Zweiter Brief an Samira

Lange Zeit hat die westliche Welt die Krise im Innern Syriens ignoriert. Erst, nachdem die USA in den Konflikt eingreifen, änderte sich dies. Yassin Al Haj Saleh beschreibt, wie sich die Situation durch die Globalisierung des Konflikts verändert und Syrien zum Epizentrum einer von regionalen und internationalen Kräften genährten Gewalt wird. Dies ist der zweite von elf Briefen des Autors an seine verschwundene Frau Samira.

 

Sammour,

denkst du genau wie ich manchmal über die schicksalhaften Zufälle nach, die wir erlebt haben? Nur einige Tage, nachdem ich Damaskus verließ, begann das Regime nach dir zu suchen (tatsächlich keinen Tag früher während der zwei Jahre, die wir im Untergrund verbracht haben). Ahmad wurde am 10. Juli 2013, genau an dem Tag, an dem ich Douma verlassen habe, entführt, und Firas am 20. Juli, als ich auf dem Weg nach Rakka war. Die Belagerung der Ost-Ghouta wurde am Vorabend des Opferfestes 2013, als ich auf dem Weg von Rakka in die Türkei war, intensiviert.

Wenige Monate später wäre es möglich gewesen, dich mit Geldzahlungen – Geld ist der Schlüssel für jede verschlossene Tür im Assad-Staat – wieder zurück nach Damaskus zu schmuggeln, aber die Zeit war schneller als du, Sammour, denn innerhalb von zwei Monaten warst du verschwunden.

Wenn ich darüber nachdenke, was geschehen ist, kommt es mir vor, als hätten wir wie in normalen Zeiten gelebt und dabei nicht beachtet, dass die Rahmenbedingungen aussergewöhnlich waren und es unmöglich machten, die kommenden Ereignisse vorherzusehen Wir hätten viel vorsichtiger sein müssen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich überhaupt nicht nachgedacht habe, als ich dir – nur ein paar Stunden vor meinem Weggang – sagte, ich würde mich möglicherweise noch in der Nacht Richtung Norden auf den Weg machen. Wenn ich nachgedacht hätte, wäre ich nicht fortgegangen.

Von deiner Entführung erfuhr ich von Ziad Majed, der mich aus Paris anrief. Es war zehn oder elf Uhr morgens. Ich hatte den Computer noch nicht angeschaltet, ein Smartphone besaß ich damals noch nicht. Zuerst teilte er mir mit, dass Razan entführt worden sei. Kurz darauf rief er wieder an und sagte, dass auch du entführt worden seist, zusammen mit Razan. Ich weiß nicht, ob Ziad mich auf die schlechte Nachricht hatte vorbereiten wollen oder ob er beim ersten Anruf tatsächlich noch nicht wusste, dass ihr – du, Wael und Nazem – zusammen mit Razan gekidnappt worden wart.

Ich habe die Armee des Islam in Verdacht. Durch meinen Aufenthalt in Douma kenne ich die Armee des Islam und weiß, wie sie ihre Macht dort ausgebaut hat. Ich weiß von den Drohungen, die gegenüber Razan erfolgten als ihr dort wart und ich schon in Rakka. Razan war damals davon überzeugt, dass die Armee des Islam hinter diesen Drohungen steckte. Trotz meines Verdachts bat ich zuerst einmal alle anderen um Hilfe, die vielleicht hätten helfen können, erst danach richtete ich meinen Vorwurf, euch entführt zu haben, gegen die De Facto-Autorität in Douma. Das standhafte Leugnen der Verbrecher macht das ohnehin schreckliche Verbrechen noch schlimmer. Und vermutlich wurden sogar weitere Leute ermordet (zumindest Abu Ammar Khabiya), weil sie über die Umstände des Verbrechens Bescheid gewusst hatten. Auch auf Scheich Khalid Taffur, der als Richter mit dem Fall beschäftigt war, ist ein Mordversuch ausgeübt worden.

Nach dem Chemiewaffenangriff, dem darauffolgenden Deal und deinem Verschwinden bekam das Regime die Zügel wieder fester in die Hand. Gemeinsam mit seinen iranischen, libanesischen und irakischen Verbündeten und mit den vom Iran mobilisierten afghanischen Söldnern (einige von ihnen waren Gefangene, andere arme Flüchtlinge, denen man eine Aufenthaltsgenehmigung im Iran versprochen hatte) eroberte es Nubuk und Yabroud sowie weitere Gebiete zurück. Anfang 2014 erlangte der Islamische Staat die Kontrolle über ganz Rakka. Das spielte dem Regime in die Hände, und es ließ nun keine Gelegenheit aus, zu behaupten, man kämpfe ausschließlich gegen Radikale und Terroristen.

Der Chemiewaffendeal war meiner Meinung nach der Beginn einer Politik der Härte und Gewalt. Die Klugen versuchten nun, einen Fuß auf den Boden zu bekommen und politische Beziehungen zu einflussreichen Kräften zu knüpfen, während die politische und moralische Dimension unseres Kampfes tief unter einer dicken Schicht internationaler Dreistigkeit vergraben wurde. Liebe Sammour, manchmal denke ich, dass wir seit jener Zeit nichts mehr tun können. Aus und vorbei! Gegen ein Bündnis hasserfüllter bestialischer Feinde mit einer international erteilten Genehmigung, alles gegen ihre armen Untergebenen zu tun, was ihnen in den Sinn kommt, ist man machtlos.

Im Sommer 2014 kontrollierte der Islamische Staat plötzlich ganz Mossul im Irak und erbeutete die Waffen, die die irakische Armee bei ihrer Flucht zurückgelassen hatte, sowie Gelder und Equipment. Das Kalifat wurde ausgerufen, und der neue Kalif, Abu Bakr al-Baghdadi, hielt bei seinem einzigen öffentlichen Auftritt in einer Moschee in Mossul eine Predigt. Vermutlich das einzige, was den Menschen von diesem Auftritt in Erinnerung bleibt, ist die teure Schweizer Uhr am Handgelenk des Kalifen.

Der Islamische Staat erstreckte sich nun von einer Region westlich von Homs, Hama und Aleppo über Rakka und einige Teile von Dair al-Zor bis nach Mossul. Er hatte im Krieg das Licht der Welt erblickt und führte nun Krieg gegen alle. Hunderte Menschen wurden in Dair al-Zor und Rakka getötet und zahlreiche Opfer in eine Grube im Norden Rakkas, al-Houta genannt, geworfen. Eine der vielen Fronten des Islamischen Staates befand sich in Ain al-Arab/Kobani, einer Stadt mit einer kurdischen Bevölkerungsmehrheit nord-östlich von Aleppo.

Hier, liebe Sammour, mischten sich nun die Vereinigten Staaten in den Konflikt ein und warfen Waffen und Nahrungsmittel über der belagerten Stadt ab, die von ihren Bewohnern und kurdischen Unterstützern aus der Türkei und anderen Regionen verteidigt wurde. An erster Stelle erfolgte die Verteidiung durch die mit der PKK in der Türkei verbundene Partei der Demokratischen Union und durch die Hilfe der kurdischen Peschmerga-Truppen aus dem Irak. Vier Monate dauerte es, bis die Belagerung durchbrochen und der Islamische Staat geschlagen war. Die Stadt war nahezu vollkommen zerstört.

Liebe Sammour, ich glaube, dass die amerikanische Intervention die Phase des sunnitisch-schiitischen Konflikts beendete und eine neue Phase einleitete. Über die syrische Revolution wurde eine neue Schicht gelegt, die des Imperialismus, eine Schicht, deren legitimierende Doktrin »der Krieg gegen den Terrorismus« ist. Natürlich ging der sunnitisch-schiitische Konflikt weiter, und die Hisbollah beteiligte sich weiterhin an der Seite des Regimes am Krieg und am Töten. Und genauso setzten die Armee des Islam, die Nusra-Front und die Ahrar al-Scham ihren konfessionalistischen Diskurs fort.

Aber seit September 2014 waren es die Amerikaner, die die generelle Richtung des Verlaufs der Geschehnisse in Syrien bestimmten. Das Ziel eines Regimesturzes war 2013 nach dem mit den Russen ausgehandelten Chemiewaffendeal hintangestellt und mit der amerikanischen Intervention gegen den Islamischen Staat vollkommen bedeutungslos geworden. Das Regime übernahm die Doktrin von der Bekämpfung des Terrorismus und setzte sein Bombardement mit Fassbomben und Chlorgas fort, folterte weiter und tat alles, wonach ihm der Sinn stand, ohne Strafen fürchten zu müssen.

Wir waren die ganze Zeit Freiwild gewesen, doch nach dem Chemiewaffendeal war es sogar international toleriert, uns zu töten. Heute können wir sogar von einem Genozid sprechen.

Auch in der Ost-Ghouta wurde weiter bombardiert und gemordet, aber hier war noch ein anderer Konflikt entstanden: ein Krieg zwischen der Armee des Islam und anderen Gruppierungen, der viele Menschenleben gefordert hat. Erinnerst du dich noch an Abu Adnan Falitani, der bei uns war, als wir die Straßenkehraktion machten. Er wurde Ende April 2014, ein paar Monate nach eurer Entführung, von der Armee des Islam getötet.

Die Lage hat sich zu einem dauerhaften Blutbad entwickelt. Alles, was im Land geschehen ist, ist grausam und äußerst brutal, es sind schreckliche Gräueltaten verübt worden, aber es gab nur wenige Ereignisse von politisch-strategischer Bedeutung. So viele Tote und so wenige Ereignisse …, das, liebe Sammour, ist eine typische Folge der Globalisierung von Konflikten in unserer Region.

Wir befinden uns heute in einer Situation, die durch das Wegschauen der Welt entstanden ist. Wer weder über Macht, noch Geld, noch Verbindungen verfügt, hat nichts zu sagen. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Anhänger der Revolution und die Mehrheit der Syrer politisch kein Gewicht und keine Rechte haben. Syrien ist zum Epizentrum einer Gewalt geworden, die von regionalen und internationalen Kräften genährt wird. Einige dieser Kräfte versuchen, die Gewalt auf das syrische Territorium zu beschränken. Die Opposition konnte nichts tun, viele ihrer Mitglieder sind abhängig von regionalen und internationalen Mächten, die ihre Legitimität schwächten und ein einheitliches Handeln unterminierten. An vorderster Front stiegen Leute auf, von denen weder du, Sammour, noch ich, noch kaum jemand sonst jemals etwas gehört haben.

 

Samira Khalil und Yassin al-Haj Saleh

Briefe an Samira

Am 9. Dezember 2013 wurde Samira Khalil in Douma, einem Vorort von Damaskus, entführt. Sie ist bis heute verschwunden. Ihr Ehemann Yassin al-Haj Saleh ist syrischer Schriftsteller und Dissident und verbrachte 16 Jahre in einem syrischen Gefängnis. In dieser Reihe von Briefen schreibt er seiner Frau, wie sich die Lage in Syrien seit ihrem Verschwinden entwickelt hat. mehr...

Ein Jahr nach dem Eingreifen der Amerikaner intervenierten die Russen an der Seite des Regimes. Die oppositionellen Truppen hatten Idlib eingenommen und rückten in Richtung Sahl al-Ghab und die Küste vor. Auch Russland hat sich die »Bekämpfung des Terrorismus« auf die Fahnen geschrieben, doch es führt einen Krieg gegen alle oppositionellen Kräfte, für den Islamischen Staat interessiert es sich hingegen nicht.

Noch vor Ende des Jahres 2015 wurde Zahran Aloush getötet, möglicherweise durch eine russische Bombe. Wusstest du, dass er tot ist? An seine Stelle trat ein Mensch namens Abu Humam al-Buwaidani, der den Bürgerkrieg in der Ost-Ghouta gegen die anderen Gruppierungen fortgesetzt hat und dann versuchte, ein Einparteiensystem in seinem Emirat zu etablieren.

Ich habe vergessen, dir zu erzählen, dass sich zusammen mit den Amerikanern auch die Franzosen und die Briten und viele arabische Staaten am Krieg gegen den IS beteiligten. Keiner von ihnen ist mit großen Truppenkontingenten dabei, aber es ist eine internationale Koalition gegen den Islamischen Staat. China unterstützt das Regime mit Technik und Ausbildung. Die fünf Staaten des Sicherheitsrats sind also jetzt unsere Gäste. Auch wenn dir das seltsam vorkommen mag und du es nicht glauben kannst, liebe Sammour: So ist es. Es ist das Unmögliche, das geschieht.

Du aber wusstest vorher, wie sich die Dinge entwickeln würden. Du hattest in deinen Aufzeichnungen geschrieben: »Es ist ein Weltkrieg, aber gerichtet gegen ein Volk. « Es ist jedoch nicht länger so, dass »die Welt ihr Herz verschlossen hat und verrückt geworden ist«, wie du auch notiert hast. Die Geschichte ist die, dass ein Mörder geschützt wird, unter dem Vorwand, einen kleineren Mörder zu bekämpfen.

Die ganze Welt ist vereint gegen das Böse, den Islamischen Staat, dessen Kämpfer angeblich aus hundertundvier Staaten kommen. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass der Islamische Staat der verborgene Wunsch der Welt ist, der ersehnte Feind all jener Kräfte, die sonst vielleicht gegeneinander kämpfen würden. Ein solch mörderischer Konsens lässt für nichts anderes Raum als für Terrorismus!

Was ich damit sagen will, Sammour, ist, dass die Welt während deiner Abwesenheit einen rasanten Zusammenbruch erlebte, moralisch, rechtlich und politisch. Und dass das im Interesse der Entführer war, von Leuten wie al-Kaaka, Alloush, al-Shadhli, al-Dschulani, dem Kalifen al-Baghdadi und selbstverständlich von Baschar al-Assad. Solange die Welt in einem so miserablen Zustand ist, geht es ihnen gut. Je schlechter und kaputter alles ist, desto weniger fällt ihre Schlechtigkeit und Kaputtheit auf. Gäbe es ein Minimum an Gerechtigkeit auf der Welt und würde diese Gerechtigkeit verteidigt, könnte ein gewisser Druck auf die Akteure ausgeübt werden, weniger Verbrechen zu begehen. Aber in einer Welt, in der diese Gräueltaten begangen werden, kann jeder kleine Schuft zum Verbrecher werden und sich dabei in Sicherheit wiegen.

Die ganze Welt ist im Verfall begriffen, Sammour, und wird immer „syrischer“. Das behaupte nicht ich allein und es ist auch keine Übertreibung. Es herrscht ein allgemein verbreitetes Gefühl vor, dass die Welt in jeder Hinsicht schlechter wird. Die Demokratie befindet sich genauso in einer Krise wie die Gerechtigkeit und die Justiz. Und die Hoffnungsreserven der Welt sind auf einem historischen Tiefpunkt.

Ich werde dir im nächsten Brief weiter darüber berichten. Aber wie immer ist das einzige, was mich wirklich interessiert, deine Gesundheit.

Ich küsse dich, mein Herz.

Yassin

Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Dieser Text erschien zuerst in dem Faust-Kultur Magazin.