Der stille Krieg. Untätigkeit ist die Waffe

Kommentar

Mit meinem Kollegen Dean Blazevic und einigen bosnischen freiwilligen fahre ich täglich in die Berge, um Menschen zu suchen. Wir finden Frauen, Kinder, Jugendliche und erwachsene Männer, manchmal 20 Kilometer tief im Wald. Durchgefroren, hungrig, mit nasser Kleidung und einige krank oder verprügelt von der kroatischen Grenzpolizei.

»Last days of the camp Vučjak

Bihac/Bosnien. Am Tag als die ersten Menschen aus der Innenstadt von Bihac in Polizeibussen auf die ehemalige Mülldeponie Vucjak deportiert wurden, war ich dabei. Meine Fotoausstellung mit Bildern aus dem Krieg in dieser Stadt war gerade eröffnet worden. Ein Zufall, dass ich die Busse mitbekommen habe und ihnen gefolgt bin. Ich bin Journalist und wollte natürlich dokumentieren, was da passiert. Was dann kam, damit habe ich nicht gerechnet. Sie haben Menschen weggeschmissen, auf diese Müllhalde Vucjak. Noch am selben Tag entschied ich zu bleiben und diese Menschen nicht allein zu lassen. 175 Tage später wurde Vucjak aufgelöst. Das war am 6. Dezember. Seitdem fahre ich mit meinem Kollegen Dean Blazevic und einigen bosnischen freiwilligen täglich in die Berge um Menschen zu suchen. Wir finden Frauen, Kinder, Jugendliche und erwachsene Männer manchmal 20 Kilometer tief im Wald. Durchgefroren, hungrig, mit nasser Kleidung und einige krank oder verprügelt von der kroatischen Grenzpolizei.  

Jetzt bin ich 185 im Einsatz. Mit 1000 Männern und männlichen Jugendlichen in diesem Elend in Vucjak zu arbeiten, das ist hart. Wenn es zu hart wurde, dann habe ich oft gedacht: „Es ist kein Krieg, es schießt niemand. Das geht alles noch schlimmer“.

Last days of camp Vučjak

Es kam schlimmer. Für mich mit dem Ende von Vucjak. Jetzt leite ich nicht mehr eine Ambulanz im Camp Vucjak. Jetzt treffe ich, wie vor zwei Tagen, sieben kleine Kinder, ihre drei Mütter und Väter, dazu eine Gruppe von Jugendlichen, in der Nähe von Lochovo bei Bihac. Es ist dunkel und eiskalt. Ein kleiner Junge schreit. Einer der Jugendlichen übergibt sich und bricht zusammen. Er braucht Insulin. Die Mädchen im Alter von etwa 5 bis 9 Jahren nehmen mich mitten auf der Straße in den Arm und wollen nicht mehr loslassen. Sie sind von der kroatischen Polizei zurückgeprügelt worden, besitzen nichts mehr. Nur noch das, was sie am Körper tragen. Niemand ist hier, niemanden interessiert das. Ich gebe dem Diabetiker Glukose in den Mund und rufe den Krankenwagen. Vor ein paar Tagen haben wir die Polyklinik Bihac mit medizinischen Hilfsgütern beliefert. Jetzt steht uns die Tür auf, wenn wir die Klinik brauchen. Der Krankenwagen kommt. Der Fahrer ist ein Freund unseres wichtigsten bosnischen Mitarbeiters. Zlatan Kovacevic. Zlatan ist das erste Opfer des Krieges in Bihac. Am12.6.1992 hatte ihm eine Granate sein Bein genommen. Als ich ihn im Februar kennen lernte, erzählte er mir stolz, er habe eine der ersten Demonstrationen gegen Migranten in Bihac mit organisiert. Ich habe damals gesagt, dass ich verstehe, das es zu viele Flüchtlinge in Bihac sind und ich verstehe auch, das er dagegen etwas tun will. Ich arbeite anders, erklärte ich ihm. Ich arbeite für, nicht gegen Menschen. Ich habe ihn eingeladen mich zu begleiten, im Juni, nach Vucjak. Seit dem Tag arbeiten wir zusammen. Der Mann, der die ersten Antimigrant-Demonstrationen auf die Beine gestellt hat, sitzt nun nachts weinend vor mir und sagt: „Mein Herz tut mir weh. Ich hatte die Information, dass eine Frau mit zwei Kindern und ihrem Mann in den Bergen ist. Ich habe alles getan, aber ich habe sie nicht gefunden. Wir müssen weitermachen, mein Freund“.  

Last days of camp Vučjak

Zlatan ist für ein paar Tage in Deutschland. Er bekommt eine neue Prothese. Seit Monaten arbeite ich auch daran. Das Geld ist fast zusammen. Es fehlen nur noch ein paar tausend Euro. Dafür habe ich ein Sonderkonto. Ebenso für die Flüchtlingshilfe. Es ist alles eine Privatinitiative. Eine NGO zu gründen, dafür war die Zeit nicht da. Es musste sofort beginnen.

Es gibt keine Tage, ich habe kein Zeitgefühl mehr. Es gibt nur noch Situationen, die wie in einer Kette aufeinanderfolgen. Einkaufen frisst viel Zeit, dann fahren wir in die Berge des Plesevica Gebirges zwischen Kroatien und Bihac. Wir fahren mit Allrad durch 30 Zentimeter Schnee und dann zurück von der Grenze Richtung Bihac. Es war nur eine Gruppe von Männern, die wir da oben versorgt haben. Dann sehen wir plötzlich zwei Gestalten, dort wo der Schnee geschmolzen ist. Näherkommend erkennen wir, dass es drei sind. Der Dritte ist noch so klein, dass wir ihn erst nicht gesehen haben. Omar aus Syrien. Er ist 1 Jahr und 6 Monate alt. Die Familie ist zum „Game“ gestartet, also den Versuch in die EU zu gelangen. Sie haben nichts zu essen, keine Schlafsäcke, völlig durchnässte Turnschuhe, keine Taschenlampen. Die Temperaturen liegen unter 0 Grad. Im Sommer dauert es von hier 12 Tage bis Italien. Erst dort sind sie sicher. Dann sage ich den Eltern: „Bitte geht nicht weiter, ihr könnt dort oben sterben. Es ist zu kalt“. Die Mutter will mir ihr Kind geben, damit ich es über die Grenze bringe und ich es ihr auf der anderen Seite zurückgebe. Ich erkläre ihr, dass ich das nicht tun kann. Wenn ich erwischt werde, dann kann ich diese Arbeit nicht mehr machen. Dann sitze ich im Gefängnis. Deshalb tue ich es nicht. Der schwerste Augenblick, seit ich am 14.6. angefangen habe, auf der sog. Balkanroute zu helfen. Das tut weh, noch immer. Wir verabschieden uns. Die Familie strahlt uns an. Der kleine Omar schiebt seine Lippen nach vorne. Er sieht mich an und will einen Kuss. Den bekommt er. Er sabbert. Ich kann mir seinen Speichel nicht von den Lippen wischen. Er trocknet langsam. Es ist kein Dreck, wie in Vujcak. Es ist ein zarter Kuss, er schmeckt nach Vertrauen und Liebe. Das ist mein Lohn, für die vergangenen Monate und ich bin mehr als zufrieden damit. Seit den sieben Kindern an der Landstraße und dem Kuss im Wald kann ich nicht mehr denken: „Gut das es kein Krieg ist“. Es ist ein Krieg. Niemand will diese Menschen und Kroatien macht die Drecksarbeit für die EU. Das Nichthandeln kostet Menschenleben. Wie viele wird man vermutlich erst wissen, wenn die Knochen in den Wäldern gefunden werden, wenn alles vorbei ist. Wird es das jemals sein? Die Kriege gehen weiter, die Klimaveränderungen bringen Menschen dazu, weiter zu ziehen. Migration ist so alt wie der Mensch. Da ist nichts Neues dran. Seit 2017 gibt es die sogenannte „Migrantenkrise“ in Bihac und Europa tut nichts, außer 36 Millionen Euro an die IOM zu schicken. Auf die Idee, nachhaltig zu prüfen, was mit diesem Geld passiert, kommt niemand. Bosnien, besonders die Stadt Bihac, fühlt sich allein gelassen. Genauso ist es. Bürgermeister Surhet Fazlic war mit der Situation im Juni überfordert und ist es noch immer. Der Druck in der Stadt war explosiv hoch. Er musste etwas tun, um Druck abzulassen. So kam Vucjak. Fazlic musste männliche Flüchtlinge aus der Stadt herausbekommen. Aber eine Müllhalde? Vor einigen Jahren hat man das Problem mit den Straßenhunden ähnlich gelöst. Sie wurden eingesammelt und auf die aktuell genutzte Müllhalde transportiert. Dort verrecken sie langsam. Doch er wollte noch etwas: Ein deutliches Zeichen setzen: Wir wollen Euch hier nicht – die Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt – verschwindet hier.

Das tun viele, jeden Tag. Dann kommen irgendwann Nachrichten per Facebook: „Thanks Doctor for all you have done for us. I am in Paris now and i pray for you every day“. (Die Menschen von Vucjak nennen mich Doktor, obwohl sie wissen, dass ich Journalist bin). Die Grenzen sind nicht zu. Einige schaffen es. Vielleicht erst nach dem 20. Versuch, aber es ist möglich. Immer noch. Diejenigen, die es nicht schaffen, stehen irgendwann wieder vor uns. Als wir die Ambulanz in Vucjak noch hatten, waren es jeden Tag Dutzende und sie erzählten alle dasselbe und zeigten uns ihre Wunden. Wenn die kroatische Grenzpolizei sie erwischt, werden sie zuerst in Bussen zur Grenze zurückgefahren, wenn sie nicht sowieso direkt an der Grenze aufgegriffen wurden. Dann müssen sie ihre Rucksäcke und Schlafsäcke auf einen Haufen werfen. Kroatische Polizisten zünden den Haufen an. Dann werden sie nach Geld durchsucht. Wer welches hat, hat es dann nicht mehr. Die Smartphones werden ihnen geraubt oder zerstört. Dann werden sie mit Knüppel verprügelt. Sind Hunde dort, werden diese auf Flüchtlinge gehetzt. Manchmal schießen sie hinterher, wenn die Menschen den Befahl bekommen haben, zu rennen. Vielen nehmen sie die Schuhe ab, trotz des eisigen Wetters, immer noch. Paradox ist, das die Gesetze der EU diesen Menschen das Recht einräumen, in Europa zumindest einen Asylantrag stellen zu können. Das dürfen sie nicht. Stattdessen tut die kroatische Polizei das, was sie als Auftrag von der EU bekommen hat: Die Grenzen schützen. Die EU beauftragt also eines ihrer Mitglieder, gegen ihre eigenen Gesetze zu verstoßen. Was sind die dann noch  wert? Was ist die EU dann noch wert?

Last days of camp Vučjak

Mittlerweile gibt es eine Gruppe von EU Parlamentarieren um Bettina Vollath (MEP Österreich), Dietmar Köster (MEP Deutschland) und Erik Marquardt. Vollath und Marquardt waren sogar in Bihac, um sich ein eigenes Bild zu machen. Starke Menschen, gute Politiker, die versuchen die Dinge zu ändern. Die Gruppe muss größer werden, damit das gelingt. Danach waren wir in Brüssel zum Gegenbesuch. Ich hatte 22 Minuten Redezeit in einem Plenum. Hier ein kurzer Auszug:

„Die Information der europäischen Politik ist uns ebenso gelungen wie die Information der Medien und die tägliche, direkte humanitäre Hilfe. Das Ergebnis der Politik bisher: Null. Ergebnisse messe ich daran, ob sich für auch nur einen Flüchtling etwas verbessert hat. Ich kenne keinen. Deshalb sage ich das so deutlich. Null. Uns allen dürfte klar sein: Es geht hier um tausende Einzelschicksale, es geht um Flüchtlinge, die Einwohner der Stadt Bihac, um kroatische Polizisten die massenweise und täglich Straftaten begehen und es geht um noch etwas für das es sich aus meiner Sicht auch zu kämpfen lohnt, ja gekämpft werden muss:

Die Idee der europäischen Union. Die EU selbst zerstört sie gerade. Die Würde eines jeden Menschen zum Beispiel, die Menschenrechte, Freiheit, Frieden. Wenn Du in Vucjak stehst, weißt Du, es ist nichts weiter als wertloses Geschwätz. Würde und Menschenrechte müssen auch für die Menschen vor der Tür gelten. Oder sind das die Anderen – für die all das nicht gilt? Ich hatte einige von ihnen im Arm, als sie geweint haben, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Fühlt sich nicht anders an, als wäre es einer von Euch. Das Europa, wie wir es kennen, wird sterben weil die Werte die es zum Leben erweckt haben, mit Füßen getreten werden. Wir brauchen eine klare Strategie – all das ist ja erst das Vorspiel. Was soll denn an den EU Außengrenzen passieren, wenn Erdogan die Grenzen öffnet und 3,9 Millionen Flüchtlinge Richtung EU ziehen lässt? Wollen wir dann statt Pistolen Maschinengewehre für die Kroaten finanzieren? Wollen wir wirklich, das das Nichthandeln in letzter Konsequenz dazu führt, das Grenzschutz Mord wird? Allein in diesem Jahr bis Ende September: 20 Tote Flüchtlinge in der Leichenhalle in Bihac – Todesursache bei 16 davon: äußere Gewalteinwirkung. Gefunden wurden die Leichen auf der Route der Flüchtlinge, im Wald und in Flüssen. Wer sind die Täter? Fragt das mal jemand, oder besser, ermittelt da jemand? Nein. Es reicht und zwar schon lange!“

Mittlerweile ist Vucjak geschlossen und die Menschen sind in Camps untergebracht. Die Politik hat ihren Teil dazu beigetragen. Wir den Unseren. Es hat also funktioniert, dieses unfassbare Elend Vucjak zu beenden.  

Während ich schreibe, packt Dean den Wagen. Wir fahren jetzt wieder in die Berge. Dort ist die Front des stillen Krieg gegen Geflüchtete. Er ist nur still, wenn man wegsieht. Ich höre das Kind von der Landstraße noch immer schreien. Das werde ich wohl nicht mehr los. Nie wieder.