Am 3. Februar 2019 gewann der 38-jährige Nayib Bukele die Präsidentschaftswahlen in El Salvador und durchbrach damit das Zweiparteiensystem aus rechter ARENA und linker FMLN, das die Politik des Landes die letzten drei Jahrzehnte bestimmt hatte. Ein Jahr nach seiner Wahl suchte Bukele die offene Auseinandersetzung mit dem von ARENA und FMLN dominierten Parlament – dass er dazu Militär und Polizei im Parlament aufmarschieren ließ, ist ein für die jüngere Zeit beispielloser Vorgang und kündigt turbulente Zeiten an, die die Demokratie El Salvadors vor echte Herausforderungen stellen könnte.

Anfang Februar stand El Salvador kurz vor dem Zusammenbruch seines fragilen institutionellen Gefüges. Der neu gewählte Präsident Nayib Bukele berief für den 9. Februar eine außerordentliche Sitzung des Parlaments ein und probte den Aufstand. Als Aufhänger diente ihm die von ihm geforderte Bewilligung einer Kreditaufnahme in Höhe von 109 Millionen US-Dollar für die Sicherheitskräfte, den die Abgeordneten der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) und der Nationalistischen Republikanischen Allianz (ARENA) bis dato abgelehnt hatten. Dies geschieht just zu einer Zeit, in der Präsident Bukele ständig und voller Stolz auf den Rückgang der Mordrate als Ergebnis seines territorialen Überwachungsprogramms verweist und sich darauf beruft, dass es angesichts der Sicherheitskrise nicht möglich sei, die Debatte und Rechnungsprüfung durch das Parlament abzuwarten. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, holte Bukele Angehörige der Streitkräfte und der Zivilpolizei in den Plenarsaal. Zwar ruderte Bukele, vom Sitz des nicht anwesenden Parlamentspräsidenten aus, in letzter Minute aufgrund einer „göttlichen Eingebung“ zurück. Die Drohung aber bleibt bestehen, denn Bukele und andere Gruppen haben mittlerweile ihre Chance erkannt, auf diesem Weg die alten Parteienvertreter/innen im Parlament loszuwerden. Verheerende Folgen sind dieses Mal vorerst ausgeblieben, doch Bukele zeigte sich nicht zum ersten Mal von einer Seite, die auf Konfrontation und Machtdemonstration gegenüber anderen Staatsinstanzen setzt.
Bukele zeigte sich bisher als eiserner Verfechter einer Demokratie neuen Typs, weitab von den traditionellen parteipolitischen Führungsstrukturen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 war dies auch das zentrale Thema, mit dem er einen Machtwechsel erreichen wollte. Zu seinem Amtsantritt lieferte das anwesende Publikum bereits einen deutlichen Vorgeschmack auf die späteren Ereignisse vom 9. Februar: mit öffentlichen Schimpftiraden gegen die Abgeordneten gegnerischer Parteien und der Aufführung eines Volkstribunals, ganz im Stil eines Fußballstadions mit absoluter Mehrheit. Den Prestigeverlust der traditionellen Parteien ARENA und FMLN und den entsprechend schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung nach 30 Jahren ihrer Regierung nutzt Bukele immer wieder zu seinem eigenen Vorteil und vergibt damit die Chance für einen neuen Politikstil im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und auf der Grundlage eines vermittelnden Dialogs zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Stattdessen zeigt sich immer wieder seine zentralistische, hierarchische und oftmals demagogische Art der Machtausübung.
Bukele ist ein Mensch, der schnell zum Angriff übergeht, sobald jemand seine von ihm selbst geschaffene Ordnung und sonstige Bereiche verletzt, die für ihn als Machtsphären des Systems gelten. So legte er sich im Februar 2016 mit dem Generalstaatsanwalt an, der ihn mit einer Reihe von Internet-Attacken gegen Medien in Verbindung gebracht hatte. Seite an Seite mit dem Generalsekretär der FMLN drohte er dem Staatsanwalt mit Rauswurf. Ende 2018 ging Bukele erneut auf Konfrontation mit einer staatlichen Institution, diesmal dem Obersten Wahlgericht. Dort protestierte er gegen einen angeblichen Betrug an der Partei, die ihn später zum Präsidentschaftskandidaten küren sollte: GANA. Diese distanzierte sich zwar von seiner Beschwerde, dennoch drangen damals etwa 20 Personen gewaltsam in das Gericht ein. Angeführt wurde die Gruppe von Pablo Anliker, einem Neffen von Federico Anliker, Generalsekretär der Partei Nuevas Ideas (Neue Ideen) – der Partei Bukeles.
Als Bukele vom Parlament im Hinblick auf die Teilnahme an der außerordentlichen Sitzung eine Absage erhielt, rief er zum Volksaufstand auf. Dies ist in Artikel 87 der salvadorianischen Verfassung als Recht „auf Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung oder bei schweren Verstößen gegen die Verfassung“ verankert. Mit dieser Stimmungsmache wollten Bukele und seine Gesinnungsgenossen Menschen aus verschiedenen Landesteilen und das Personal einiger Ministerien für den 9. Februar mobilisieren, sozusagen als kleine selbsterfüllende Prophezeiung. Als Abgeordnete nicht zur Sitzung erschienen, ließ Bukele, nach einer flammenden Rede über die Versäumnisse des Parlaments, die riesige Menschenmenge seiner Gefolgsleute ausharren, bis er ein Gebet sprach. Dies tat er vom Sitz des abwesenden Parlamentspräsidenten, Seite an Seite mit Parlamentsvizepräsident Guillermo Gallegos (GANA) und etwa 30 Abgeordneten, die ihn bedingungslos unterstützen. Als Fazit seines Gebets gewährte Bukele dem Parlament noch eine einwöchige Frist zur Bewilligung der Kreditaufnahme (laut seiner eigenen Aussage habe Gott ihn um „Geduld“ gebeten). Daraufhin zerstreute sich die Menge lustlos, Streit- und Polizeikräfte zogen aus dem Plenarsaal ab. In einem jämmerlichen und überdies schmachvollen Akt, der letztlich jedoch für die Aufrechterhaltung des verfassungsmäßigen Systems und der geltenden Rechtsstaatlichkeit von Nutzen war, stoppte Bukele den von ihm selbst ausgerufenen Aufstand.
Dieses und andere Manöver sind Lehrstücke in Sachen Medienmanipulation: Es werden Themen erzeugt, um von wichtigen Fragen abzulenken, Probleme erzeugt, um dann Lösungen anzubieten und Positionen stets von oben bestimmt. Außerdem wird mehr an Gefühle appelliert als an den Verstand, die Religiosität der Bevölkerung benutzt und die Öffentlichkeit weitgehend in Unwissenheit gelassen. Das Verständnis von Gewaltenteilung als Grundlage des Staates und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit sind in El Salvador von verschiedenen politischen Kräften und Parteien immer wieder verdreht worden. Die Folgen erleben wir jetzt, und sie werden durch die scheinbar andersartigen Taktiken Bukeles, die jedoch mit den Machtmissbräuchen der fernen und jüngeren Vergangenheit durchaus in Einklang stehen, noch exponentiell verschärft.
Überdies ist zu berücksichtigen, dass die neuen, dem Anschein nach rückwärtsgewandten Bestrebungen auch die Forderung des salvadorianischen Vizepräsidenten Félix Ulloa nach einer Staatsreform oder einer neuen Verfassung beinhalten. Dieser Prozess war von den traditionellen Parteien diskutiert und auf Eis gelegt worden, denn bei diesem speziellen Thema geht es zum Teil auch um das Anliegen der organisierten Zivilgesellschaft, eine größere Beteiligung an staatlichen Entscheidungen zu erreichen. Davon ist der derzeitige Regierungsstil allerdings weit entfernt, jedoch könnte es in einen überaus gefährlichen Deal münden – nach dem Motto “Gott-Präsident-Streitkräfte-Volk“. Für einen Staat, der in seiner Verfassung den Anspruch erhebt, ein säkularer Staat zu sein, wäre dies ein absoluter Rückschritt, ganz zu schweigen von der ausgesprochen starken patriarchalen Komponente, die die Durchsetzung einer solchen Entwicklung erfordern würde.
In einem Land, in dem das ökologische, wirtschaftliche und soziale Überleben zur Debatte steht, wurde bisher versucht, derartige politische Krisen mit Hilfe von wenig transparenten Absprachen und ohne Wissen der Bevölkerung zu regeln. Diesmal aber könnte sich eine wichtige Chance bieten, die Weichen zum Schutz der Gewaltenteilung zu stellen – ein dringendes Erfordernis, nicht etwa im Sinne einer Vormachtstellung für eine der Gewalten, sondern einer angemessenen, sinnvollen Kontrolle der Macht. Dementsprechend wäre von den politischen Parteien zu erwarten, dass sie Unterstützung bei der dritten Säule des Staates suchen: beim Obersten Gerichtshof. Angesichts des fehlenden Rückhalts in der Bevölkerung und seiner in den Augen der Menschen chronischen Handlungsunfähigkeit, muss das Parlament unbedingt einen staatlichen Schutzschild schaffen, um sicherzustellen, dass sich Vorkommnisse wie der 9. Februar nicht wiederholen. Die Garantien, die der Oberste Gerichtshof bietet, müssten zumindest theoretisch von Exekutive und Legislative respektiert werden.
Präsident Bukeles unermüdliche Suche nach der perfekten, auf seine eigenen Ziele zugeschnittenen Eskalation und die Konkretisierung dessen, was für ihn als Unterstützung der Bevölkerung gilt, werden ihn das Parlament und die Vorteile, die ihm dessen schlechte Arbeit einbringt, genau im Blick behalten lassen. Ebenso wird er weiterhin die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs anfechten. Ein Staatspräsident, der an die Unterwürfigkeit seines Regierungskabinetts gewöhnt ist, könnte sich ebenso auch an die absolute Gefolgschaft der Streitkräfte gewöhnen. Eine Kombination aus Armee und nationaler Zivilpolizei ist in der mittelamerikanischen Region bisher gleichbedeutend mit einem symbolischen oder auch konkreten Autoritarismus.
Die Isolation des gewählten Staatspräsidenten in Guatemala und den repressiven, autoritären Regierungen in Honduras und Nicaragua, machen Bukele zum bevorzugten Ziehsohn der USA. Nach undurchsichtigen Äußerungen in den Tagen unmittelbar vor dem 9. Februar und der Werteübereinstimmung, die sich in der öffentlichen Sympathie Bukeles für Trump zeigt, twitterte US-Botschafter Ronald Johnson schließlich am 10. Februar, er könne die Präsenz der Streitkräfte im Parlament nicht gutheißen. Ein solcher Hinweis wäre in jedem Fall zu spät gekommen, wenn die Streitkräfte eine Verfassunggebende Versammlung beendet und folglich das bestehende Parlament abgeschafft hätten.
In seinem Kommuniqué vom 10. Februar 2020 hat der Oberste Gerichtshof zu der Auseinandersetzung zwischen Präsidialamt und Parlament nun einstweilige Verfügungen erlassen, mit denen der Streit zwischen Legislative und Exekutive beigelegt werden soll, zumindest für eine Woche. Darin wird die auf Betreiben Bukeles und seines Kabinetts erfolgte Einberufung einer außerordentlichen Parlamentssitzung vorläufig für unwirksam erklärt. Sofern Abgeordnete der Einberufung keine Folge geleistet und nicht zu der Sitzung erschienen sind, werden mögliche Konsequenzen ausgesetzt. Außerdem wird dem Präsidenten untersagt, die Streitkräfte einzusetzen, sofern der Einsatz nicht von der Verfassung gedeckt ist. Mit diesen ersten Maßnahmen hat der Oberste Gerichtshof bewiesen, dass er zumindest in einem angemessenen Zeitraum auf die Krise reagiert, und in Bezug auf die Einhaltung der Verfassung entspricht sein vorläufiges Urteil den Erwartungen.
Der Vorstoß Bukeles und sein noch am selben Tag erfolgter Rückzug sind ein Alarmsignal für ein künftiges Umfeld, in dem sich der Gerichtshof auch mittel- bis langfristig wird durchsetzen müssen, um der Wechselhaftigkeit und Instabilität des Präsidenten zu begegnen. In einem Land, in dem Machtmissbrauch auch auf den niedrigsten Stufen des Staates an der Tagesordnung ist, steht für Bukele nach einem Tag rückwärtsgewandter Entgleisungen die Chance auf dem Spiel, neue Grundlagen für eine demokratische Stärkung zu schaffen. Es darf nicht vergessen werden, dass der Niedergang der traditionellen Parteien die Wahl Bukeles erst möglich gemacht hat und insofern auch Bestandteil des verworrenen demokratischen Panoramas in El Salvador ist: Wie in jedem anderen Staat ist auch hier jede Seite von der anderen abhängig.
Die geringe Fähigkeit bzw. das geringe Interesse der Bevölkerungsmehrheit, diese Risiken zu verstehen und zu analysieren, insbesondere aber auch zu erkennen, was sie für die verfassungsmäßige Ordnung bedeuten, lassen erwarten, dass Konflikte zwischen den Staatsorganen immer mehr zum Überlebenskampf der traditionellen Parteien werden und der um sich greifende Autoritarismus sich möglicherweise in einer Region durchsetzen kann, die ausgesprochen anfällig für den Irrglauben ist, ein solcher Autoritarismus sei die Extremlösung für eine ausgesprochen tiefgehende Problematik. All dies deutet zudem auf ein Paradox hin: Wenn sich die Bevölkerung in ihrer Passivität vom Aufruf der an „politischen Auftragsmord“ gewöhnten Anhänger Bukeles getäuscht sieht und der Ruf laut wird, unter Ausnutzung des von Bukele am 9. Februar begangenen politischen Fehlers das Parlament gewaltsam zu stürmen, kann damit als zentrale Folge ein fragiles, bei jedem institutionellen Problem schwaches Land zum Kippen gebracht werden. Die kommenden Wochen werden entscheidend sein, denn dann wird sich zeigen, ob die Entwicklung zu Gunsten oder aber zum Schaden der Demokratie ausgeht. Den Appellen an Vernunft und Respekt wird eine Schlüsselbedeutung zukommen, denn nach wie vor besteht Anlass zur Sorge, dass die Übernahme der absoluten Macht ein Land, das so kurz vor dem Schiffbruch steht, in den endgültigen Untergang treibt.
Die Demokratiekrise geht weiter, diesmal mit neuen Formen der Manipulation und mit Unterstützung der großen Feinde institutioneller Strukturen: des Machtmissbrauchs und der Gewalt in ihren vielfältigen Ausprägungen. Die Verteidigung der Demokratie ist das Gebot der Stunde, um ein für alle Mal festzuschreiben, dass der Staat aus Mehrheiten und Minderheiten besteht und der Rechtsstaat in seinem Versuch, uns zumindest als zivilisierte Kultur zu definieren, geachtet werden muss.
Übersetzung von Beate Engelhardt.