Status quo vadis? Berlins Freie Szene zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Kommentar

In der Berliner Kulturpolitik verschieben sich gegenwärtig die Gewichte. Während die Koalition der Freien Szene sich personell im Umbruch befindet und auf ihrer Maxime „Nichts ist erledigt!“ beharrt, setzt Kultursenator Klaus Lederer Akzente. Überholt die Politik ihre Kritiker*innen?

„Szene aus „MICRO THEATRE: La dolce vita“ von Romuald Krężel & Monica Duncan im Rahmen des Performing Arts Festival Berlin 2018“
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Szene aus „MICRO THEATRE: La dolce vita“ von Romuald Krężel & Monica Duncan im Rahmen des Performing Arts Festival Berlin 2018

Das Frühlingsplenum der Koalition der freien Szene findet im Radialsystem V statt. Dort, wo 2012 alles begann. Rund fünfzig Teilnehmer*innen haben in einem Seminarraum in der vierten Etage einen Stuhlkreis gebildet, Sprecher Christophe Knoch moderiert das Treffen.

Bezeichnend ist, dass auf dieser Versammlung keine Leiter*innen der großen Freie-Szene-Institutionen – HAU, Sophiensäle, Ballhaus Ost, Ballhaus Naunynstraße, Radialsystem V, Neuköllner Oper – mehr zu sehen sind. Auch der Rat für die Künste, von Beginn an Partner im Kampf für mehr Kulturgeld, ist nicht vertreten. Mutmaßlich, weil sich auf breiter Front die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass viel gewonnen wurde – und nicht wesentlich mehr zu erreichen ist.

Es ist einer der letzten Auftritte von Christophe Knoch als Sprecher, nur wenige Wochen später gibt er auf einer Pressekonferenz in der Bar Babette an der Karl-Marx-Allee seinen Rücktritt bekannt – auch aus Protest gegen eine als „etatistisch“ empfundene Politik des Kultursenators Klaus Lederer.

Entzündet hatte sich der Streit an einem geplanten „Werkstatt-Treffen“, das auf Einladung von Lederers Ressort im April 2018 stattfinden sollte – um gemeinsam über die Reform des Berliner Kulturfördersystems zu beraten. Bei der Koalition der Freien Szene ging allerdings die Angst vor einem neuen K2 um – jener berüchtigten Veranstaltung vom November 2012, bei der die Künstler*innen ebenfalls zum Brainstorming geladen waren, alle Ergebnisse anschließend aber in dunklen Schubladen verschwanden. Das Werkstatt-Treffen wurde schließlich abgesagt. Weniger wegen inhaltlicher Differenzen, sondern weil die Koalitionäre ihren Anspruch auf echte Partizipation gefährdet sehen.

In der Folge hat die Koalition der Freien Szene nun neue Sprecher*innen (Bettina Bohle von der IG Jazz folgt auf Christophe Knoch), und eine eher bittere Bilanz von sechs Jahren aktivistischer Aktion steht im Raum. Gebündelt in dem Satz, der vom Plakatkünstler Klaus Staeck entliehen wurde und der noch immer die Publikationen der Koalitionären schmückt:

„Nicht ist erledigt!“

Nichts ist erledigt?

Ein Blick auf die nackten Zahlen legt anderes nahe. Seit 2012 ist der Kulturhaushalt insgesamt um 245 Millionen Euro angewachsen. Die Landesmittel nur für die Freie Szene sind allein zwischen 2016 und 2018 um mehr als 30 Millionen Euro gestiegen (Ansatz 2016: 60.801.769 Mio., Ansatz 2018: 92.991.414 Mio., 2019: 93.224.157 Mio.). Rechnet man die Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds dazu, die der Freien Szene zugutekommen, ergibt sich sogar eine Gesamtsumme von 103.536.914 Millionen Euro (2018). Das alles geht aus einer Finanztabelle mit dem so schlichten wie eingängigen Titel „Mittel für die Freie Szene“ hervor, die die Senatsverwaltung für Kultur und Europa auf Anfrage schickte. Wie aber kann es angesichts solcher Summen sein, dass die Koalition der Freien Szene an ihrer Behauptung festhält, nach wie vor gingen „5 % des Kulturetats in die Freie Szene, dabei sind dort 95 % der Künstler*innen Berlins tätig“?

Weil in der Kulturverwaltung ein viel weiterer Begriff dessen vorherrscht, was die Freie Szene der Stadt tatsächlich ist: eben nicht nur das offensichtliche Kombinat aus Produktionshäusern, Gruppen und Künstler*innen der Sparten Darstellende Kunst, Tanz, Musik, Bildende Kunst und Literatur. Sondern beispielsweise auch Soziokultur (Karneval und Werkstatt der Kulturen), einige Programme der Kulturbrauerei oder der Ufa-Fabrik (gefasst unter „Überbezirkliche Aktivitäten“), die Förderungen des Musicboards oder die Arbeit des Chorverbands Berlin e.V.

Eine durchaus legitime Sicht der Dinge.   

Die Produktionshäuser als Gewinner

Seit der Gründung der Koalition der Freien Szene 2012 haben in wesentlichem Maß die sogenannten Ankerinstitutionen von den Erhöhungen des Kulturetats profitiert. Eine Entwicklung, die vor allem mit Amtsantritt von Kulturstaatssekretär Tim Renner (2014 - 2016) forciert wurde.

Die Sophiensäle beispielsweise erhielten 2012 noch 795.000 Euro jährlich, 2016 waren es bereits 1.219.000 Euro. Im Doppelhaushalt 2018/19 sind sie mit 1.231.005 Euro veranschlagt. Die Neuköllner Oper – 2012 mit 1.098.500 gefördert –bekam 2016 bereits 1.378.650 Euro (in 2018: 1.461.360 Euro). Das HAU, in 2012 mit 5.170.000 Euro subventioniert, steigerte sich dagegen bis 2016 auf 5.643.000 Euro, und wird 2018 mit 7.110.000 (2019: 7.213.000) Euro an Zuschüssen ausgestattet. Die Kunst-Werke Berlin e.V., 2012 mit 820.200 Euro gefördert, verzeichneten 2016 keinen Anstieg, werden nun aber mit einer relevanten Erhöhung bedacht (1.356.657 Euro in 2018).

(Vgl: Haushaltsplan von Berlin - Haushaltsjahre 2012/2013, Haushaltsplan 2018/2019)

Tim Renner hatte in Bezug auf die Freie Szene zwei Schwerpunkte: den Kampf um Räume und um die City Tax. Für beides holte er sich die Expertisen der Koalition der Freien Szene ein, beziehungsweise nahm sie mit an den Verhandlungstisch. Wovon beide Seiten profitierten. Die Koalition der Freien Szene hatte nach den Schmitz-Wowereit-Jahren nun keinen Gegner, sondern einen Partner auf der Kulturverwaltungsseite. Und Renner konnte auf einen partizipativen Prozess zwecks Legitimation seiner Entscheidungen verweisen.    

Aus der City Tax – dem Hauptgegenstand des Verteilungskampfes im Jahr 2016 – fließen nun jährlich 3,5 Millionen als „Spartenoffene Förderung“ in die Kultur. Ein Drittel davon, so steht es noch immer im Ausschreibungstext, soll „Kooperationsprojekten“ zugutekommen, „in denen Institutionen mit in Berlin tätigen künstlerischen Akteuren der freien Szene zusammenarbeiten“. Weil es in der Praxis allerdings kaum Interesse an solchen Kooperationen gibt, werden als Institutionen mittlerweile auch Produktionshäuser der Freien Szene begriffen, nicht nur landeseigene Einrichtungen. De facto bedeutet das noch mehr Geld für die Freie Szene.

Kulturpolitik direkt

Klaus Lederer setzt andere Schwerpunkte als seine Vorgänger. Er hat den großen Bereich der kulturellen Bildung im Blick und ein besonderes Faible für Bibliotheken und Musikschulen. Aus guten Gründen. Irgendwo muss eine Bildung, die überhaupt zur Künstler*innen-Karriere befähigt, ja ihren Anfang nehmen.

Entsprechend sind seine Akzente in der Senatstabelle „Mittel für die freie Szene“ ablesbar. Der Posten „Zuschüsse für Veranstaltungen“, worunter etwa die Initiative Neue Musik (INM), Katalogförderung und Projekte der Literatur fallen, wird statt mit 729.000 Euro (2016) künftig mit 1.750.000 Euro (2018) gefördert. Der Chorverband Berlin e.V. und die Chorförderung erhalten statt 940.700 Euro (2016) bald 1.356.000 Euro (2018).

Vor allem lässt Lederer im Gegensatz zu Renner keinen Zweifel daran, dass er Kulturpolitik durchaus allein zu gestalten vermag. Beklagenswert aus Sicht der Koalition der Freien Szene. Objektiv betrachtet die Erfüllung seines Amtes.

Lederer hat die Koalition links überholt, indem er Fakten schafft. Bei der Eröffnung des Performing Arts Festivals (PAF) im SO36 hielt der Kultursenator unlängst eine Rede, in der er die Schaffung eines von der Freien Szene lange geforderten Festivalfonds ankündigte. In 2018 und 2019 werden 24 „stadtpolitisch relevante“ Veranstaltungen mit 3,5 Millionen Euro jährlich gefördert – wozu so verschiedene Formate wie der Herbstsalon des Gorki-Theaters, die CTM, das Zebra-Poetry-Festival und  auch das Performing Arts Festival PAF zählen. In einem „kulturbolschewistischen Akt“, scherzte Lederer, habe er aufgrund der knapp bemessenen Zeit selbst verfügt, welche Festivals in der ersten zweijährigen Runde zu fördern seien. Danach soll der Prozess juriert werden.

Die Räume der Zukunft 

Ein weiteres Beispiel für praktischen Gestaltungswillen ist das Radialsystem V. Das Gebäude, das vormals für 1,9 Millionen Euro an eine Immobilienfirma verkauft worden war, wird vom Land Berlin kurzerhand für 14,4 Millionen zurück erworben. Im Haushalt ist für die kommenden beiden Jahre jeweils 1 Million Euro unter dem Punkt „Förderung der Radialsystem V GmbH zur Sicherung von Aufführungen und Produktionen der freien Szene“ eingestellt. Und danach? Wird das Haus zukünftig ein Stadttheater? Aus der Senatsverwaltung für Kultur und Europa heißt es lediglich, 2018 und 2019 werde sich an den bestehenden Strukturen nichts ändern. Die Gründer des Kultur- und Veranstaltungszentrums – Jochen Sandig und Folkert Uhde –, die noch einen langfristigen Mietvertrag besitzen, haben jüngst als neuen Programmleiter (ab 1. Juli 2018) den Kurator und Dramaturgen Matthias Mohr eingesetzt.

Das Radialsystem V ist freilich nicht die einzige Kulturimmobilie, die Diskussionsbedarf schafft. Zu den Standorten mit spannender Zukunft zählt prominent auch die Alte Münze, dieses 18.000 Quadratmeter große Areal am Molkenmarkt, bei dem eine Grundrenovierung ansteht. Beschlossene Sache ist, dass der Gebäudekomplex zu einem „Kulturstandort neuer Art“ (Lederer) umgebaut werden soll. Die Finanzierung bleibt noch zu realisieren, mit der Fertigstellung wird in sieben bis acht Jahren gerechnet. Die Koalition der Freien Szene, die eine AG Alte Münze gegründet hat, wünscht sich bezüglich der künftigen Nutzung einen partizipativen Prozess. Dass die Federführung der Entwicklung des Standorts bei der Senatsverwaltung für Kultur und Europa liegen soll, daran hat Lederer bislang keine Zweifel gelassen.

Was ebenfalls auf seine Initiative zurückgeht, ist die Schaffung eines sogenannten Innovationsfonds. Der soll, zunächst mit 250.000 Euro (2018), respektive 500.000 Euro die Entwicklung digitaler Räume im Kulturbereich befördern. Ein wichtiges Feld, das von der Koalition der Freien Szene noch nicht in den Blick genommen wurde.

Das Aktionsbündnis hat lediglich den 10-Punkte-Plan seiner Forderungen (die in wesentlichen Teilen umgesetzt wurden) um einen Punkt 11 upgedatet, der die „Stärkung der Präsenz künstlerischer Produktionen der Freien Szene in öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten“ fordert.

Was bleibt zu tun?

Die Reform des Berliner Fördersystems ist weder eine Herkulesaufgabe, noch in der Sache umstritten. Natürlich ergibt es Sinn zu überlegen, ob eine gestaffelte Förderung, wie sie für die Darstellenden Künste existiert (Einstiegsförderung, Einzelprojekt-, Basis und Konzeptförderung) auch für die Sparten Bildende Kunst und Musik eingeführt werden sollte.

Grade mit Blick auf die Freien Szenen anderer Städte – sei es Hamburg, München oder Köln – besteht allerdings kein Zweifel daran, dass Berlin vergleichsweise gut dasteht. Das aktivistische Potenzial scheint erschöpft. Viel ist erledigt.