«Manchmal ist Infrastruktur erst schön, wenn sie rückgebaut wurde. Zum Beispiel das AKW Mühlheim-Kärlich»

Die Geschichte des tragischen Giganten ist auch die Geschichte eines Zwerges, der mehr als vier Jahrzehnte in seinem Schatten stand.

1838 entstand am Rhein nördlich von Koblenz die Kapelle «Am Guten Mann», ein einschiffiges Sakralgebäude aus ortsüblichem Basalt und Tuff. Milder Katholizismus.

Ab Januar 1975 erhob sich in direkter Nachbarschaft des Kapellchens eine Kathedrale der neuen Zeit, ein grauer Klotz aus 500.000 Tonnen Stahlbeton, das erste und einzige Atomkraftwerk von Rheinland-Pfalz. Aggressiver Technizismus.

Mit der Kapelle teilte, von der Kapelle borgte sich das AKW Mühlheim-Kärlich nach zehnjähriger Bauzeit die Postadresse: «Am Guten Mann».

Das AKW war ein Lieblingsprojekt von Helmut Kohl und, vermutlich, auch von Betreiber RWE. Die Genehmigung wurde wider besseres Wissen erteilt, weil der Meiler sich unmittelbar auf der unterirdischen Verwerfungslinie zweier tektonischer Platten befindet. Es wackelt oft in der Eifel, dann klirren in der Küche die Gläser im Schrank. Mühlheim-Kärlich aber musste sein. Ein geschaffener Fakt.  

1985 liefen die Turbinen erstmals Probe, 1987 lieferte der Druckwasserreaktor erstmals Strom – und wurde nach nur 100 Tagen wieder heruntergefahren. Grund war eine entsprechende Verfügung des Bundesverwaltungsgerichts, dem aber jahrelange Klagen, Prozesse, Aktionen und Demonstrationen vorausgegangen waren. Man kann sagen, dass eine ökologisch informierte Zivilgesellschaft das AKW vom Netz genommen hat.

Seitdem stand Mühlheim-Kärlich in der idyllischen Landschaft herum und produzierte statt der angepeilten 1.300 Megawatt genau gar keinen Strom. Erst 2004 leitete RWE den Rückbau des monumentalen Menetekels ein. «Rückbau» klingt exakt so aufwändig und technisch, wie es nun einmal ist. Und doch hat dieses Schauspiel auch komödiantische Qualitäten.

In den vergangenen Monaten ging es dem Wahrzeichen an den Kragen, dem Kühlturm. Was schade ist, weil sich das landschaftsprägende Ungetüm für allerlei andere Nutzungen angeboten hätte. Als Indoor-Kletteranlage beispielsweise, als Denkmal der Industriekultur oder auch Mahnmal für einen teuren Irrweg in der Energiepolitik.

Geradezu drollig gestaltete sich das Schauspiel, als der Spezialbagger ins Spiel kam. Das ferngesteuerte Gerät klammerte sich wie ein Käfer in die Krone, krabbelte wie eine nimmersatte Raupe im Kreis und knabberte den Beton einfach weg. Nur der letzten 80 von 167 Metern entledigte man sich klassisch durch Sprengung, ein seufzendes Insichhineinsinken der Massen.

Ab hier aber wird aus der grotesken Komödie mit heiteren Einlagen ein dystopischer Problemfilm mit langen Dialogen und endlosen Kamerafahrten durch unterirdische Salzstöcke. Zwar sind die bösen Brennstäbe seit 2002 entfernt. Beim Rückbau aber fallen zusätzlich bis zu 3000 Tonnen radioaktiv verseuchten Gerölls an, Stahl, Beton, Stahlbeton. Material mithin, das ebenfalls weg muss. Wenn ab voraussichtlich 2030 die Kapelle «Am Guten Mann» wieder alleine am Rhein steht, werden die Überreste seines mächtigen Nachbarn noch immer durch die Republik geistern.

Gemessen an der Größe, Dringlichkeit und (bei einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren) Nachhaltigkeit dieses Problems erstaunt, wie wenig sich die Menschen für eine tatsächliche Lösung interessieren. Es gibt in ganz Deutschland überhaupt nur einen einzigen Studiengang dafür, am Institut für Endlagerforschung an der TU Clausthal-Zellerfeld. Vorlesungen in «Nuclear Waste Management» finden nicht einmal im Hörsaal statt. Ein winziges Büro der Bibliothek reicht aus.

Von einer «perfekten Lösung» spricht auch hier niemand. Einstweilen empfohlen wird aber Schacht Konrad, ein ehemaliges Eisenbergwerk. Dort sollen auch die 3.000 Tonnen strahlenden Bauschutts von Mühlheim-Kärlich ihre letzte Ruhestätte finden. Unumstritten ist auch das nicht, speziell vor Ort in Salzgitter regt sich Widerstand: «Not in my back yard!»


Arno Frank lebt als freier Autor (u.a. Der Spiegel) in Wiesbaden.

This article is licensed under Creative Commons License