Ein kritischer Punkt für die EU-GB Beziehungen: Die britische Perspektive auf die deutsche Ratspräsidentschaft

Hintergrund

Großbritannien ist in den finalen Zügen des Bexits und ist gleichzeitig besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss das Gesundheitswesen in ganz Europa sichern und währendessen eine Finanzkrise verhindern. Das kann eine Chance für eine nachhaltigere Wirtschaft sein.

Flag of Great Britain in London

Aus britischer Sicht beginnt die deutsche Ratspräsidentschaft zu einem wichtigen Zeitpunkt, nämlich einen Tag nach Ablauf der Frist, die Großbritannien zur Beantragung einer Verlängerung der Übergangsphase eingeräumt wurde. Diese Fristverlängerung wird Premierminister Johnson eigenen Angaben zufolge nicht beanspruchen trotz der schleppenden Austrittsverhandlungen und der Notwendigkeit, sämtliche Ressourcen der Regierung auf die globale Pandemie und den Schutz der öffentlichen Gesundheit zu fokussieren.

Ich begrüße die Tatsache, dass Deutschland genau zu diesem Zeitpunkt die Ratspräsidentschaft übernehmen wird, denn das langjährige und tiefgehende Bekenntnis zu europäischer Solidarität und zur Wahrung der Prinzipien der EU werden von entscheidender Bedeutung sein. Es ist klar, dass die britische Regierung weder im Detail noch nach Treu und Glauben verhandeln, sondern sich auf die gleiche Strategie stützen wird, die sie bereits beim Brexit-Deal angewendet hat: Auf äußerstes Risiko gehen und gegenüber den EU-Verhandlern mit der No-Deal-Karte drohen. Der verlangte Preis wird sein, dass es keine „Level-Playing-Field“-Regel mehr gibt – die Garantie, dass Großbritannien die EU-Standards im Bereich Lebensmittelsicherheit, Klimawandel, Steuern, Wettbewerbspolitik und zahlreichen anderen bedeutsamen Themen nicht unterschreiten darf.

Die deutsche Ratspräsidentschaft muss europäische Standards verteidigen

Ich war zutiefst enttäuscht davon, dass Barnier während der Austrittsverhandlungen politischem Druck nachgab und der Streichung der rechtsverbindlichen Level-Playing-Field-Regel zustimmte, so dass sie nun bei zukünftigen Handelsgesprächen erneut erstritten werden muss. Sie darf nicht noch einmal aufgegeben werden. Wir sehen bereits jetzt, dass sich die britische Regierung weigert, Lebensmittel- und Landwirtschaftsstandards aufrechtzuerhalten. Wenn man in der EU einen Unterbietungswettlauf verhindern möchte, ist ein minimales Handelsabkommen langfristig besser als die Preisgabe des Level-Playing-Field. Ich zähle darauf, dass die deutsche Ratspräsidentschaft europäische Standards und Werte gegen die Brexit-Offensive verteidigt, die von Anfang an ein Angriff auf europäische Standards gewesen ist und kein Drang nach Freiheit, wie es die Propaganda suggeriert.

Für Großbritannien kommt die Covid-Krise zur denkbar ungünstigsten Zeit, nämlich unmittelbar nach dem Ausstieg aus der Europäischen Union, die immer das Rückgrat unserer exportierenden Unternehmen gewesen ist. Aufgrund des globalen Lockdowns – weit entfernt von der Erfüllung des Mythos vom „Global Britain“ - sehen britische Unternehmen ihre Exporte in Gefahr ohne Aussichten auf neue, entferntere Kontakte. Die gescheiterte Ideologie der Privatisierung und Individualisierung, die zum Brexit führte, zieht außerdem eine Katastrophe im öffentlichen Gesundheitswesen nach sich: Großbritannien ist das Land mit der weltweit höchsten Sterberate. Wären wir doch nur dem Prinzip von Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeyer, gefolgt, der sagte: „Diese Pandemie ist kein Krieg. Nationen stehen nicht gegen Nationen, Soldaten nicht gegen Soldaten. Sondern sie ist eine Prüfung unserer Menschlichkeit.“

Die Hauptaufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft wird sein sicherzustellen, dass sich die öffentliche Gesundheitskrise nicht zu einer Wirtschaftskrise auf dem gesamten Kontinent ausweitet. Der Vorschlag der Kommission für einen Wiederaufbaufonds hat das richtige Maß an Ambition, und wir müssen uns darauf verlassen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die sogenannten Sparsamen Vier davon abhält, eine fehlgeleitete Ideologie und nationale Eigeninteressen über die dringende Notwendigkeit eines europaweiten Wiederaufbaus zu stellen. In der Zeit des Wiederaufbaus nach Corona wird sich letztlich bewahrheiten, dass Europa nur so stark sein kann, wie seine schwächste Volkswirtschaft; Solidarität ist unerlässlich.

Natürlich ist auch die Stoßrichtung der Investitionen von entscheidender Bedeutung. Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte sicherstellen, dass die EU-Finanzierung so ausgerichtet wird, dass die EU aus der Corona-Krise nachhaltiger und gerechter hervorgeht. Die schottischen Grünen sind dem Beispiel von Dänemark und Frankreich gefolgt und gewährleisten, dass Unternehmen und Einzelpersonen, die in Steueroasen gemeldet oder Ableger eines Offshore-Unternehmens sind, keinerlei Förderung aus dem Post-Corona-Konjunkturprogramm erhalten.

Eine neue Chance für Veränderungen in Richtung einer Grünen Wirtschaft

Ferner ist es notwendig, dass die Lippenbekenntnisse, die ihm Rahmen des „Building Back Better“-Konzepts gemacht werden, in einem öffentlichen Investitionsplan verankert werden. Während ein Großteil der europäischen Wirtschaft noch am Tropf hängt, gibt es die Chance, den Umbauprozess so zu organisieren, dass er unsere Unternehmen fit für eine kohlenstofffreie Zukunft macht. Wir können die wirtschaftlichen Nothilfeprogramme so kanalisieren, dass sie den längst überfälligen Vorschlägen für einen Green New Deal Leben einhauchen und dem Übergang in eine nachhaltige Wirtschaft Flügel verleihen. Dadurch würde sichergestellt werden, dass wir nach der akuten Notsituation wirtschaftlich deutlich besser aufgestellt sind, um die länger andauernde und tiefgreifendere Klimakrise zu bewältigen.  

In normalen Zeiten wäre ein derartig schneller Umbau unserer Volkswirtschaft nur schwer vorstellbar. Der coronabedingte Shutdown weiter Teile unserer Wirtschaft bedeutet jedoch, dass es allen Branchen, die momentan nicht voll ausgelastet sind, ermöglicht werden sollte, ihren Produktionsansatz zu überdenken. Neben Maßnahmen im Bereich Social Distancing könnte dies auch eine Neugestaltung der Produktionsprozesse beinhalten, um deutliche und schnelle Energie- und Ressourceneinsparungen zu erreichen. Die Kommission könnte in der Tat die Zielvorgaben für derartige Einsparungen an die Bereitstellung von öffentlichen Geldern für diese Unternehmen knüpfen. Wenn die zukünftigen Generationen zur Kasse gebeten werden, haben sie auch ein Recht zu fordern, dass die Unternehmen, die sie unterstützen, so operieren, dass ihnen eine gefahrlose Zukunft mit einem geschützten Planeten und Klima sicher ist.

Das geht einher mit einer Forderung der European Green Group, die wir der deutschen Ratspräsidentschaft gerne mit auf den Weg geben möchten:

„Sämtliche Großunternehmen, einschließlich Banken und Finanzakteuren, die mit öffentlichen Geldern unterstützt werden, müssen der Öffentlichkeit mitteilen, wie sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten an dem Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5°C auszurichten gedenken. Hierfür sind wissenschaftlich fundierte und unternehmensweite Emissionsreduktionsziele sowie ein klarer und rechtsverbindlicher Plan zur Erreichung von Klimaneutralität bis spätestens 2050 vorzulegen.“

Ich hoffe außerdem auf eine europäische Führungsrolle auf globaler Bühne. Als 2009 eine globale Finanzkrise drohte, gelang es dem damaligen britischen Premierminister Brown, die G20 zu einem massiven Investitionsprogramm zu bewegen, das eine Abwärtsspirale verhinderte. Während sowohl Großbritannien als auch die USA von unfähigen Populisten regiert werden, muss die Rolle zur Rettung der globalen Wirtschaft von europäischen Führungspersonen übernommen werden, insbesondere von Merkel und Macron. Während sie auf das europäische Investitionsprogramm setzen werden, muss Europa auch beim Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt eine Vorreiterrolle einnehmen und globale Finanzinstitutionen stärken und demokratisieren.