Anne-Klein-Frauenpreis 2020

Rede

Mit dem Anne Klein Preis feiern wir jedes Jahr Anne selbst und ihre vielen politischen, juristischen und gesellschaftlichen Errungenschaften für die Rechte von Frauen, Lesben und Schwulen, für ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. In diesem Jahr geht der Anne-Klein-Frauenpreis an Dr. Prasanna Gettu aus Indien.



Die folgende Rede hielt Barbara Unmüßig zur Preisverleihung am 6.3.2020

Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

Anne hat ihr Leben lang gegen Diskriminierung und Gewalt gekämpft. Sie hat in den 70er Jahren eine feministische Rechtsberatungsstelle gegründet und kämpfte für das erste Berliner Frauenhaus. Und später als Senatorin sicherte sie die finanzielle Existenz der damals drei Frauenhäuser. Mehr noch: Sie schaffte die finanzielle Eigenbeteiligung für Frauen ab, die dort Schutz suchten.

Frauen vor Gewalt schützen, ihnen konkrete Hilfe anbieten, das war ein Lebensthema Annes und eint und verbindet sie mit der diesjährigen Anne-Klein-Frauenpreisträgerin Prasanna Gettu.

Wir ehren heute mit Prasanna Gettu eine Frau, die 2001 mit Mitstreiterinnen im südindischen Chennai begonnen hat, Frauen, die familiäre und häusliche Gewalt erfahren, ganz konkret und mit einem ganzheitlichen Angebot der Unterstützung zur Seite zu stehen. Sie und ihre Organisation International Foundation for Crime Prevention and Victim Care bietet Frauen in akuter Not Schutzräume, begleitet sie in Krankenhäusern medizinisch und psychosozial, spendet Frauen Trost und hilft ihnen ins Leben zurück.

Frauen nach ihren Gewalterfahrungen ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen, ist Prasanna und ihren Mitstreiterinnen ein großes Anliegen. Sie leistet mit ihrer Organisation Präventionsarbeit, versucht die strukturelle Gewalt in Indien aufzubrechen und das patriarchale Frauenbild in der Gesellschaft mit Bewusstseinsarbeit und Schulungen von den Unis bis zur Polizei zu ändern. 

Indien ist laut Studien der G20 und der Stiftung Thomson Reuters das gefährlichste Land der Welt für Frauen. Die größte Demokratie der Welt lässt gar Länder wie Saudi-Arabien, Somalia, Afghanistan oder Jemen hinter sich. Die Nachrichten, die uns auch gerade erst wieder aus Neu-Delhi erreicht haben, sind erschreckend: Mindestens 23 Tote, hunderte Verletzte, unzählige Frauen, die gezielt Opfer sexueller Übergriffe und Gewalt wurden, sind die traurige Bilanz der Ausschreitungen hindu-nationalistischer Bewegungen und Mobs gegen die muslimische Minderheit.

Jeden Tag gibt es Ehrenmorde – Vergewaltigungen – Feminizide – Mitgiftmorde - Mädchenmorde – Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Schreckliche Berichte über Gewalt an Frauen im öffentlichen Raum in Indien schaffen es auch bei uns immer wieder in die Medien.

Die gute Nachricht ist: Immer mehr junge Frauen und Männer stellen sich dieser Gewalt entgegen, sie protestieren überall in Indien gegen Gewalt und für Frauenrechte. Prasanna setzt große Hoffnungen auf diese junge Generation, auch wenn sie betont, dass die patriarchalen Strukturen und Denkweisen in der indischen Gesellschaft tief verankert sind.

Nach der traditionellen Familienordnung verlassen Frauen nach der Heirat ihr Zuhause und werden Teil der Familie ihres Mannes. Das hat weitreichende Konsequenzen für den gesellschaftlichen Wert und die Rechte der Frauen. Sie müssen sich häufig komplett unterordnen. Gewalt an Frauen in ihren eigenen Familien ist leider für viele Frauen in Indien Alltag: Ein Drittel der verheirateten Frauen wird von ihrem Mann oder dessen Familie misshandelt. Jede zehnte Frau erfährt schwere häusliche und sexuelle häusliche Gewalt.

Brand- oder Säureattacken auf Frauen sind in Indien, obwohl mittlerweile unter Strafe gestellt, weit verbreitet. Circa 90.000 Opfer zählt die Statistik. In Prasannas unmittelbarem Arbeitskontext sind monatlich zwischen 100 und 120 Frauen Opfer von solchen Brand- und Säureattacken, mehr als 60 Prozent sterben an den Folgen. Die, die es schaffen, bekommen nicht die medizinische und psychologische Unterstützung, die sie bräuchten.

Hier setzen Prasanna und ihre Kolleginnen mit ihrer Arbeit an: Sie versorgen die Opfer zunächst medizinisch in Krankenhäusern, sie ermutigen sie zur Rückkehr ins Leben, sie machen Mut und arbeiten mit Frauen an neuen Lebensperspektiven.

Häusliche und sexuelle Gewalt – sie kommt auch in Indien in allen sozialen Schichten, Kasten oder Religionszugehörigkeiten vor. Säure- und Brandattacken, so Prasanna, häufen sich eher in den unteren Schichten, während Frauen der Oberschicht eher vergiftet oder erhängt aufgefunden werden. – Gewalt an Frauen kann in jedem Haushalt passieren. „Je höher die gesellschaftliche Stellung, desto wahrscheinlich, desto größer die Bemühungen, die Gewalt zu vertuschen“, berichtet Prasanna aus ihrer Erfahrung. Es ist dein Verdienst, liebe Prasanna, dass in Indien die erste Notrufnummer für Opfer von Säure- und Brandattacken eingerichtet wurde. Du selbst nimmst gemeinsam mit deinen Mitstreiterinnen die Notrufe rund um die Uhr entgegen.  Endlich gibt es auch ein Heilungszentrum für traumasensible medizinische Unterstützung.

Liebe Prasanna, Du selbst sagst: „Selbstermächtigung, das ist so ein großes Wort“. Wie geht das? Was heißt das konkret? Du versuchst immer wieder für jede einzelne Frau eine Antwort zu finden. Der Anne-Klein-Preis ist ein Preis der ermutigen, der danken, der solidarisch sein will, mit Dir und mit Deiner Organisation, der International Foundation for Crime Prevention and Victim Care. Wir, die Jury des Anne-Klein-Preises, sind voller Bewunderung für Euer außerordentliches, konkretes und politisches Engagement für die Gewaltopfer. Eure Arbeit ist einmalig in Indien, Ihr seid Vorreiterinnen auf einem langen Weg hin zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft, zu einem Land, in dem Frauen frei und sicher leben können.  

Liebe Prasanna, du stehst auch nach persönlichen Drohungen und Anfeindungen immer an der Seite der überlebenden Frauen und Kinder und unterstützt sie dabei, ihren Weg zu gehen – egal welcher das sein mag.

Im Namen der Jury: Herzlichen Glückwunsch zum Anne-Klein Frauenpreis 2020.