Nicaragua: „Wir brauchen internationale Unterstützung. Alleine schaffen wir es nicht.“

Gastbeitrag

Drei Monate nach Beginn der Proteste in Nicaragua nehmen Repression und Unsicherheit weiter zu. Die nicaraguanische Monatszeitschrift Envío, Partner der Heinrich-Böll-Stiftung, liefert einen Überblick über die aktuellen Ereignisse.

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Demonstration in Nicaragua
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Nicaraguaner/innen demonstrieren in mehreren Städten gegen die militärische Repression

90 Tage nach Beginn der politisch-gesellschaftlichen Krise, die nach Angaben der Nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte (ANPDH) über 350 Todesopfer und über 1500 Verletzte gefordert hat, fordern die Nicaraguaner/innen weiterhin Gerechtigkeit und Demokratie und den Rücktritt der Regierung von Daniel Ortega und Rosario Murillo. Diese Forderungen basieren auf der immer unsicherer werdenden Situation und richten sich gegen einen Staatsterrorismus, der, müsste man ein Datum nennen, am 30. Mai begann, als bewaffnete Paramilitärs die Massendemonstration am Muttertag angriffen.

Der zivile Widerstand gegen ein Regime, das mit Kriegsgerät auf Demonstrationen reagierte, zahlreiche Menschen tötete, verletzte und seit jenem Tag auch entführte, sie bis heute gesetzeswidrig gefangen hält und im Nachhinein zu Unrecht verschiedener Vergehen oder des Terrorismus und des organisierten Verbrechens beschuldigt, wird immer heftiger.

Die nicaraguanische Bevölkerung hat mehrheitlich auf den Straßen im ganzen Land gegen den Machtmissbrauch dieses autoritären und mittlerweile kriminellen Regimes Position bezogen und sieht sich jeden Tag den polizeilichen und parapolizeilichen Kräften gegenüber, die einen Bürgerkrieg herbeiführen wollen und die Proteste mit Waffengewalt niederzwingen. Die „Waffen“, die die Mehrheit der Bevölkerung einsetzt, sind die Nationalflagge und die Mobiltelefone, über die Informationen verbreitet werden.

Hier eine detaillierte Aufstellung der wichtigsten Ereignisse, die in den vergangenen Tagen auf dem nicaraguanischen Staatsgebiet registriert wurden:

Festnahme von Anführer/innen der Bewegung der Bauern

Am Freitag, den 13. Juli wurden nachmittags die Anführer der Bewegung der Bauern zur Verteidigung der Erde, der Seen und der Unabhängigkeit (Bewegung gegen den Kanal), Medardo Mairena (Mitglied der Kommission Nationaler Dialog) und Pedro Mena ohne Erklärung am Internationalen Flughafen Augusto C. Sandino von Agenten des Direktoriums für Rechtshilfe der Nationalpolizei, die dem Regime von Präsident Ortega untersteht, festgenommen.

Stunden später wurden sie in einer Pressemeldung der Nationalpolizei beschuldigt, vier Polizisten getötet zu haben, die in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli im Bezirk Río San Juan bei einem chaotischen Zwischenfall erschossen worden waren. Von dem Zwischenfall kursieren unterschiedliche Versionen. Eine dieser Versionen besagt, dass die Kugeln aus dem Rathaus kamen und von Vertretern der Regierungspartei gegen eine Demonstration der autoconvocados (wörtlich: Selbstorganisierte) abgefeuert wurden. Mairena und Mena werden des Terrorismus und anderer schwerer Vergehen beschuldigt. Ihnen steht kein Strafverteidiger zur Verfügung, und es herrscht Gewissheit, dass sie gefoltert wurden. Am Morgen des 17. Juli wurde eine Vorverhandlung abgehalten, bei der weder ihre Familienmitglieder, noch ein Strafverteidiger, noch die unabhängige Presse anwesend waren.

Tötung von Studierenden der UNAN

In der Nacht vom 13. auf den 14. Juli führten parapolizeiliche Kräfte einen Angriff mit Kriegsgerät auf die Gebäude der Unabhängigen Universität von Nicaragua (UNAN-Managua) durch, die seit dem 7. Mai von über hundert Studierenden besetzt wurde. Mit dem Angriff wurden beginnende Verhandlungen unterlaufen, die die Studierenden zum friedlichen Verlassen der Universität bewegen sollten. Nach Beginn des Angriffs, der von Universitätsangehörigen über soziale Netzwerke verbreitet wurde, mussten sich die Studierenden in die Pfarrei Jesús de la Divina Miserecordia flüchten, die an die UNAN angrenzt. Dort wurden sie 15 Stunden lang von Paramilitärs angegriffen. Bei den Studierenden befanden sich Priester, drei nicaraguanische Journalisten und ein ausländischer Journalist. Einer der nicaraguanischen Journalisten, Ismael López, berichtete für die BBC über die Ereignisse.

Diese Nachricht rief internationale Empörung hervor und offenbarte der Welt die kriminelle Seite des Ortega-Murillo-Regimes. Bei dem Angriff wurden zwei junge Männer getötet: der Student Gerald Vásquez (angehender Ingenieur aus Masaya) und der Bauarbeiter Francisco José Flores, der die Protestierenden unterstützte. Beide erlitten Schussverletzungen am Kopf.

Außerdem wurden bei dem Angriff zahlreiche Menschen verletzt, die in nahe gelegene Krankenhäuser eingeliefert wurden. Dort erschien die Nationalpolizei, um sie festzunehmen. Die Studierenden, die zusammen mit den Geistlichen und Journalisten in der Kirche in Villa Fontana Zuflucht gesucht hatten, wurde am Samstag, den 14. Juli morgens dank der Vermittlung von Pater Waldemar Sommertag, dem Apostolischen Nuntius des Papstes in Nicaragua, und Kardinal Leopoldo Brenes, dem Erzbischof von Managua, freigelassen.

Gesetz zur Kriminalisierung der Proteste verabschiedet

Das nicaraguanische Parlament, in dem die Regierungspartei die Mehrheit stellt, hat am Montag, dem 16. Juli das Gesetz gegen Geldwäsche und Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verabschiedet, das den Tatbestand des Terrorismus einführt. Die Anführer der Bauernbewegung werden der Förderung des Terrorismus beschuldigt.

Mit diesem Gesetz wird nach Aussagen politischer Analyst/innen versucht, die Proteste der Bürgerinnen und Bürger zu kriminalisieren, die Tag für Tag die Verfolgung der Tötungsdelikte sowie Demokratie fordern, in der Hoffnung auf vorzeitige Wahlen und die Ablösung Präsident Ortegas, der seit 11 Jahren im Amt ist. Die Vizepräsidentin Rosario Murillo hat die autoconvocados, die auf den Straßen eine demokratische Wende für Nicaragua fordern, als Terroristen bezeichnet, welche die konstitutionelle Ordnung untergraben.

Angriff auf die indigene Siedlung Monimbó

Am frühen Morgen des 17. Juli haben Paramilitärs die indigene Siedlung Monimbó in der Stadt Masaya umstellt. Die Siedlung stand seit Beginn der Proteste sinnbildlich für den Widerstand der Bürger und Bürgerinnen gegen das Regime. Monimbó, dessen mutige Bewohner/innen mehrheitlich im Kunsthandwerk tätig und traditionell aufständisch und stets sandinistisch sind, ist nun ein Bollwerk des nationalen Widerstands gegen Ortega.

In den vergangenen Tagen hat sich der Druck der internationalen Gemeinschaft auf das Regime wegen des gewaltsamen Vorgehens seiner Vertreter/innen verschärft. Der nächste Schritt steht allerdings noch aus, nämlich von der Rhetorik zu Sanktionen überzugehen, und schließlich in letzter Konsequenz alle diplomatischen Beziehungen zu dem Unrechtsregime abzubrechen.

Am Montag, dem 16. Juli haben 13 lateinamerikanische Staaten sowie der UN-Generalsekretär Antonio Guterres Ortega aufgefordert, die Repressionen gegen die Zivilbevölkerung , die das Recht auf Mobilisierung und friedliche Proteste hat, zu beenden.

Am 18. Juli fand eine weitere Versammlung des Permanenten Rats der Organisation Amerikanischer Staaten statt, der bereits am 13. Juli getagt hatte. Hier wurde eine Resolution verabschiedet, die die Repression in Nicaragua verurteilt und die Entwaffnung der Paramilitärs verlangt.

Ein Klima der Angst

Das Klima, das wir heute in dem Land erleben, das früher als „sicherstes Land Lateinamerikas“ galt, ist geprägt von täglicher Unsicherheit und Beklemmung. Die Bevölkerung hat sich in einen Belagerungszustand manövriert. Abends sind die Städte leergefegt und es herrscht ein Klima der Angst.

Wir fordern eine zivile und friedliche Lösung, die Gesetz und Verfassung achtet. Der Rücktritt von Ortega und Murillo wäre eine verfassungskonforme Lösung. Auch der Vorschlag der OAS, der nicaraguanischen Bischofskonferenz und der Bürgerallianz, die Wahlen auf März 2019 vorzuverlegen, entspricht der Verfassung. Allerdings hat Ortega auch nach drei Monaten des landesweiten Bürgeraufstands noch keinerlei politische Bereitschaft signalisiert, sich dem Konflikt stellen – weder dem Machtmissbrauch und der Willkür, noch dem wiederholten Wahlbetrug, der ihn an der Macht hält, und auch nicht der Verantwortung für die Gewaltverbrechen seit April .

Wir brauchen internationale Unterstützung. Nicaragua ist ein sehr kleines Land mit großen Abhängigkeiten. Wir brauchen eine internationale Präsenz, die als Garant für die Vereinbarungen im nationalen Dialog fungiert. Und die Nicaragua bei der Entwaffnung der Paramilitärs und bei der juristischen Verfolgung von Straftaten der Nationalpolizei (bei den Demonstrationen) unterstützt. Wir brauchen internationalen Druck mit Sanktionen gegen diejenigen, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen gegen die Menschen Nicaraguas schuldig gemacht haben. Wir brauchen Unterstützung, um das Blutvergießen unter Unschuldigen zu stoppen. Alleine werden wir es nicht schaffen.

Ein Text der Redaktion Revista Envío. Übersetzung aus dem Spanischen von Christiane Quandt.