Indien in Zeiten der SARS-CoV-2 Pandemie: ein Bild voller Widersprüche

Kommentar

Indien steht im Kampf gegen die SARS-CoV-2 Pandemie vor der größten sozialen und wirtschaftlichen Herausforderung seit seiner Unabhängigkeit in 1947. Seit langem drückende Widersprüche und Versäumnisse werden nun mehr als deutlich erkennbar. Die mediale Berichterstattung verschiebt den Fokus, weg von den für den Erhalt des demokratischen Gefüges wichtigen Themen. Und doch weckt die momentane Situation auch ein wenig Hoffnung.

Männer mit Masken reinigen die leeren Straßen in einer Stadt in Indien mit Wasser

„Die Ausgangssperre hier in Indien ist etwas für die, die es sich leisten können“ sagt Linda Chhakchhuak, Journalistin aus Shillong der Hauptstadt des Bundesstaates Meghalaya im Nordosten Indiens. „Die Menschen in Indien, die ohnehin schon benachteiligt sind, leiden weniger an einer Infektion durch das Coronavirus, sondern an den Auswirkungen der Ausgangssperre: keine Arbeit, kein Geld, kein Essen, keine Unterkunft und keine gesundheitliche Versorgung. Diejenigen, die es sich leisten können, leben wohlbehütet in ihren Häusern und Wohnungen und lassen sich das Essen nach Hause liefern.“

Linda ist seit Beginn der Ausgangssperre rund um die Uhr im Einsatz. Sie versucht über die Not und vor allem auch die Angst der Menschen zu berichten. Und sie versucht, Menschen aus dem Nordosten des Landes zu helfen, die seit Beginn der Ausgangsperre in anderen Landesteilen Indiens festsitzen: Arbeiter/innen, die aufgrund der kurzfristigen Ankündigung völlig überrascht wurden, Studierende, die plötzlich aus ihren Unterkünften geworfen werden. Niemand von ihnen hat viel Geld und oft haben sie deswegen auch keine Unterkunft. Dazu kommt: aufgrund ihrer regionalen Herkunft sind sie oft noch mehr benachteiligt als die lokale ebenso betroffene Bevölkerung.

Wegen ihres südostasiatischen Aussehens bereits abwertend als „Chin“ (Chinesen) bezeichnet, werden sie nun als „Corona“ beschimpft. Oft haben sie auch keinen Zugang zu lokalen Hilfsleistungen. Seit Verhängung der Ausgangssperre wollen viele dieser Menschen nur noch eines: Zurück nach Hause. Und genau das ist nicht möglich, denn seit Wochen sind alle Transportmöglichkeiten stillgelegt. Viele dieser Menschen haben sich deshalb zu Fuß auf den Weg gemacht zurück in ihre Heimatstaaten und in ihre Dörfer. Ihre Bilder gingen wie eine Botschaft des Schreckens durch die Schlagzeilen.

Zur Zeit ist Linda Chhakchhuak mit einigen Menschen aus dem Nordostindischen Staat Nagaland in Kontakt. Sie sitzen in Bangalore im Süden des Landes fest. Laut Google eine Entfernung von etwas über 3.000 Kilometern. Dies wäre ein Fußweg von schätzungsweise 550 Stunden – und dies auch nur über eine direkte Abkürzung durch das Nachbarland Bangladesch.

Der größte Hausarrest der Welt?

Nach einer Art freiwilligen „Proberunde“ an einem Sonntagnachmittag im März, verkündete Premierminister Narendra Modi am 24. März den vermutlich umfangreichsten Hausarrest der SARS-CoV-2 Weltkrise: 1,3 Milliarden Menschen sollten für die nächsten 21 Tage zu Hause bleiben. Mit einem Vorlauf von gerade einmal fünf Stunden wurden innerstaatliche Grenzen für den Transitverkehr geschlossen, der internationale Flugverkehr eingestellt. Die ansonsten verstopften Straßen der Millionenstädte sind gespenstisch leer. Die Menschen dürfen nur noch für unbedingt notwendige Besorgungen ihre Häusers verlassen, dafür sorgt eine eigens dafür eingesetzte Corona-Polizeieinheit, ausgestattet mit Motorrädern – und mit Bambusstöcken. Es gilt Maskenpflicht und Spuckverbot.

Premier Modi wendet sich wie immer gut inszeniert an die Bevölkerung: gelassen, souverän, empathisch und in einem auffallend gewählten Hindi, gewürzt mit einer Prise hinduistisch-vedischer Tradition. In seinen bisherigen drei Ansprachen appelliert er insbesondere an Vernunft und Einigkeit. Die im Anschluss an diese Ansprachen veröffentlichten Regelungen jedoch sind komplex, in englischer Sprache verfasst, und viele Seiten lang.

Und lang sind auch die Menschenschlangen, die sich daraufhin auf vielen Märkten des Landes bilden. Zumindest der Teil der Bevölkerung, der es sich leisten kann, steht dort an für Lebensmittel, Gemüse, Milchprodukte. Die Menschen rücken vorwärts, in auf dem Boden mit Sicherheitsabständen vormarkierten Kreisen und erinnern dabei an ein menschliches „Ludo“ Spiel – die indische Version von „Mensch ärgere Dich nicht“.

Obwohl ein Großteil der Bevölkerung Indiens weder Hindi noch Englisch spricht oder versteht, geht die Inszenierung Modis als Behüter der Nation auf: Es herrscht tatsächlich eine gewisse Ordnung in weiten Teilen des sich ansonsten in einer Art geordnetem Chaos befindenden Subkontinents. Bis dato scheinen die mit aller Härte eingeführten Regeln erfolgreich: die als rasant vorausgesagte Entwicklung der Virusinfektionen schreitet bisher unerwartet langsam voran. Am 27. April, knapp vier Wochen nach Beginn der Ausgangssperre, sind ca. 28.000 Infektionsfälle statistisch erfasst worden. Das sind in etwa 0,0021 Prozent der Bevölkerung des Landes.  Diskussionen und Berichte darüber, wann der Peak erreicht werden wird, füllen die Schlagzeilen. Und während einige Expert/innen die Vorgehensweise der indischen Regierung preisen, rechnen andere mit eher düsteren Szenarien.

Infektionsfälle als Unterhaltungsprogram

Im Kampf gegen das Virus bringen allerdings besonders die Metropolen Delhi (ca. 16 Millionen Menschen) und Mumbai (ca. 28 Millionen Menschen) die indische Regierung an ihre administrativen Grenzen. Dort breitet sich, der Datenlage zufolge, auch das Virus am schnellsten aus. Die Schaffung sogenannter Eindämmungszonen, die Sicherstellung von Lebensmittellieferungen, der Ausbau von Gesundheitseinrichtungen, das Training des Personals und die Beschaffung der notwendigen Schutzausrüstung – die Herausforderungen sind riesig.

Von Anfang an konzentrierte sich die Regierung bei der Pandemiebewältigung auf die Infektionsketten, d.h. die Nachverfolgung von infizierten, hauptsächlich aus dem Ausland ankommenden Personen. Durch eine massive, theatralisch inszenierte mediale Berichterstattung erfährt das Publikum wie in einer Vorabendserie, hautnah und tagesaktuell, wie vermeintlich fahrlässig ausgerechnet diese Personen(gruppe) mit der Ansteckungsgefahr umgeht. So erhält man Einblicke in persönliche Besuchsreisen, Geburtstags- oder Dinnerparties und Hochzeitsfeiern oder in den einen oder anderen Besuch in einem doch nicht geschlossenen Tempel.

Im Fokus steht die Verfolgung potentieller menschlicher Infektionsherde. Auch wenn es eigentlich unmöglich erscheint, in einem der bevölkerungsreichsten Länder der Welt aktiv und flächendeckend Virustests durchzuführen, ist fraglich, ob die Strategie der Nachverfolgung von Infektionsketten langfristig aufgehen kann.

Eine lange Liste von Problemen

Zu Beginn der fünften Woche des großen Hausarrestes werden die wirtschaftlichen Folgen, mit denen Indien sich in den kommenden Jahren auseinandersetzen muss, mehr als deutlich: etwa 90 Millionen Saisonarbeiter/innen sind arbeitslos, staatliche Hilfsfonds sind aufgebraucht oder bis an ihre Grenzen ausgelastet. Spendengelder, u.a. aus der Privatwirtschaft erscheinen trotz Millionenhöhen bei weitem nicht ausreichend. Dort wo es noch Gelder gibt, mangelt es oft an transparenten Strategien für deren Verteilung. Arbeitsintensive Sektoren wie beispielsweise die Textilbranche melden, sie könnten die Arbeitslöhne für die Monate April und Mai 2020 nicht entrichten. Der Manufaktur- und Exportsektor spricht von einer flächendeckenden Schließung kleinerer Produktionseinheiten. Die Regierung hat ein Verbot von Lohnkürzungen und Entlassungen erlassen, denen man aber nicht nachkommen könne. Zu einer täglich steigenden Arbeitslosigkeit kommt eine drohende Nahrungsmittelknappheit für ca. 650 Millionen Menschen, aufgrund der durch die rigorose Ausgangssperre bedrohten Ernteausfälle und des Wegfalls der notwendigen Importe von beispielsweise Reis aus Ländern der Region. Die Liste der Beispiele ist unendlich lang. Hinzu kommt nun eine noch längere Liste von Maßnahmen die für eine schrittweise geplante Aufhebung der Ausgangssperre notwendig wären.

Yoga für alle, und das Ende der politischen Empathie

Aufgrund der Ausgangssperre liegen nur wenige wirklich gut aufgearbeitete Berichte darüber vor, wie die außerordentlich diverse Bevölkerung, und vor allem die am stärksten betroffenen Menschen, mit der Situation umgehen bzw. umgehen können. Sichtbar sind stattdessen Medienkampagnen in denen Minderheiten, Ausländer/innen und vor allem die muslimische Bevölkerung des Landes für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden. Bereits vor der Krise durch die konservative Regierungspolitik aufgebrochene Ungleichheiten treten nun noch deutlicher hervor. Muslimischen Bürger/innen wird unverblümt ein „Corona-Jihad“ unterstellt und Berichte über die soziale Ausgrenzung von infizierten Menschen, Übergriffe auf medizinisches Personal und auch auf die endlich in ihren Dörfern angelangten Arbeitsmigranten/innen werden immer häufiger. Die Angst vor einer mit einer Infektion einhergehenden Stigmatisierung ist in der indischen Kastengesellschaft besonders groß.

Regierungskritische Journalisten/innen oder Aktivisten/innen werden immer häufiger im Namen der öffentlichen Gesundheit verhaftet. Vor dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Krise wichtige Themen wie beispielsweise die viel diskutierte Einführung des neuen Bürgerschaftsrechts verschwinden ebenso wie die Gruppen der dagegen Demonstrierenden von den Straßen. So verdeutlicht sich auch der Verdacht, dass konservative politische Akteur/innen die Krise geschickt nutzen, um das öffentliche Nachdenken über den Zerfall der pluralistisch-demokratischen indischen Gesellschaft im Namen der gesundheitlichen Fürsorgepflicht praktisch aufzulösen.

Während die Regierung einen für die körperliche Bewegung zu Zeiten des Hausarrests eigens eingerichteten Yoga-YouTube-Kanal mit Modi Avatar veröffentlicht, laden sich bereits wenige Tage, nachdem Premier Modi die Veröffentlichung einer extra erstellte Aarogya-Setu-Überwachungs-App verkündet, 75 Millionen Menschen diese App auf ihre Mobiltelefone. Sie soll die Bewegungsabläufe der indischen Gesellschaft dokumentieren. Wofür die Daten letztlich genutzt werden ist unklar.

Debattenräume ohne Grenzen

Die urbane indische Zivilgesellschaft trifft sich nach einer kurzen Schockstarre in virtuellen Räumen wieder. Da tatsächliche geographischen Distanzen nun kein Hindernis mehr darstellen, vervielfältigen sich die in Indien ohnehin überaus beliebten Konferenzveranstaltungen ins unendliche. Täglich finden mehrere Workshops, Webinare, Lesungen statt. Ob diese derzeit relativ unkoordiniert anmutende virtuelle Debattenvielfalt – losgelöst von den eigentlichen Zielgruppen auf dem Land - wirklich kohärente Ergebnisse oder gar neue Denkansätze hervorzubringen vermag, bleibt abzuwarten. Vielmehr scheint der bisherige Fokus auf eher traditionelle Themen wie ein Versuch, wieder etwas mehr Sicherheit in einer ansonsten völlig unkalkulierbaren Situation herzustellen.

Der Blick über den (westlichen) Tellerrand

Einige wenige zivilgesellschaftliche Akteur/innen nutzen die Ausgangssperre als eine Möglichkeit hinauszudenken über vor allem auf westlichen Denkmodellen beruhende Ansätze. Sie nutzen die dafür momentan entstehenden Räume und beschäftigen sich mit Fragen und Forderungen nach ökologisch nachhaltigen und auf lokalem Wissen aufbauenden politischen Strategien. Beispielweise zum Erhalt der nun guten Wasserqualität des Ganges – der sich durch die Stilllegung der industriellen Produktion an seinen Ufern selbst von den giftigen Abwässern gereinigt haben soll. Sie fordern Maßnahmen zum Erhalt der stark verbesserten Luftqualität beispielsweise durch den Schutz von Wäldern oder Biodiversitätsreservoiren. Und sie dokumentieren Erzählungen über Gemeinden, in denen sich jetzt in kürzester Zeit ökologisch selbsttragende Strukturen herauszubilden scheinen.

Vor allem in den nordöstlichen Staaten Indiens scheint es nun ein Vorteil zu sein, dass sie auch vor der Epidemie erst sehr spät Beachtung in von der Regierung implementierten Entwicklungs- und Infrastrukturplänen fanden: sie haben frühzeitig eigene innerstaatliche Maßnahmen ergriffen um die Bevölkerung zu schützen und die Wirtschaft aufzufangen. Laut Statistik gab es in der ganzen Region bisher 64 Infektionsfälle.

„Die Frage ist doch wovor wir alle so große Angst haben?“ meint Linda Chhakchhuak. „Ist es die Ansteckungsgefahr durch das Virus, oder ist es die Angst davor, künftig Teile unseres Besitzes aufgeben zu müssen, unseren Konsum einzuschränken oder unseren Lebensraum mit anderen Menschen und vor allem mit der Natur zu teilen? Wenn am Ende der Krise die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes dem Sterben durch Hunger oder Krankheit überlassen bleibt, und wir die Chance nicht nutzen, um auch sozial gerecht und ökologisch umzudenken, dann war alles andere sinnlos. Die Frage, die wir uns stellen müssen ist doch die: Wie soll das Indien aussehen, in das wir eintreten, sobald wir die Ausgangssperre verlassen können?“