Von der Kanzel auf die Straßen: San Romero de América

Am 14. Oktober wurde der 1980 ermordete Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, im Vatikan heiliggesprochen. Der erste Heilige El Salvadors hat eine landesweite Euphorie ausgelöst. Dies scheint auch politisch rentabel.

Oscar Arnulfo Romero
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Wandtattoo: Oscar Arnulfo Romero, Erzbischof von San Salvador wurde am 24. März 1980 ermordet. Romero griff die Mächtigen an, was ihm auch die Kritik des Vatikans einbrachte.

„Wer das Vertrauen der Kirchen und der Gläubigen gewinnt, hat beste Voraussetzungen im Wahlkampf.“ 

Diese Devise, die in Europa archaisch und naiv klingt, hat im Lateinamerika des 21. Jahrhunderts volle Gültigkeit, besonders im Umfeld der evangelikalen Pfingst- oder Freikirchen, die sich in dieser Region rasant ausbreiten.

In Brasilien, dem Land, in dem die Freikirchen weltweit die meisten Anhänger zählen, profitierte bereits Lulas Arbeiterpartei (PT) von deren Unterstützung. Der jüngste Wahlsieg des rechtsradikalen und ultrakonservativen Jair Bolsonaro ist ebenfalls nur im Kontext der massiven Unterstützung der Pfingstkirchen, die in Brasilien Millionen von Menschen bewegen, zu verstehen. Auch in Mittelamerika, so etwa jüngst bei den Präsidentschaftswahlen in Costa Rica oder in Guatemala, gewinnen evangelikale Gruppen zunehmend Einfluss auf den politischen Diskurs.

In El Salvador, wo sich ebenfalls der Großteil der Bevölkerung zum christlichen Glauben bekennt, ist derzeit eine interessante Entwicklung zu beobachten. In dem kleinsten mittelamerikanischen Staat werben vor allem die traditionellen politischen Kräfte, die linke Regierungspartei FMLN und die rechtskonservative Oppositionspartei „Nationale Republikanische Allianz“ (ARENA) drei Monate vor den Präsidentschaftswahlen um die Gunst der Gläubigen und scheinen diesmal im katholischen Lager, eine „neue“, lukrative Figur entdeckt zu haben.

Am vergangenen 14. Oktober wurde der 1980 ermordete Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, im Vatikan heiliggesprochen. Der erste Heilige El Salvadors hat eine landesweite Euphorie ausgelöst. Während Romero in der salvadorianischen Gesellschaft stets eine polemische Gestalt war, wird er heute als die Lichtgestalt der langersehnten Einheit gefeiert. Dies scheint auch politisch rentabel. So tauchte unmittelbar in der Woche nach der Heiligsprechung ein überdimensionales Wahlplakat über einer vielbefahrenen Hauptstadtstraße auf, dass das Portrait des ermordeten Erzbischofs zeigte, mit folgendem Zitat des FMLN Präsidentschaftskandidaten Hugo Martínez: „Heute mehr denn je, weist uns das Beispiel von Bischof Romero den Weg.“

Auf der anderen Seite versicherte kürzlich auf einer Wahlkampfveranstaltung überraschend auch der ARENA-Kandidat und Supermarktmogul Carlos Calleja eine Politik im Geiste Romeros machen zu wollen und erklärte sogar stolz, ein Portrait des ermordeten Erzbischofs in seinem Schlafzimmer zu haben. Wenig später lässt er sich kniend in der Kirche des Geburtsortes des Heiligen ablichten, wo er zu Romero für den Erfolg seiner Kampagne gebetet haben soll. Kurioses Detail, gilt doch offiziell der bis heute gefeierte Parteigründer von ARENA, der verstorbene Mayor Roberto d‘Aubuisson, als der Drahtzieher des Mordanschlags auf Romero.

Wenngleich viele Gläubige besorgt sind über die politische Instrumentalisierung und die teils absurde Verzerrung der Person Oscar Romeros zum linken Revolutionär auf der einen Seite oder zum frommen Heiligen der Altäre auf der anderen, könnte der aktuelle Romero-Hype im Kontext der Heiligsprechung tatsächlich einiges aufweichen und dazu beitragen, die extreme Polarisierung der Gesellschaft zu durchbrechen.

Doch wer war Oscar Romero und wie kommt es, dass ein ermordeter Erzbischof auch nach fast vier Jahrzehnten immer noch Zehntausende auf die Straßen bringt?

Wer war Romero?

Oscar Romero wurde 1917 in einer Kleinstadt im Osten El Salvadors geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Als katholischer Priester kam er früh in Kontakt mit der Armut und dem Elend der Landbevölkerung, was ihn zutiefst prägte. Dennoch beschreiben ihn Zeitzeugen als schüchtern, fromm und konservativ. Als er 1977 zum Erzbischof von San Salvador ernannt wurde, feierten ihn die rechten Eliten des Landes, die ihn als treuen Verbündeten sehr schätzten. Das sollte sich jedoch rasch ändern. Ende der siebziger Jahre versank El Salvador im politischen und sozialen Chaos, ein Bürgerkrieg schien unausweichlich. Tausende begannen aufzustehen gegen die jahrzehntelange Ausbeutung durch die herrschende Klasse, einer Gruppe von vierzehn reichen Familien, und gegen die brutale Repression der ständig wechselnden Militärdiktaturen. Gewerkschaften und kirchliche Basisgemeinden besetzten Straßen und öffentliche Plätze, in den Bergen formierten sich diverse Guerrilla-Organisationen.

Zur gleichen Zeit hatten in einem weitestgehend katholischen Lateinamerika kirchliche Basisbewegungen und die Befreiungstheologie Hochkonjunktur. Obwohl Romero ein bescheidenes Leben ohne jeglichen Prunk und im Sinne der „Option für die Armen“ führte, stand er der politischen Dimension des Glaubens zunächst äußerst skeptisch gegenüber. Der Wendepunkt war der März 1977, als sein enger Freund und Vertrauter, der Jesuit und Befreiungstheologe Rutilio Grande, von einem Militärkommando auf offener Straße erschossen wurde.

Romero war zutiefst erschüttert. Er schien in der Realität des salvadorianischen Volkes angekommen zu sein. Das Büro für Rechtsbeistand seines Bistums avancierte zur wichtigsten, wenn nicht einzigen, Anlaufstelle für Opfer von Menschenrechtsverletzungen. In seinen Sonntagspredigten, die über Radio in ganz El Salvador ausgestrahlt wurden, verlas Romero die Listen der Verschwundenen und Ermordeten der Woche und prangerte offen die soziale Ungerechtigkeit und die staatliche Repression an. Bald war er weit über die Landesgrenzen hinaus als kompromissloser Verteidiger der Menschenrechte bekannt. Er erhielt Friedenspreise und Ehrendoktorwürden im Ausland und Todesdrohungen im Inland.

Den rechts-konservativen Kräften des Landes, die alles auf eine Erhaltung des status quo setzten, war der vorlaute Kirchenmann ein Dorn im Auge. Oscar Romero war sich der Gefahr bewusst, die sein Engagement mit sich brachte und sah ihr offen ins Auge. „Möge mein Blut Samen der Freiheit meines Volkes sein und Zeichen, dass die Hoffnung bald Wirklichkeit werde“, sagte er in einer Predigt im März 1980. Wenige Tage später wurde er von einem Auftragskiller während einer Messe am Altar erschossen. Die Ermordung Romeros gilt als Beginn des salvadorianischen Bürgerkriegs, der zwölf Jahre dauerte und mehr als 75.000 Menschen das Leben kostete.

Der Fall Romero und die Vergangenheitsbewältigung

Bereits zu Lebzeiten reichte Oscar Romeros Einfluss weit über die kirchliche Sphäre hinaus. Er korrespondierte mit US-Präsident Jimmy Carter und traf sich mit Gewerkschaftsführern. In diesem Sinne war zu erwarten, dass seine Heiligsprechung, jenseits der strikt religiösen Bedeutung, auch in der politischen und sozialen Landschaft El Salvadors ihre Wogen schlagen würde.

So scheint es, neue Hoffnung hinsichtlich der Aufarbeitung der Bürgerkriegsvergangenheit El Salvadors zu geben. Während Romero seit seiner Ermordung besonders von der ärmeren Bevölkerung als Volksheiliger verehrt wird und auch zahlreichen linken sozialen Bewegungen als Leitfigur dient, war er unter den wirtschaftlichen Eliten und in konservativen Kreisen des Landes jahrzehntelang als Kommunist verschrien und verhasst. Dieser anhaltende, vehemente Widerstand von Rechtskonservativen, besonders aus dem Umfeld der „NationalenRepublikanischen Allianz“ (ARENA), verhinderte lange Zeit jegliche Aufklärung von Kriegsverbrechen.

Der Fall Romero ist exemplarisch für zahllose Kriegsverbrechen, die in den zwölf Kriegsjahren in El Salvador von beiden Konfliktparteien begangen wurden. So präsentiert ihn jedenfalls der Abschlussbericht der von den Vereinten Nationen berufenen Wahrheitskommission aus dem Jahr 1993. Die Arbeit der Wahrheitskommission blieb lange Zeit allerdings nahezu folgenlos. Schuld daran war das Amnestiegesetz, das nur wenige Tage nach der Veröffentlichung jenes Berichts einen Schleier des Schweigens und Vergessens über eine der blutigsten Etappen der salvadorianischen Geschichte legte. Erst als das salvadorianische Verfassungsgericht im Juli 2016 das Amnestiegesetz für verfassungswidrig erklärte, scheint es wieder Hoffnung auf eine gewisse Aufarbeitung für die unzähligen Kriegsopfer und deren Familien zu geben.

Neben dem Fall „El Mozote“, dem größten Massaker auf dem amerikanischen Kontinent seit der spanischen Eroberung mit rund 1.000 zivilen Opfern, wurde auch der Fall Romero neu aufgerollt. Die aktuell große internationale Aufmerksamkeit für die Figur Romeros im Kontext der Heiligsprechung dürfte weitere Fortschritte in diese Richtung begünstigen. Am Rande der Zeremonie im Vatikan sprach sich Gregorio Rosa Chávez, ehemals enger Mitarbeiter Romeros und heutiger Kardinal von El Salvador, energisch für die Aufklärung des vier Jahrzehnte zurückliegenden Mordes aus. Nur wenige Tage nach der Heiligsprechung hat nun tatsächlich der zuständige Richter einen internationalen Haftbefehl gegen einen der Hauptverdächtigen, den Ex-Armeekapitän Álvaro Saravia, erlassen.

Entgegen der politischen Polarisierung

Während die Präsidentschaftskandidaten das Einigungspotenzial des Heiligen abfeiern, besteht die Polarisierung und Intoleranz sowohl in den Parteiführungen sowie auch an der Basis fort. So streiten in Medienauftritten sämtliche ARENA-Politiker die Verantwortung ihres Parteigründers für den Mord an Romero vehement ab und tun dies als unfundierte Anschuldigungen ab, die lediglich auf Indizien beruhen.

Einer der sich die Überwindung dieser politischen Polarisierung ausdrücklich auf die Fahnen geschrieben hat, ist der junge Unternehmer und Politiker Nayib Bukele, der in aktuellen Wahlumfragen seinen Vorsprung vor ARENA verteidigt und gute Chancen auf die Präsidentschaft 2019-2024 hat. In der vergangenen Periode war er bereits Bürgermeister von San Salvador für die FMLN, wurde jedoch in Folge permanenter interner Konflikte aus der Partei ausgeschlossen. Bukele, der sich selbst im linken politischen Spektrum sieht, tritt nach einem hindernisreichen Legalisierungsprozess seiner eigenen Partei „Nuevas Ideas“ (Neue Ideen) überraschend in Koalition mit der ARENA-Absplitterung „GANA“ des mittlerweile wegen Korruption verurteilten Ex-Präsidenten Elías Antonio Saca an. In einem stark populistischen und medienwirksamen Wahlkampf verspricht Bukele, das Land zu einen und festgefahrene Ideologiekonflikte aufzulösen. Ob und wie er das schaffen wird, bleibt weiter unklar, da sein konkretes politisches Programm nicht bekannt ist und die Koalition mit GANA, einem Hort zahlreicher belasteter Persönlichkeiten, wenig vertrauenserweckend ist.

Als weiteres positives Zeichen hin zu einem Aufbrechen der traditionellen Dichotomie von ARENA - FMLN, ist eine Welle von Parteineugründungen („Nuevas Ideas“, „Vamos“, „Nuestro Tiempo“) zu werten, mit denen zahlreiche Politik-Newcomer aus der ersten Nachkriegsgeneration die politische Bühne betreten und spätestens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 eine wichtige Rolle spielen werden. So könnte beispielsweise „Nuestro Tiempo“ (Unsere Zeit), die sich im Aufbau befindliche Partei des jungen ehemaligen ARENA-Abgeordneten Johnny Wright Sol, sich in der politischen progressiven Mitte ansiedeln und eine Öffnung hin zu den jüngeren Generationen schaffen.

Romero, so aktuell wie nie

Wenngleich bereits die beiden Regierungen der FMLN (2009-2014, 2014-2019) Monseñor Romero wieder weitgehend salonfähig gemacht haben, so darf man jedoch eine gewisse Inkongruenz zwischen dem politischen Diskurs und der Regierungspraxis nicht übersehen. Einerseits umwirbt die Regierung die Wählerschaft mit medienwirksamen „linken“ Sozialprogrammen besonders zu Gunsten der historisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Auf der anderen Seite überschatten Korruptionsskandale sowie eine repressive Sicherheitspolitik, die der vormaligen Politik der harten Hand unter ARENA in nichts nachsteht, das Tagesgeschehen. Anfang 2015 hat die Regierung den „Maras“, den gewalttätigen Jugendbanden El Salvadors, offen den Kampf angesagt. Die Menschenrechte werden dabei weitestgehend ausgeklammert, was dazu führt, dass Praktiken aus dem Bürgerkrieg, wie Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen eingesetzt werden sowie die Zivilbevölkerung zwischen den Fronten aufgerieben wird. Dies hat dem salvadorianischen Staat auf internationaler Ebene in den vergangenen Jahren viel Kritik eingebracht. So liegen beispielsweise mehrere Anzeigen bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vor, und hochrangige UN-Funktionäre haben sich bei Besuchen im Land äußerst besorgt über die Menschenrechtslage gezeigt.

In diesem Sinne ist es mehr als fraglich, inwieweit die FMLN dem Beispiel Oscar Romeros wirklich folgt, wie es auf ihrem Wahlplakat zu lesen ist. Außer Frage steht hingegen, dass die Probleme, die Romero damals umtrieben, auch heute noch brandaktuell sind. Extreme soziale Ungerechtigkeit, ein marodes Gesundheits- und Bildungswesen, ein Justizsystem das kurz vor dem Kollaps steht, die ausweglose Gewaltproblematik, Umweltkonflikte um die knappen Wasserressourcen sowie der Kampf um die Ernährungssouveränität bringen immer noch unzählige Menschen auf die Straßen. Fast vierzig Jahre nach der Ermordung Oscar Romeros halten sie Transparente mit seinem Konterfei hoch und skandieren seine Worte. Für sie, für die sozialen Bewegungen, für die Menschenrechtsaktivist/innen, für die Opferverbände und Kleinbauernkooperativen ist die Heiligsprechung ihres Oscar Romero sicher eine gute Nachricht, die ihnen den Rücken stärkt und sie in ihrem Engagement bekräftigt. Und ihr Anliegen ist es, dass der nun Heiliggesprochene nicht auf den Altären verstaubt, sondern in den Straßen und auf den Barrikaden weiterlebt.