Zwei Sichtweisen gab es, als sich in den 1970er-Jahren meist jüngere Leute in Westdeutschland aufmachten, das bis dahin stabile Drei-Parteiensystem aus CDU/CSU, SPD und FDP aufzumischen. Es schien festgefügt. Bei der Bundestagswahl 1976 etwa entfielen auf Union, SPD und FDP – aus heutiger Sicht – sagenhafte 99 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Wer schon sollte dagegen angehen, was schon sollte da passieren? Die eine These lautete: Aus den Grünen werde nichts, weil nichts draus werden könne. Die Gegenposition: Abwarten. Die Skeptiker argumentierten so: Die neu entstandene Partei sei personell und organisatorisch zerstritten, habe kein Wertefundament, kein umfassendes Programm und keine genügend breite Basis in der Gesellschaft.
Doch war diese Betrachtung parteipolitisch interessengeleitet. Vor allem in der SPD – und dort auch auf dem linken Flügel – war sie verbreitet. Die Gegenposition negierte fast alles, dem medialen Tohuwabohu der Grünen Parteitage zum Trotz.
Begründung: Programmatisch befassten sich die Grünen mit allen relevanten Themen der Politik. Aus ihrem Widerstand gegen die Kernenergie und dem Vorrang der Ökologie wurden Vorstellungen zur Wirtschaftspolitik abgeleitet; das «Nein» zur Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen zog eine Programmatik zur Sicherheitspolitik nach sich.
Auch in der klassischen Innenpolitik waren die Grünen von Anfang an aufgestellt: sie und ihre Anhänger waren etwa vom Demonstrationsstrafrecht selbst betroffen. Ihre ablehnende Haltung zur Volkszählung wurde sogar vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Die damals verbreitete und auch heute noch hier und da zu hörende Betrachtung, die Grünen seien eine «Ein-Punkt-Partei», war von Anfang an falsch. Und: Die Grünen waren zwar keine sogenannte bürgerliche Partei. Doch eine Partei aus dem Bürgertum waren sie gleichwohl.
Bei Wahlen schnitt die neue Partei nicht nur in den Studentenvierteln der Großstädte, sondern auch in wohlhabenden Gegenden für ihre Verhältnisse überdurchschnittlich gut ab.
Aus vielen Quellen speiste sich die Mitgliedschaft Konservative Ökologen wie Herbert Gruhl, der aus der CDU ausgetreten war; linksradikale Überbleibsel der Studentenbewegung; Aktivistinnen der Frauenbewegung wie Eva Quistorp spielten eine maßgebliche Rolle; ehemalige Sozialdemokratinnen, zu denen auch Petra Kelly gehörte, traten den Grünen bei; Führungsleute der Friedensbewegung und Bürgerinitiativen wie Roland Vogt und auch linke Rechtsanwälte wie O)o Schily und Hans Christian Ströbele waren dabei.
Nach dem Bruch der sozialliberalen SPD/FDP-Koalition 1982 traten Linksliberale und jüngere FDP-Mitglieder – Claudia Roth etwa – den Grünen bei; die «Hausbesetzerszene», der Joschka Fischer entstammte, kam hinzu. Auch aus kirchlichen Organisationen und der Dritte-Welt-Bewegung gab es Zulauf – Michael Vesper etwa.
Ein Netzwerk war entstanden. Bis zum Zerreißen war es geknüpft. Es reichte von linksradikalen Sozialisten bis hin zu Vertreterinnen bürgerlicher Politik. Sogar eine Minderheit gab es, die – wie Winfried Kretschmann – bereits damals schwarz-grüne Bündnisse avisierten.
Die Folge war ein Aderlass. Gründungsmitglieder verließen die Partei: Gleich zu Beginn Herbert Gruhl. Die Grünen wurden zur Partei der nach dem Krieg Geborenen. Aus politischen und auch persönlichen Gründen wandte sich 1989 Otto Schily ab, einer der Wortführer der «Realos», obwohl diese gerade im Begriff waren, die Mehrheit in der Partei zu bekommen.
Es gingen auch Führungsleute der «Fundis», weil ihnen die Grünen zu angepasst waren: Radikalökologinnen wie Jutta Ditfurth, Ökosozialisten wie Rainer Trampert und Thomas Ebermann. Tatsächlich haben die Grünen wesentliche Veränderungen vorgenommen.
Die Bundestagsfraktion akzeptierte per Beschluss das staatliche Gewaltmonopol. Das «Raus aus der Nato» galt nicht mehr und die Westbindung der Bundesrepublik wurde gutgeheißen. Damit waren die Voraussetzungen für die Beteiligung der Grünen an einer Bundesregierung geschaffen.
Doch der Abschluss dieses Klärungsprozesses stand unter einem dunklen Stern. Der Zusammenbruch der DDR und die Vereinigung Deutschlands gingen an den Grünen vorbei. Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterten sie an der Fünf-Prozent-Klausel; nur die Besonderheit des Wahlrechts jener Wahl führte dazu, dass grüne Politik im Bundestag vertreten war: Acht Mitglieder der Listenvereinigung «Bündnis 90/ Grüne» aus der nun ehemaligen DDR.
Der Zusammenschluss war ein schwieriger Prozess, der mit der formalen Vereinigung 1993 zur gesamtdeutschen Partei «Bündnis 90/ Die Grünen» noch lange nicht beendet war. Unterschiedliche Politikmodelle stießen aufeinander: Parteiarbeiter und Bürgerbewegte.
Zwar waren Ostdeutsche fortan in der Führung der Partei vertreten, doch wie auch in den anderen Parteien gab es die westdeutsche Dominanz – bei den Grünen mit der Besonderheit, dass der Einfluss der Parteispitze gering war. Der «OberRealo» Joschka Fischer, der nie ein Parteiamt innehatte, wurde zum informellen Vorsitzenden und Fixpunkt der Grünen. Zwar gab es noch einen linken Flügel um Jürgen Trittin und Ludger Vollmer, doch es waren keine «Fundamentalisten».
Sie waren zum Mitregieren bereit. Von 1998 an bildeten Fischer und Trittin seitens der Grünen das Fundament der rot-grünen Bundesregierung. Sogar Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden akzeptiert. 2005 endete diese Epoche deutscher Zeitgeschichte.
Es vollzog sich ein Generations- und ein Politikwechsel. Die Protagonisten der rot-grünen Jahre schieden aus ihren Führungsämtern. Die Schwäche der SPD führte dazu, dass schwarz-grüne Koalitionsoptionen zunehmend akzeptiert wurden – zunächst in den Ländern, dann auch im Bund. 2013 scheiterte eine schwarz-grüne Zusammenarbeit noch an den Grünen.
2017 nicht mehr. Eine Änderung des Politikstils ging damit einher. Nicht mehr die in ideologischen Fundi-Realo-Auseinandersetzungen gestählte Generation prägt das Gesicht der Partei. Auf Renate Künast und Jürgen Trittin folgten Annalena Baerbock und Robert Habeck.
40 Jahre nach Gründung der «Anti-Parteien-Partei» (Petra Kelly) stehen sie sogar vor der Entscheidung, eine Kanzlerkandidatur anmelden zu müssen – und zu können. Einer aus den wilden Jahren ist an maßgeblicher Stelle verblieben. Winfried Kretschmann, Ministerpräsident einer grünschwarzen Koalition.
Günter Bannas ist Journalist und leitete viele Jahre das Hauptstadtbüro der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Sein Archiv aus zahlreichen Jahren der intensiven Beobachtung bündnisgrüner Politik hat er dem Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung übergeben.