
Die zweitgrößte Stadt Armeniens hat die schweren Folgen des Erdbebens vom 1988 noch nicht beseitigt. Dennoch können Menschen hier witzeln und lachen. Ob die „samtene Revolution“ Hoffnung auf ein besseres Leben macht?

Wo ist das Zentrum der Welt? In Gyumri natürlich, antworten die Gyumri/erinnen mit typischer Selbstironie. Im Nordwesten Armeniens, 1500 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, 20 km von der Staatsgrenze zur Türkei entfernt, befindet sich die zweitgrößte Stadt Armeniens – Gyumri (Գյումրի, Gümri, früher Leninakan). Umringt vom Kaukasusgebirge sind hier über 100.000 Menschen, überwiegend Armenier/innen zuhause. Deren Leben hat zwei Hauptphasen - vor dem Erdbeben und nach dem Erdbeben.
Gyumri und das Erdbeben von 1988
Vor genau 30 Jahren, am 7. Dezember, erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,9 die Region. In der Weltöffentlichkeit ist dieses Erdbeben als das Erdbeben von Spitak (Epizentrum) im Jahr 1988 bekannt.
Die enorme gesellschaftliche Bedeutung des Erdbebens beschreibt Anthropologin Gayane Schagoyan in ihrem Beitrag „Memoralisierung des Erdbebens“ / „Мемориализация Землетрясения“. Die Erinnerung und gegenwärtige Deutung des Erdbebens, heißt es in dem Beitrag, seien so traumatisch, dass sich sogar nach dem Erbeben geborene Menschen daran erinnerten. Nach offiziellen Angaben wurden 25.000 Menschen getötet, 15.000 verletzt und 517.000 obdachlos. Laut dem National Geophysical Data Center beliefen sich die wirtschaftlichen Verluste auf 14.2 Milliarden US Dollar.
„Die meisten Opfer hatten wir in Hochhäusern, Schulen und Krankenhäusern. Die Zerstörung der Krankenhäuser war ein doppelter Schaden – zum einen starben die Patienten und das Personal in den Hospitälern, zum anderen wusste man nicht mehr, wo man die Verletzten hinbringen sollte“.
Prof. Sergey Nazaretyan, Direktor des „Seismischen Schutzes Nord“, erläutert, dass durch das Erdbeben der „Eiserne Vorhang“ Löcher bekam und die ersten westlichen Flugzeuge mit Hilfsmitteln und Rettungspersonal landeten. Es ist auch der „Perestroika“ zu verdanken, dass die westlichen Helfer, Rettungshunde, Technik sowie humanitäre Hilfe zugelassen wurden. Bis heute ist das „Berlin-Hotel“ ein gutes Gasthaus in Gyumri. Damals war es als Pension für die Berliner/innen gegründet, die in der Mütter- und Kinderklinik „Berlin“ humanitäre Hilfe anboten. Das Erdbeben zeigte, dass die Sowjetunion nicht auf solche Naturkatastrophen vorbereitet war. Es fehlte an einfachster Technik, z. B. um Betonplatten zu zerschneiden. Aus diesem Grund konnten viele Menschen, die verschüttet waren, nicht geborgen werden und starben unter den Trümmern.
Städtebau in Gyumri
Allein in der Stadt Gyumri wurde durch das Erdbeben über 24.000 Wohnungen und Häuser vernichtet. Im alten Stadtkern gebaute Eigentumshäuser sind gut erhalten, aber alle, in der sowjetischen Zeit gebauten (Hoch-)Häuser waren sofort ruiniert. Die sowjetische Wiederaufbauplanung für den ganzen Nordwesten von Armenien erstreckte sich über drei Jahre. Das Ende der Sowjetära kam jedoch bekanntlich vorher. Und es wurden viele Fehler gemacht. So berücksichtigten etwa aus Moskau und St. Petersburg für die Stadtplanung nach Gyumri gekommene Ingenieure bei der Planung neuer Siedlungen die geologischen und seismischen Bedingungen der Gebirgsregion Schirak nicht. Die Folge: Im Norden der Stadt wurden 600 Hektar fruchtbaren Bodens entsorgt. Auf diesem landwirtschaftlich höchst wertvollen Land, entstanden dann die neuen Siedlungen „Ani“ und „Musch“.
Nachdem Zerfall der Sowjetunion standen viele unfertige Häuser einfach im Raum. Bis heute kann man die verlassenen Baugrundrisse in diesen Bezirken sehen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden Städtebaumaßnahmen oft unsystematisch und in verschiedenen Bezirken durchgeführt, finanziert von der Weltbank, dem Armenia Fund, der Lins-Stiftung, dem Hansmann-Programm sowie dem Staatsbudget von Republik Armenien und anderen Akteur/innen. Deshalb ist das Städtebaubild von Gyumri heute auch von internationalen Geldgebern geprägt.
Leben in den „Domiks“
Trotz aller Hilfe, bis heute müssen in Armenien zahlreiche Menschen immer noch in den nach dem Erdbeben als Übergangslösung aufgestellten Containern leben. Es gibt Schätzungen von bis zu 3000 Notunterkünften in Gyumri, die in der lokalen Mundart „Domik“ heißen (Russisch: Häuschen, „домик“). Ihre Fläche beträgt zwischen 10 und 30 Quadratmetern. Viele dieser Container aus Holz oder Metall sind bis heute unsystematisch in verschiedenen Vierteln der Stadt verteilt. Mittlerweile haben die obdachlosen Familien Nachwuchs bekommen und müssen mit noch größerer Personenanzahl in den kleinen Häusern unter prekären Bedingungen, häufig ohne Wasser- und Abwasserversorgung, also Toiletten oder Duschmöglichkeiten, leben.Hinter dem Busbahnhof mitten in der Stadt treffen wir Zita Zakaryan in ihrem Domik. „Wir hoffen auf ein Wunder, dass wir aus diesem Domik, vor den Ratten und der Feuchtigkeit hier gerettet werden und uns ein gutmütiger Mensch eine Wohnung gibt“ sagt die 69-Jährige.
Viele Menschen in Gyumri haben die Hoffnung auf Hilfe durch den armenischen Staat oder die lokale Verwaltung längst aufgegeben. Sie alle hoffen auf humanitäre Hilfe, auf irgendwelche Wohltäter. Die jahrelange humanitäre Nothilfe einerseits und die Unzuverlässigkeit des Staates andererseits führen zu zahlreichen Problem. Auch und vor allem für eine eigenständige Bewältigung der Probleme. Teils sind Menschen von kurzfristigen Nothilfen abhängig. Zum anderen haben sie durch jahrelange Arbeitslosigkeit weder theoretisches noch praktisches Wissen erworben, mit dem sie sich eine eigenständige ökonomische Existenz schaffen könnten. Keine Regierung der letzten Jahre konnte ihr Versprechen, die Katastrophenzone von den Notunterkünften komplett zu befreien, erfüllen. Währenddessen werden die Domiks von Tag zu Tag älter und miserabler.
Probleme mit Humor nehmen
Nach dem Erdbeben von 1988 und dem Zerfall der Sowjetunion verschlechterte sich die sozioökonomische Lage der Bewohner in Gyumri massiv. Die Region ist geprägt von Armut und Migration. Auch wenn die Menschen in sowjetischen Zeiten weniger politische und wirtschaftliche Freiheiten hatten, gab es doch eine Mittelschicht, die sich einiges leisten konnte. Heute ist diese fast nicht mehr vorhanden. Daher verbinden viele die Zeit vor dem Erdbeben mit nostalgischen Erinnerungen.
Nach offiziellen Angaben liegt die Migrationsrate der Region Schirak, in der sich Gyumri befindet, bei ca. 18 % der gemeldeten Personen. 84 % der Auswanderer geben Russland als Migrationsziel an. Es sind meist männliche Gastarbeiter, die ihre Familien für saisonale Arbeit verlassen. Seit den 1990er Jahren haben über 1 Millionen Menschen Armenien langfristig verlassen. Durch diese starke Migration, eine hohe Sterblichkeit und niedriger Geburtenrate (1,6%) hat Armenien heutzutage ein demografisches Problem. Hauptgründe für die Migration sind vor allem die ökonomischen Bedingungen – fehlende Arbeit, niedrige Löhne, schlechte Infrastruktur usw. Vor allem junge, ausgebildete Menschen mit viel Potenzial wandern aus. Übrig bleiben die sozial schwachen Schichten. Laut statistischen Angaben sind ca. 47 % der Bevölkerung in der Region Schirak arm, die Arbeits- und Obdachlosigkeitsquote ist die höchste im Land.
Trotz der herrschenden Armut und Hoffnungslosigkeit bezeichnen die Bewohner von Gyumri ihre Stadt mit Witz und Stolz als „Zentrum der Welt“ oder als Hauptstadt des Humors. Eine Anekdoten-Wand schmückt das Stadtbild am zentralen Vardananz-Platz.
„Wenn wir nicht unseren Humor hätten, würden wir hier vor lauter Schwierigkeiten und Traurigkeit sterben. Wie soll denn ein Rentner hier beispielsweise leben? Nur mit unserer Rente wären wir schon längst im Winterfrost eingefroren. Wenn unsere Tochter aus dem Ausland uns kein Geld schicken würde, könnten wir nicht mal unsere Heizkosten bezahlen. Und so geht es fast allen Familien in Gyumri, in jedem Haushalt gibt es sicher eine Person im Ausland, die die Familie hier unterhält“, erzählt das Rentnerpaar Genja Piloyan und Qanaqara Hovhannisyan.
Qanaqara Hovhannisyan schreibt Feuilletons für die lokale Wochenzeitung „Hingschabti“. In ihren kritischen Beiträgen aus dem Leben einer Rentnerin verrät sie, dass der größte Anteil der Rente gleich in der Apotheke ausgegeben wird. „Apotheken, Leihhäuser und Banken machen bei uns die besten Geschäfte“, so ihr typischer Galgenhumor.
Die Anthropologin Gayane Schagoyan, eine ehemalige Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung, stammt selber aus Gyumri und hat diesen Humor wissenschaftlich erforscht.
„Gyumri wird als Stadt des Humors bezeichnet und das hat seine rationalen Gründe. Seit dem 19. Jahrhundert marschierten verschiedene Truppen in Gyumri ein und jeder baute sich dort eine Siedlung – Türkensiedlung, Griechensiedlung, Katholische Siedlung etc. Mit einer Festung in Gyumri, dem „Schwarzen Gefängnis“ /“Սև Ղուլ“ sicherte das zaristische Russland damals seine südlichen Reichsgrenzen. Einerseits diente der Humor dem Ausgleich sozialer und religiöser Unterschiede, der Gleichsetzung von „lokalen“ und „neuen“, ländlichen und städtischen Bewohnern, zum anderen der Neutralisierung von Aggressionen“.
Trotz aller Probleme ist Gyumri im ganzen Land bis heute als Kulturzentrum bekannt – durch seine besonderen Schmiedekünste und Handwerke, seine kreativen Künstler und guten Sportler. Aus Gyumri stammen mehrere Weltmeister und Olympiasieger/innen im Gewichtheben oder dem griechisch-römischen Wrestling. In Sportarten also, die wenig Investitionen brauchen, denn auch die Sportschulen oder Hallen, wo die ausgezeichneten Leistungssportler/innen trainieren, sind meist verfallen, haben kaum Versorgungseinrichtungen, undichte Dächer etc.
„Samtene Revolution“ und die Neuwahlen
Vom Stadtzentrum in Gyumri, dem „Vardananz-Platz“ startetet Armeniens neuer Premierminister Nikol Paschinjan im April 2018 seinen Protestmarsch. Mit seinem erfolgreichen „Mein Schritt“ /“Իմ քայլը“ genannten Marsch und kreativen Aktionen des zivilen Ungehorsams erreichte er im Mai 2018 endlich einen friedlichen Machtwechsel im autokratischen und korrupten Armenien. Vor allem, weil es ihm mit seinen Aktionen gelang, die Unterstützung von dutzenden, hunderten und später tausenden Protestierenden zu erhalten. Dieser Transformationsprozess ist heute in der Öffentlichkeit als „samtene Revolution“ bekannt.
„Die landwirtschaftliche sowie touristische Infrastruktur ist hier leider noch nicht ausreichend vorhanden, aber man könnte z. B. den Agrotourismus hier ausbauen. Wir haben tolle Wasserquellen, gutes Essen, ethnische Besonderheiten, den Kaukasus mit seiner alpinen Landschaft und vieles andere mehr. Aber wir brauchen dringend eine internationale Vermarktung.“
- Gevorg Petrosyan, „Biosophia“ NGO in Gyumri, ehemaliger Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung
Fragt man Menschen in Gyumri, was die „samtene Revolution“ in ihrem Leben verändert hat, hört man, dass man durch die Proteste mehr Teilhabe errungen hat. Man sei zufriedener und habet ein fröhlicheres Gesicht. Das zurzeit vorherrschende Gefühl ist tatsächlich eines der Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Die neue Regierung hat sich vorgenommen, sich noch im Revolutionsjahr durch außerordentliche, transparente und freie Wahlen ein klares Mandat zu verschaffen.
Entsprechend finden am 9. Dezember 2018 landesweit die vorgezogenen Parlamentswahlen statt. Prognosen zufolge wird die Partei „Zivilvertrag“ im Koalitionsbündnis mit der Bewegung „Mein Schritt“ von Premierministerkandidat Nikol Paschinjan die absolute Mehrheit im neuen Parlament erhalten. Doch eine zu starke Mehrheit könnte für die demokratische Entwicklung abträglich sein.
Das Motto des Favoritenbündnisses lautet – „Ein glückliches Individuum, fürsorgliche Gesellschaft, mächtiger Staat“. Auf den nationalen Wahllisten vom „Zivilvertrag“ stehen viele junge Menschen, zum Teil aus der Zivilgesellschaft und dem NGO-Sektor, aus Medien und Wissenschaft. In Gyumri allerdings kandidieren auch alte Politiker, wie beispielsweise Felix Tsolakyan, ein ehemaliger sowjetischer KGB-Offizier und zwischen 2013-2016 Gouverneur der Schirak-Region.
Auf der Wahlliste der Partei „Blühendes Armenien“, die vom Geschäftsmann Gagik Zarukyan im Jahr 2004 gegründet wurde, steht der ehemalige Bürgermeister von Gyumri, Vardan Ghukasyan. Er führte das Amt zwischen 1999-2008 und ist sowohl für seine streng religiösen und dogmatischen Ansichten, als auch für seine Verbindung zur Kriminalität bekannt.
Die ehemals führende Republikanische Partei macht in Gyumri eine zurückhaltende Wahlkampagne unter dem Slogan „Bist Du besorgt, wähl die Republikaner“. Ihre Plakate klebt sie ausschließlich in Schwarz-Weiß. Was die Gyumrier/innen erneut witzeln lässt. Die Republikaner seien schon im Beerdigungsmodus.
Die Neuwahlen werden für Gyumri wohl keine großen Veränderungen bringen. Und es ist höchst fraglich, ob Zita Zakaryan jemals aus ihrem Domik ausziehen kann.