Kurz nach der Europawahl werden die Karten in Brüssel neu gemischt. Die hohe Wahlbeteiligung und das starke grüne Wahlergebnis zeigen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein europäisches Deutschland, das sich für Reformen einsetzt. Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, analysiert die Situation nach der Europawahl.

Als der Soziologe Ulrich Beck 2012 einen kleinen Band unter dem Titel „Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise“ herausbrachte, war schon der Titel ein Urteil über die Rolle Berlins bei der Rettung Griechenlands aus der Eurokrise. Mit der Oktroyierung einer im Wesentlichen von Deutschland auferlegten Austeritätspolitik sah Beck eine Dominanz eintreten, vor der Thomas Mann 1953 noch gewarnt hatte: Ein deutsches Europa.
Aber die erstrebenswerte Alternative, die Thomas Mann wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg skizziert hatte – ein europäisches Deutschland, war zugleich ebenso Realität geworden. Europa genoss in Deutschland nicht nur hohe Akzeptanz, sondern es bot geradezu einen Königsweg aus nationalistischer Dumpfheit und Dominanzgefahr. Nun aber schickte sich eben jenes zurückgenommene europäische Deutschland an, aufgrund seiner ökonomischen Stärke ein deutsches Europa zu formen. Schließlich war es der berühmte deutsche Steuerzahler, der nun für die „faulen“ Griechen zahlen sollte, wie die BILD-Zeitung unzutreffend, aber wirkungsvoll zusammenfasste.
Seit dieser Krise, in der sich die leicht entzündlichen Mythen über nationale Charaktere mit ökonomischen Ungleichgewichten amalgamierten, hat sich die Lage in dreifacher Hinsicht verschärft:
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Populistische Krisengewinnler zogen über den Kontinent und sorgten in einigen europäischen Ländern für den Raubbau am Rechtsstaat und an den Freiheitsrechten für Meinung, Medien und Minderheiten. Sie ersetzten die europäische Idee durch einen aggressiven Aufguss nationalistischer, rassistischer und chauvinistischer Gestrigkeiten, die sie in den Mantel eines Geredes von „Kultur“, „Identität“ und „Souveränität“ kleideten. Der politische Rechtsruck der letzten Jahre bedroht den europäischen Zusammenhalt und wird mit der Neukonstituierung der Europäischen Kommission auch die Brüsseler Institutionen erreichen. Mindestens Ungarn, Polen und Italien werden jeweils linientreue, EU-skeptische Kommissare entsenden.
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Deutschland ist nicht mehr Europas Lokomotive, sondern eher sein Bremsklotz. Auch wenn die Unionsparteien, deren Selbstbild als Helmut Kohls Erben sich zunehmend von der Realität entfernt, klar zum europäischen Projekt stehen: Es mangelt an Visionen der alten politischen Mitte für ein Europa, das attraktiv ist für seine Bürgerinnen und Bürger. Die Verständigung mit Frankreich, dessen Präsident nun seinerseits auf die europäische Karte als Rettung aus der nationalen Misere setzt, ist spärlich, schmallippig und uninspiriert.
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Die globale Machtlandschaft verändert sich rasant. Aus dem großen Reich im Osten schiebt sich die Neue Seidenstraße immer tiefer in den europäischen Raum hinein und mit jedem neuen Tweet aus dem Weißen Haus lockert sich der bisherige enge Schulterschluss zwischen den USA, Europa und den multilateralen Organisationen. Während zwischen US-Administration und China ein teurer Handelskrieg tobt, gerät Europa in eine Sandwich-Position. Russland hingegen profitiert bis auf weiteres von der großen neuen Verunsicherung und füllt jenes Vakuum, das die USA oder Europa lassen, siehe Idlib, Sewastopol oder Donezk.
Zu allen drei Verschärfungen gibt es jedoch auch gegenläufige Tendenzen:
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Die Europäische Union ist weltweit der attraktivste Raum für Investitionen. Das liegt nicht zuletzt genau an jenen verlässlichen demokratischen Rahmenbedingungen, die anderswo gefährdet oder nicht vorhanden sind. Es liegt an Umweltstandards und Investitionstöpfen. Das Brexit-Drama ist ein – zwar tragischer – aber deutlicher Beweis dafür, dass Integration besser ist als nationale Abschottung. Die Ergebnisse der EU-Wahl, insbesondere die Stärke der grünen Fraktion, begünstigen ein Investitionsklima, das technologische Innovation mit Klimaschutz, Bürgerrechten und sozialen Standards verbindet in Richtung einer ökologisch-sozialen Industriepolitik - Antikorruptionskampf und Verhinderung des Missbrauchs von EU-Mitteln inklusive. So haben die Bürgerinnen und Bürger in der Slowakei und in Rumänien gerade erst bewiesen, dass sie Wert auf die Stärke des Rechtstaates legen.
Finanziert werden müssen also Investitionen in demokratische öffentliche Räume und nachhaltige Infrastrukturen in ganz Europa. Der Export-Weltmeister muss schon im eigenen Interesse für konsequente Investitionen in eine solche ökologisch-soziale Industriepolitik – also für einen Green New Deal – aktiv werden.
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Die Europäische Union wird sich nur verändern, wenn Deutschland die EU wieder aktiv mitgestaltet. Die Geschichte zeigt: Deutschlands Einsatz ist nicht hinreichend, aber notwendig für europäische Reformen. Deutschland trägt daher eine herausgehobene europapolitische Verantwortung. Europa muss seine Demokratie verteidigen, die ökologische Krise verhindern, soziale Ungleichheit bekämpfen und weltpolitikfähig werden. Der im Koalitionsvertrag der Bundesregierung versprochene „Aufbruch für Europa“ bedarf dringend der Umsetzung. Dafür wird der Rückenwind im Land immer stärker, vor allem aus den jüngeren Generationen. Die Mehrheit der Jüngeren wünscht sich ein europäisches Deutschland, das Vorreiter und Motor sozial-ökologischer und progressiv-demokratischer Reformen in Europa wird, um die großen Zukunftsthemen, die sich nicht in nationalen Grenzen lösen lassen – Digitalisierung, Migration, Klimakrise – anzugehen.
Die Bürgerinnen und Bürger sind politisch längst weiter. Studien belegen, dass das Argument, Deutschland sei der Zahlmeister Europas, nicht mehr gekauft wird. Die Angst vor einer Transferunion hinterlässt – das hat die Eurokrise gezeigt – am Ende nur Verlierer. Alle Argumente, die Menschen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen, sind Gift für Demokratie und Zusammenhalt in Europa. Austeritätspolitik braucht einen vernünftigen Ausgleich mit sozialem Zusammenhalt und Zukunftsinvestitionen. Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind durchaus bereit, mehr Geld in Europas Zukunft zu investieren.
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Der Anstieg der Wahlbeteiligung auf über 50 Prozent im europäischen Durchschnitt wirkt als wichtigste Botschaft dieser Europawahl nach. In Deutschland wählten 13 Prozent mehr als 2014, in Polen stieg die Quote um Prozent, wie auch in Rumänien - selbst Großbritannien, das eigentlich schon ausgetreten sein wollte, verzeichnete die zweithöchste Beteiligung seit seinem EU-Beitritt. Die demokratische Legitimation des Parlamentes ist damit höher als je zuvor und verleiht dem Parlament Stärke im Machtkampf mit dem europäischen Rat bei der Besetzung der Spitzenämter. Für wen auch immer die Menschen votiert haben - Europäische Bürgerinnen und Bürger wissen die EU als politischen Gestaltungsraum zu schätzen.
Der befürchtete Rechtsruck ist ausgeblieben. Die pro-europäischen Kräfte haben ihre politische Gestaltungsmacht erhalten können. Natürlich wäre nichts fataler als sich jetzt beruhigt zurückzulehnen. Aber: Eine Welle anti-populistischer Bewegungen rollte über den Kontinent, die sich weder mit dem status quo des Weiterwurschtelns, noch mit dem zunehmenden Aufstieg von rechtsautoritären und antiliberalen Kräften abfinden wollen. Die Erfolge dieser Bewegung zeigen sich auch in den hohen Stimmenzugewinnen der Liberalen, vor allem aber denen der Grünen in Deutschland, Irland, Benelux und Frankreich. Die neue politische Unübersichtlichkeit im Parlament fragmentiert den politischen Prozess, aber sie bietet auch Chancen. Wenn konstruktive Kompromisse gelingen, ist das ein Zugewinn an Glaubwürdigkeit für die Demokratie.
Die demokratische Unruhe, die im Parlament angekommen ist, setzt sich auf der Straße fort: Europa- und weltweit, gehen junge Menschen auf die Straße, weil sie sich um ihr ökologisches Überleben sorgen. Zugleich gehen Menschen auf die Straße, die sich um ihr soziales Überleben sorgen. Der Kampf für eine glaubwürdige, an Teilhabe orientierte ökologische Politik ist noch nicht entschieden. Fest steht aber, dass die ökologische Frage nicht länger gegen die soziale ausgespielt werden darf. Wenn die ökologische Frage nicht mehr verniedlicht wird, eröffnen sich für letztere neue Chancen. Die Debatte um die soziale Umverteilungswirkung eines CO2-Preises ist dafür das beste Beispiel.
Genau darin läge die Vision der politischen Mitte für die Zukunft Europas: Aus dem Aufbruch in eine soziale, ökologische und politisch-inklusive Neudefinition europäischen Zusammenhaltes kann ein politisches Momentum entstehen, das hierzulande das europäische Deutschland aktiviert und ein Europa stärkt, das irgendwann auch wieder in der Lage sein muss, die Finalitätsfrage aufzunehmen und die Europäischen Verträge progressiv weiterzuentwickeln.