herausgestellt, dass es das einzige EU-Land ohne extreme Engpässe bei der Bereitstellung von medizinischer Ausrüstung ist. Da es für kleine Länder äußerst schwierig ist, eine derart große Reserve an medizinischer Ausrüstung vorzuhalten, könnte Deutschland die Bildung von „Partnerschaften“ zwischen benachbarten Ländern fördern, die sich zusammentun und gemeinsam ausreichend medizinisches Gerät sicherstellen.

Zudem sprechen sich in den Niederlanden verschiedene politische Parteien, wie die GroenLinks, für eine größere strategische Autonomie von Lieferketten aus, um bei der Produktion lebenswichtiger Arzneimittel weniger abhängig zu sein von Ländern wie China und Indien. Hier sollte die EU Möglichkeiten ausloten, um langfristig unabhängiger zu werden. Dafür müssen der neue Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) und die Industriepolitik der EU angepasst werden, damit diese Vorschläge erfolgreich umgesetzt werden können. Das Ringen um den gesamten MFR ist noch lange nicht vorbei, aber Deutschland sollte wenigstens auf eine Einigung über diese strategische Ausrichtung drängen.

Covid-19 ist als Bewährungsprobe für die Demokratie

Covid-19 ist außerdem eine globale Bewährungsprobe für die Stärke der Demokratie, u.a. in den europäischen Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen. Insbesondere Ungarn hat besorgniserregende Maßnahmen ergriffen, die von der Regierung nach der Corona-Krise unter Umständen nicht wieder rückgängig gemacht werden. Deutschland gilt als glühender Verfechter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, gemeinsam mit Ländern wie den Niederlanden und Schweden. Obgleich es notwendig ist, auf wirksame Sanktionen zu drängen (z.B. die Vergabe von EU-Mitteln an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen), wären die Deutschen gut beraten, auch auf Verbündete innerhalb Ungarns und Polens, die sich für den Schutz der Demokratie einsetzen, zuzugehen. Es gibt genug Menschen, Organisationen und NGOs in Ungarn und Polen, die (mehr) Unterstützung der EU gebrauchen könnten. Frühere Versionen des MFR sahen bereits eine entsprechend größere Unterstützung für sie vor. Wir müssen sicherstellen, dass diese Unterstützung aufrechterhalten und gegebenenfalls aufgestockt wird; andernfalls bliebe der EU-Ansatz der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit unzureichend.

Wie weiter mit Großbritannien?

Ein weiteres dringliches Thema, das aufgrund der weltweiten Turbulenzen in Vergessenheit zu geraten droht, ist natürlich das zukünftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Es ist hilfreich, dass die Geschlossenheit der EU felsenfest ist; allerdings könnte Covid-19 zu unvorhersehbaren Verwerfungen führen. Aufgrund der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 wäre es durchaus denkbar, dass Westminster auf einen harten Brexit setzt. Es gibt allerdings nach wie vor genügend Anreize für Großbritannien, ein Abkommen mit der EU zu schließen: Covid-19 hat das Land hart getroffen. Nach anfänglichem Zögern hat sich Großbritannien (ironischerweise) einer EU-weiten gemeinsamen Ausschreibung für medizinische Versorgungsgüter angeschlossen.

Es gibt einen kleinen Lichtblick in diesem ganzen Brexit-Drama: Großbritannien nutzt den Brexit, um seine Außenpolitik neu auszurichten – wahrscheinlich mit dem Ziel, ein relevanterer Akteur auf der Weltbühne zu werden. Um dabei erfolgreich zu sein, benötigt das Land aber unbedingt Verbündete wie die EU. Sowohl für Großbritannien als auch für die EU ist das eine Chance, ihre gemeinsamen Interessen zu bekräftigen, beispielsweise den Kampf gegen den Klimawandel sowie die Stärkung und Verbesserung des Multilateralismus. Diese Interessen könnten die Eckpfeiler für eine neue gemeinsame außenpolitische Agenda werden: Verteidigung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit, Einsatz erneuerbarer Energien, Einstellung der Waldrodung, Bekämpfung von Dürren, nachhaltige Polarstrategien, eine neue Partnerschaft mit Afrika und eine selbstbewusstere Haltung gegenüber China.

China und die digitale Transformation

Eine selbstbewusstere Haltung gegenüber China wird sich auch in den Entscheidungen der EU im Bereich der digitalen Transformation widerspiegeln, die zurecht eine Priorität der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist. Jedoch dürfen geopolitische Aspekte bei dem (durchgesickerten) Bestreben der EU, 5G Frequenzen bis Ende 2020 einzuführen, nicht außer Acht gelassen werden. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass Huawei von vielen europäischen Ländern unter Vertrag genommen wird. In den Niederlanden bröckelt die Unterstützung für Huawei jedoch bereits zusehends. Hinzu kommt ein neuer Bericht der niederländischen Geheimdienste, der China als größte Bedrohung im Bereich Wirtschaftsspionage ausmacht. Das Risiko der ausschließlichen Beschaffung von 5G Ausrüstung über chinesische Unternehmen sollte noch einmal überdacht werden, da diese verpflichtet sind, sensible Informationen an die KPCh weiterzugeben. Die EU muss dieses Risiko erkennen und die Unterstützung und den Einsatz von europäischen digitalen Alternativen diskutieren. Dies ist besonders dringlich angesichts Chinas großflächiger Desinformationskampagne und Cyberangriffen während der Covid-19-Krise. Eine unabhängigere kritische Infrastruktur der EU muss von einer überarbeiteten Industriepolitik der EU begleitet und gestützt werden. Das würde die EU “geopolitischer” machen; ein Ziel, das die Kommission ohnehin anstrebt.