Vom Zahlmeister zum Zukunftsmeister

Zusammenfassung

Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich ein aktiveres und kooperatives Verhalten Deutschlands in der Europäischen Union. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie „Vom Zahlmeister zum Zukunftsmeister - Ein neues Selbstverständnis Deutschlands in der EU“, die von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Das Progressive Zentrum durchgeführt wurde. ► Zu allen Inhalten der «Selbstverständlich europäisch?!» Studie.

Europa-Fahne

Im Jahr der Europawahlen steht die Europäischen Union nach innen wie nach außen vor enormen politischen Herausforderungen. Bei deren Bewältigung kommt Deutschland als größte Volkswirtschaft und bevölkerungsreichstes Mitgliedsland eine zentrale Rolle zu. Impulse für Reformen und eine Weiterentwicklung der gemeinsamen europäischen Politik kamen in letzter Zeit insbesondere von Frankreich.

Deutschland reagierte dagegen mehr, als dass es agierte. Dabei ist zu beobachten, dass der deutsche Europadiskurs von der Behauptung geprägt ist, Deutschland sei „Zahlmeister Europas“ oder könnte in Zukunft dazu gemacht werden. Trotz eines ambitionierten Europakapitels im Koalitionsvertrag reagierten Vertreter/innen der Regierungsparteien zuletzt auf Reformvorschläge nach alten Mustern und wiegelten sie mit dem Hinweis auf „die deutschen Steuerzahler“ ab. Auch in einigen deutschen Leitmedien wird so mancher Verdacht geschürt, bei Reformvorschlägen von EU-Partnern ginge es darum deutsche Geldtöpfe anzuzapfen.

Korrekt ist, dass Deutschland der größte Nettozahler in den Haushalt der EU ist. Aber die Exportnation profitiert auch in großem Maße von der EU und dem Binnenmarkt. Dass die EU-Mitgliedschaft finanziell ein schlechter Deal für Deutschland ist, lässt sich mit den Daten verschiedener Wirtschaftsinstitute und der Europäischen Kommission nicht belegen - im Gegenteil. Zudem blendet die „Zahlmeisterthese“ jeglichen politischen Nutzen der europäischen Gemeinschaft für Deutschland aus. Trotzdem scheint dieser Mythos mitverantwortlich für die gegenwärtige zurückhaltende deutsche EU-Politik zu sein.

Die vorliegende Studie hat untersucht, welches Selbstbild die deutschen Bürgerinnen und Bürger in Hinblick auf die Rolle Deutschlands in der EU haben. Ist der „Zahlmeister“ eine existierende Befürchtung unter den Deutschen oder nur eine rhetorische Figur, mit der für einen bestimmten europapolitischen Kurs geworben wird? Mit Hilfe der Erhebung von Einstellungen der deutschen Bevölkerung, möchte die Studie zur Entwicklung eines zukunftsgerichteten und realistischen deutschen Selbstbilds in Europa beitragen.

 

Cover von Zahlmeister zum Zukunftsmeister

Studie "Vom Zahlmeister zum Zukunftsmeister"

Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich ein aktiveres und kooperatives Verhalten Deutschlands in der Europäischen Union. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie „Vom Zahlmeister zum Zukunftsmeister - Ein neues Selbstverständnis Deutschlands in der EU“, die von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Das Progressive Zentrum durchgeführt wurde. Die repräsentative Umfrage zeigt zudem: Das Selbstverständnis der Deutschen zur Rolle ihres Landes in Europa entspricht nicht dem Mythos vom „Zahlmeister Europas“. Stattdessen reflektiert die Mehrheit die EU-Mitgliedschaft weit über den wirtschaftlichen Nutzen hinaus, sie hält die deutschen Finanzbeiträge zur EU nicht für zu hoch und wünscht sich für bestimmte politische Bereiche mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern für eine gemeinsame Politik.

Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

Was die Deutschen denken

Für diese Studie wurde eine repräsentative Umfrage und mehrere Gruppendiskussionen im Januar 2019 – rund vier Monate vor den Europawahlen – durchgeführt. Das sind die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage:

Eine klare Mehrheit der Deutschen wünscht sich zukünftig eine kooperative und aktive Rolle Deutschlands in der EU:

  • Jeweils über 75% der Befragten wollen, dass sich Deutschland künftig aktiver in der EU und kooperativer gegenüber den europäischen Partnern verhält, während 22,6% ein dominantes Auftreten gegenüber den anderen EU-Ländern und 19,8% ein weniger aktives Verhalten präferieren.
  • Die Deutschen sind dagegen gespalten bei der Frage, ob sich Deutschland in den letzten 10 Jahren dominant (47,8 %) oder kooperativ (49,7 %) gegenüber den anderen EU-Mitgliedern verhalten hat.

Die Deutschen sehen den Nutzen der EU Mitgliedschaft in Linie politisch und in zweiter Linie wirtschaftlich:

  • 76,6% sind der Meinung, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann. 66% glauben, dass Deutschland unterm Strich wirtschaftlich mehr Vor- als Nachteile von der EU hat.
  • Allerdings fällt die Mehrheit, die an den wirtschaftlichen Nutzen der EU glaubt, bei Menschen mit niedriger formaler Bildung (56,4%) und ländlicher Wohnlage (61,2%) geringer aus als bei den Befragten mit Abitur (70%) und urbaner Wohnlage (74,2 %).

Eine Mehrheit der Deutschen hält den finanziellen Beitrag Deutschlands zum EU-Budget nicht für zu hoch:

  • 60,7 Prozent der Befragten halten den finanziellen Beitrag angemessen (51,1%) oder zu niedrig (9,6%). 36,4% sind dagegen der Meinung, dass Deutschlands Beitrag zu hoch ist.
  • Bei den Befragten mit niedrigem formalen Bildungsabschluss (50%) und ländlicher Wohnlage (48,3%) sind es sogar noch mehr dieser Meinung.  Unter Menschen mit hoher Bildung (54,4%) und urbaner Wohnlage (62,2%) sind hingegen die Anteile, die den Beitrag für angemessen oder zu niedrig halten, überdurchschnittlich hoch.
  • Bei den parteipolitischen Lagern hält eine große Mehrheit in der Anhängerschaft von Grünen, SPD, Linken und CDU/CSU den deutschen Beitrag für angemessen, während bei AfD und FDP relative Mehrheiten den Beitrag für zu hoch einschätzen.

Eine überwältigende Mehrheit der Deutschen wünscht sich mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern in bestimmten Politikfelder:

  • Über 90% der Befragten wünschen sich mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern für spezifische Politikfelder. Oben auf der Agenda der Bürgerinnen und Bürger stehen Klima- und Umweltschutz, Forschung und Bildung, Verteidigung und Sicherheit sowie Arbeit und Soziales.

Zeit für ein neues Selbstbild: Zukunftsmeister Europas

Die Befunde der Umfrage zeigen, dass die Zahlmeisterthese im Widerspruch zu den Einstellungen in der deutschen Bevölkerung steht. Die Mehrheit der Deutschen reflektieren die EU-Mitgliedschaft weit über den wirtschaftlichen Nutzen hinaus, sie halten die deutschen Finanzbeiträge zur EU nicht für zu hoch, wünschen sich für bestimmte politische Bereiche mehr finanzielles Engagement von Deutschland und den EU-Partnern.

Die Zeit scheint also reif für ein neues, zukunftsorientiertes und über rein ökonomische Parameter hinausgehendes Selbstbild Deutschlands in Europa. Eine solche Haltung sollte sich insbesondere im deutschen Europadiskurs derjenigen widerspiegeln, die den Zahlmeistermythos bislang auf dem Rücken des europäischen Gemeinschaftsgeistes strategisch als finanzielles Argument gegen unliebsame politische Maßnahmen eingesetzt haben: Statt Europa als eindimensionale Plus-Minus-Rechnung zu „framen", wird es dann zur Möglichkeit, im politischen Wettstreit über sinnvolle Maßnahmen die Zukunft zu gestalten. Als Diskussionsgrundlage für eine neue Haltung Deutschlands in und zur EU sollen folgende vier Elemente dienen, die sich aus den Studienergebnissen ableiten lassen.

  • Verantwortung für Zusammenhalt: Als Profiteur von der europäischen Gemeinschaft liegt Europas Zusammenhalt gleichermaßen in der Verantwortung und im Interesse Deutschlands. Der gegenwärtigen multiplen Spaltung Europas sollte Deutschland aktiv entgegen wirken. Dazu gehören unter anderem die Verringerung der ökonomischen Ungleichgewichte in der EU, die Bekämpfung der Stadt-Land-Spaltung wie auch die Verteidigung des Gemeinschaftskonsenses über rechtsstaatliche und demokratische Grundprinzipien.
  • Kooperativer Gestaltungsanspruch: Deutschland sollte seiner starke Position in der EU zuvörderst als Möglichkeit zur politischen Gestaltung gemeinsam mit den EU-Partnern verstehen. Deutschlands Passivität steht im Widerspruch zu seinem Interesse an einer stabilen Wirtschafts- und Währungsunion. Dabei sollte die deutsche Rolle gleichermaßen von Aktion und Kooperation geprägt sein, denn die Zukunft kann Europa nur gemeinsam meistern
  • Investition in die Zukunftsfähigkeit: Deutschlands politischer Gestaltungsanspruch sollte sich in erster Linie auf die Zukunftsfähigkeit Europas beziehen. Bei wichtigen Zukunftsthemen wie dem Klimaschutz, Digitalisierung aber auch den Herausforderungen, die den Zusammenhalt Europas betreffen (z.B. soziale Sicherheit, Bildung, Infrastruktur, innere Sicherheit), sollte Deutschland wieder zum Impulsgeber werden.
  • Sicherung der Handlungsfähigkeit: Ein handlungsunfähiges Europas ist ein schwaches Europa. Es sollte deshalb zum deutschen Selbstverständnis gehören, Blockadezustände zu verhindern. Dazu sollte das Einstimmigkeitsprinzip auch bei außen- oder steuerpolitischen Entscheidungen durch das Mehrheitsverfahren ersetzt werden. Zudem kann Deutschland, wo es sich anbietet, mit Frankreich und anderen EU-Partnern mit der Methode der „verstärkten Zusammenarbeit“ vorangehen.

Europa ist das Friedens- und Demokratieprojekt des 20. Jahrhunderts, jetzt muss diese Errungenschaft auch für das 21. Jahrhundert gesichert werden. Die Zukunftssicherung bedarf nicht nur neuer Ausgaben, sondern vor allem auch strukturelle Reformen und eine Umverteilung im EU-Budget – im Sinne einer nachhaltigen Politik, die Frieden, Demokratie, Wohlstand und die ökologischen Grundlagen unseres Lebens sichert. Deutschland als größtes und wirtschaftlich stärkstes Mitgliedsland muss dazu seinen Beitrag leisten. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger ist bereit dazu.


Methodische Vorgehensweise

Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat für diese Studie 5.000 Personen zwischen dem 23. und 25.1.2019 online befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren. Zudem wurden drei 90-minütige Fokusgruppen von pollytix research durchgeführt. Genauere Angaben.