Ostdeutschland: Foto von einer geteilten Menschenmenge

Meine Leute, deine Leute

Ist eine Demokratie nur dann wirklich gelungen, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen im Parlament vertreten sind? Die Anhängerinnen und Anhänger «deskriptiver Repräsentation» sehen das so. Doch der Parlamentarismus ist besser beraten, wenn er sein Handeln in den Vordergrund stellt und nicht nur seine Zusammensetzung.

Parlamente sind das Herzstück demokratischer politischer Systeme. Sie sollen «das Volk» – besser: alle Bürgerinnen und Bürger – repräsentieren und allgemeinverbindliche Entscheidungen treffen. Dies tun sie nicht als «trauriger Ersatz für die echte» (R. Dahl) – soll heißen: die direkte – Demokratie, sondern weil demokratische Repräsentation einen eigenen Wert besitzt. Dies gilt heute mehr denn je. Noch vor wenigen Jahrzehnten existierten stabile Konfliktlinien zwischen kirchlich-religiös und sozioökonomisch geprägten gesellschaftlichen Großgruppen, die von den entsprechenden Parteien durch hinreichende Kompromissbereitschaft und Orientierung am Gemeinwohl in das politische System integriert wurden. Inzwischen ist der Einzelne aber Träger einer Vielzahl von Interessen, die sich zudem im Zeitverlauf ändern, unterschiedliche Priorität haben und nicht immer widerspruchsfrei und miteinander vereinbar sind. Daraus resultieren wechselnde politische Verhaltensweisen und Präferenzen – und deshalb ist demokratische Repräsentation heute so viel schwieriger geworden.

Angesichts der Unsicherheiten, die diese pluralisierte und individualisierte (zudem verflochtene und globalisierte) Gesellschaft mit sich bringt, liegt es nahe, dass der oder die Einzelne sich politisch am liebsten von Mitgliedern der eigenen Gruppe vertreten lässt. Die Vorstellung, dass sich die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung im Parlament widerspiegelt, ist Kern deskriptiver Repräsentationstheorien. Schon früh in der Entwicklung demokratischer Parlamente wurde behauptet, sie seien nur dann «wahrhaft repräsentativ» (J. Adams), wenn alle Gruppen im Verhältnis ihrer Stärke dort vertreten seien. Dies wirft sofort die gar nicht triviale Frage auf: Was ist eine solche Gruppe? Sind es Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen? Protestanten und Katholiken? Männer und Frauen? Junge und Alte? Diese Liste ließe sich immer weiter fortsetzen, je genauer und detaillierter man die soziale Vielfalt der Gesellschaft erfassen will. Wer aber sollte in der politischen Wirklichkeit entscheiden, welche Gruppen im Parlament zu spiegeln wären und welche nicht, welches Interesse also «repräsentationswürdig» wäre und welches nicht?

Die Menschen werden, wie gezeigt, heute weniger denn je von einem einzigen Interesse geleitet.

Ein Beispiel: Eine alleinerziehende, kirchengebundene Mutter, die freiberuflich tätig ist, sich um die Qualität der Umwelt für die nächste Generation sorgt wie um ihre eigene Rente – welches ist ihre Gruppe, von wem sähe sie sich am liebsten bei politischen Entscheidungen vertreten?

Soziale Repräsentativität im Parlament täte also nicht der gesellschaftlichen Vielfalt und individuellen Freiheit Genüge und wäre nur um den Preis völlig unangemessener Vereinfachung zu erreichen. In einem so nach deskriptivem Repräsentationsverständnis zusammengesetzten Parlament müssten die Abgeordneten folgerichtig als Sendboten ihrer jeweiligen Gruppe fungieren, hätten schwerlich das Mandat, von deren Interessen abzuweichen. Der Abgleich dieser Interessen, die Herstellung von Gemeinwohl in einem parlamentarisch-gesellschaftlichen Diskurs würden erheblich schwieriger, da die Repräsentantinnen und Repräsentanten nicht mit einem generalisierten Führungsvertrauen ausgestattet wären.

Daher sollte nicht die Zusammensetzung des Parlaments, sondern sein Handeln ins Zentrum gestellt werden. Dies bedeutet nicht, dass die Sichtbarkeit von Gruppenvertreter/innen im Parlament entbehrlich ist. Ohne Zweifel hat zum Beispiel die Anwesenheit von weiblichen Abgeordneten im Deutschen Bundestag eine Signalwirkung und vermag das Vertrauen in die Institution und das Gefühl, richtig repräsentiert zu sein, zu stärken. Nicht zuletzt deshalb sind Parteien gut beraten, sich um Mitglieder aus allen sozialen Schichten und verschiedener Herkunft – sei es ethnisch oder geschlechtsspezifisch, kulturell, religiös oder territorial – zu bemühen und ihnen vielfältige Möglichkeiten der Partizipation bis hin zu Kandidaturen für Mandate auf allen Ebenen zu bieten. Wählerinnen und Wähler schätzen es, «ihre Leute» in den Parlamenten zu sehen. Umfragen belegen aber auch immer wieder, dass die große Mehrheit nicht auf die sozialen Merkmale eines Abgeordneten schaut, sondern auf die Ergebnisse seines politischen Handelns.

Daher kommt es darauf an, dass, erstens, die Abgeordneten mit den Lebensbedingungen, den Interessen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger vertraut sind; dies kann, muss sich jedoch nicht auf die eigene (soziale oder territoriale) Herkunft gründen, ist aber durch Responsivität und Kommunikation ebenso wie durch politische Führung ständig zu aktualisieren. Zweitens müssen die Parlamentarier/innen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen im politisch-parlamentarischen Betrieb mitbringen, damit sie durch Konflikt, Verhandeln und Kompromiss Probleme lösen und gemeinwohlorientierte Entscheidungen treffen können. Dafür sind sie den Repräsentierten gegenüber rechenschaftspflichtig und abwählbar.

So verstandene und praktizierte parlamentarische Repräsentation ist die sicherste Methode, Vertrauen in die Demokratie zu stärken.


Suzanne S. Schüttemeyer, geboren 1953 in Hamburg, ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Gründungsdirektorin des Instituts für Parlamentarismusforschung und Chefredakteurin der Zeitschrift für Parlamentsfragen.

This article is licensed under Creative Commons License