Malaysia: Die Reformasi-Bewegung macht ihrem Namen alle Ehre

Hintergrund

Am 9. Mai 2018 fand in Malaysia eine Revolution statt – ohne Getöse und ohne Gewalt. Da sie erstaunlicherweise an der Wahlurne geschah, blieb sie fast unbemerkt. Und doch – es ist eine Revolution, deren Folgen in der gesamten Gesellschaft zu spüren sein werden. Wie eine Strömung wird sie alte Strukturen niederreißen, gesellschaftliche, politische und die in den Köpfen. Jubel, aber auch Desorientierung sind die vorherrschenden Gefühle im Land, und das wird auch noch einige Wochen, wenn nicht Monate, so bleiben.

Für die Menschen in den Bundesstaaten Penang und Selangor, die die letzten zehn Jahre von Parteien regiert wurden, die auf Bundesebene in der Opposition waren, ist das ein völlig neues Gefühl: Die Bundesregierung ist plötzlich eine „freundliche Macht“. Früher in der Defensive, immer strategisch denkend, immer reaktiv, um die Angriffe der Bundesregierung zu parieren, können sie jetzt auf einmal große Träume wagen.

Es wird noch eine Weile dauern, bis sie das mit Freude und Selbstvertrauen tun können. Eingefahrene Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Daher ist zunächst einmal mit zögerlichem Vorgehen zu rechnen, auch mit Wut gegenüber denjenigen, die die ehemalige Regierung so unverantwortlich unterstützt haben. Einige Denkmuster werden in dem Moment, in dem sie ausgesprochen werden, offensichtlich überholt, revisionistisch oder obsolet erscheinen.

Wirtschaftlich gesehen gibt es Grund zur Hoffnung, dass das Land wieder sein Potenzial ausschöpfen kann, auch weil viele der ausgewanderten Söhne und Töchter, in der Zwischenzeit im Ausland gut ausgebildet, zurückkehren werden und ihrem Land auf die Füße helfen. Auch der jüngste Kursverlust des Ringgit, so die Hoffnung, soll sich umkehren.

Es ist an der Zeit, aus der Finanzkrise zu lernen

Dieser friedliche Sturz eines Regimes, das seit der Unabhängigkeit 1957 an der Macht war, erfolgte zwei Jahrzehnte, nachdem das Land 1997/1998 seine Fähigkeit verloren hatte, gemeinsam mit den anderen asiatischen Phönixen aufzusteigen. Mit dem Regierungswechsel kann das Land jetzt das, was es aus der asiatischen Finanzkrise gelernt hat – oder gelernt haben sollte –, umsetzen.

Länder wie Südkorea, Thailand und Indonesien haben damals sofort einen Regimewechsel erlebt und institutionelle Reformen eingeleitet, die sie so grundlegend verändert haben, dass sie mit den Ländern der 1990er Jahre nicht mehr vergleichbar sind. In Malaysia dagegen hat das politische System die Krise intakt überlebt. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass der damalige Premierminister Mahathir Mohamad ausländische Hilfe strikt ablehnte.

Doch das Land hat einen hohen Preis dafür gezahlt: Ethnische Auseinandersetzungen verschärften sich, die Kompetenz in der Regierung sank, die Korruption nahm unvorstellbarer Ausmaße an und – am wichtigsten – die Menschen verloren den Glauben daran, dass sie je den Status eines Entwicklungslands hinter sich lassen könnten. Die Konzepte „Bangsa Malaysia“ (Malaysische Nation) und „Vision 2020“ , die Mahatir in den 1990er Jahren strategisch in den öffentlichen Diskurs gedrängt hatte, um in der Bevölkerung einen stärkeren Wirtschaftsnationalismus durchzusetzen, lösten sich während der Krise in Luft auf.

Seit 20 Jahren aktiv: die Reformasi-Bewegung

Gleichzeitig fiel Anwar Ibrahim, Mahathirs Vize-Premierminister und Finanzminister, in Ungnade. Anscheinend drang er zu sehr darauf, den Internationalen Währungsfonds (IWF) in die malaysische Politik und Wirtschaft zu holen. 1999 wurde er entlassen und wegen Machtmissbrauchs und homosexueller Umtriebe anschließend zu zwölf Jahre Gefängnis verurteilt.

Anwars Fall löste jedoch eine Reformbewegung aus, die nicht mehr zu unterdrücken war. Eine ganze Generation junger Malaysier, meist gut ausgebildet und durch und durch städtisch, fand ihre Inspiration im offenen Kampf der beiden politischen Giganten. Schon bald entwickelte sie ihre Taktik des Widerstands auf der Straße zu einer veritablen Kunst der Kriegsführung.

Der allgemeine Ruf nach Reformen bestimmte schnell den öffentlichen Diskurs und zwang schlussendlich auch das Establishment zur Reaktion: Unter Abdullah Badawi, dem Nachfolger Mahathirs, kündigte die Regierung 2003 „Reformen“ als wichtigstes Wahlversprechen an. Ganz im Geiste dieser Ankündigung widersetzte sich Abdullah nicht, als ein Berufungsgericht aus technischen Gründen Anwars Argumentation folgte und die Freilassung des Gefangenen forderte, der zu diesem Zeitpunkt sechs der auf zweimal sechs Jahre angesetzten Strafe abgesessen hatte.

Aber am Ende galt Abdullahs Reformagenda bei vielen als gescheitert. In der Zwischenzeit hatte die Opposition, gemeinsam mit vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen ein Bündnis gegründet, das eine Wahlrechtsreform forderte: die Koalition für saubere und faire Wahlen (Bersih, „sauber“ auf Malaysisch). Mit einer hocherfolgreichen Demo in den Straßen Kuala Lumpurs im November 2007 erreichte das Bündnis einen Umschwung der öffentlichen Meinung gegen die Bundesregierung.

Da das Thema Wahlen weder ethnisch noch anderweitig identitär belastet ist, konnten sich hier Aktivistinnen und Aktivisten aller Couleur treffen. Dieser ersten Protestaktion mit 40.000 Menschen folgte im Dezember eine zweite, wieder unerwartet groß, jetzt allerdings unter der Führung der Hindu Rights Action Force (Hindraf).

2008: Die Oppositionsparteien nutzen die Gunst der Stunde

Völlig unverständlich angesichts dieser regierungskritischen Stimmung, und schlecht beraten, rief Abdullah im März 2008 vorzeitig Neuwahlen aus. Die Oppositionsparteien wussten die Stimmung zu nutzen und konnten sich auf eine gemeinsame Wahlstrategie unter der Führung von Anwar Ibrahim einigen. Diese Strategie erwies sich als erfolgreich: In fünf der 13 malaysischen Bundesstaten kam die Opposition an die Macht. Mehr noch: Sie beendet die seit langem bestehende Zweidrittel-Mehrheit der Regierungskoalition im Parlament, die für Verfassungsänderungen in Malaysia erforderlich ist. Eine völlig neue Gemengelage war entstanden.

Vom Verlust an Sitzen und an Macht, und nicht zuletzt vom Gesichtsverlust überrascht, jagte die United Malays National Organisation (UMNO) ihren Vorsitzenden Abdullah nach einem Jahr seiner zweiten Amtszeit als Premierminister vom Hof. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Mahathir diesen Coup von innen heraus orchestrierte. Vorsitzender der UMNO und Kraft dieses Amtes auch Premierminister wurde nun Najib Razak. Diese Rolle sah er als eine Art Geburtsrecht an, da bereits sein Vater Abdul Razak Hussein von 1970 bis 1976 Premierminister gewesen war und von der Malaysiern bis heute als „Bapa Pembangunan“ (Vater der Entwicklung”) verehrt wird. Razak war es auch gewesen, der 1973 Mahathir zurückgeholt hatte, vier Jahre nachdem er aus der Partei ausgeschlossen worden war, weil er den Rücktritt des damaligen Premierministers Tunku Abdul Rahman Putra gefordert hatte.

Najib erkannte die Zeichen der Zeit: Er verstand, dass sich der Begriff „Transformation“ auf die wesentlichen politischen Themen bezog und dass die Öffentlichkeit in der post-Mahatir-Ära immer noch Reformen als wichtigstes politisches Ziel sah. Seine Regierung prägte den Begriff „Geeintes Malaysia“ in Anlehnung an Mahathirs „Bangsa Malaysia“. Das Ziel des Landes, bis 2020 als Industrieland zu gelten, blieb bestehen, obwohl alle wirtschaftlichen und statistischen Indikatoren darauf hinwiesen, dass dies ein unmögliches Unterfangen war.

Najibs Versuch, die Mitte der Wählerschaft zu erreichen, das heißt die städtische, insbesondere die chinesischen Wähler, scheiterte. Deutlich wurde das bei der Parlamentswahl 2013, bei der die Regierungskoalition zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Mehrheit verlor. Seine Reaktion? Er bewegte sich nach rechts – und zwar in zwei parallelen Bögen: Einerseits biederte er sich den malaysischen Extremisten an, andererseits ermutigte er in der multikulturellen Gesellschaft die muslimischen Fundamentalisten – zumindest durch Unterlassung.

Dies erwies sich als wirkungsvolle Strategie, da Najib so die PAS, die islamistische Partei, die der Oppositionskoalition angehörte, dazu brachte, islamistische Gesetzgebung im Parlament zu fordern. Das konnte nur zum Bruch der Koalition führen, da davon auszugehen war, dass die DAP, eine zwar chinesisch verankerte, aber dennoch multiethnische und nominell sozialdemokratische Partei, dies vehement ablehnen würde – was sie auch tat.

Die schwächte zwar die Opposition erheblich, stärkte die BN aber nicht wesentlich. Ganz im Gegenteil: Man kann die Situation auch so interpretieren, dass Najibs Anbiederung an die Extremisten die Aufsplitterung der UMNO-Anhängerschaft vorantrieb, was sich in den Wahlen 2018 als fatal erweisen sollte.

Widerstand gegen das Regime formatiert sich

Angewidert von der Bigotterie der Extremisten formierte sich in manchen Kreisen der malaiischen Community, unter Jung und Alt, der Widerstand gegen das Regime. In der Zwischenzeit brachte Najib Anwar wegen homosexueller Umtriebe ins Gefängnis, als Anwar über Nachwahlen versuchte, Chief Minister des reichen Bundesstaats Selangor zu werden.

Was die Sache für viele Malaysier zunehmend unerträglich machte, waren die unzähligen Skandale, in die der Premierminister verwickelt war. Es gab zum Beispiel Hinweise auf einen zwielichtigen U-Boot-Deal zwischen Malaysia und Frankreich, als Najib Verteidigungsminister war, eine Angelegenheit, die ihn jahrelang verfolgte. Und natürlich war da der Mord an Altantuya Shaariibuu, einer Frau aus der Mongolei, die bei diesem Waffengeschäft verschiedene Rollen gespielt hatte. Sie wurde in der Nähe von Kuala Lumpur bei einem Anschlag mit Sprengstoff aus Militärbeständen getötet. Zwei Bodyguards, die Najibs Familie schützen sollten, wurden für diesen Anschlag verurteilt, auch wenn ihre Motive nie geklärt wurden. Mehrere eigenartige Morde, Personen, die spurlos verschwinden und Todesfälle wurden während Najibs Amtszeit verzeichnet.

Todesfälle, Vermisste und der 1MDB-Skandal

Und dann kam der 1MDB-Skandal. Er ist zu komplex, um hier en détail beleuchtet zu werden, gesagt sei aber, dass Najib kurz nach seinem Amtsantritt 2009 einen Staatsfonds auflegte, 1MDB. Heute wird ermittelt, ob er ihn zur Finanzierung seines politischen Apparats zweckentfremdete und ob Milliarden aus diesem Topf ins Ausland geschafft wurden – zur Bereicherung diverser Personen aus seinem familiären Umfeld.

Im Zuge dieses Falles konnten diverse ausländische Regierungen Malaysia der schamlosen Vetternwirtschaft bezichtigen, und verschiedene Länder, darunter die USA, Singapur und die Schweiz, untersuchten Geldtransfers und Geldwäsche im Zusammenhang mit 1MDB. Es wird allgemein angenommen, dass es genau dieser Skandal war, der Mahathir zurück auf die politische Bühne gebracht hat – mit dem Ziel, Najib abzulösen.

Sollte das der Fall sein, so ist es auch möglich, dass Mahathir an diesem Skandal erkannte: Seine Art und Weise zu regieren, ruiniert das Land. Er musste dies vor seinem Tod wieder gutmachen. Jetzt, wo er mehr getan hat, als je von ihm als Buße gefordert werden könnte, wird er in die Geschichtsbücher als der Mann eingehen, der es anderen ermöglicht hat, das Land fast zu zerstören und der dann zurück kam, um seine Fehler so weit wie möglich wieder gutzumachen. Das Bild, wie Mahathir am 16. Mai 2018 Anwar bei dessen Freilassung begrüßt, ist daher ein besonderer Moment, der den Abschluss eines Karmakreislaufs darstellt.

Die Zukunft ist jetzt

Der Wahlsieg der Pakatan Harapan war in der Tat überzeugend. Barisan Nasional regiert in Zukunft lediglich in drei Bundesstaaten, im winzigen Perlis an der Grenze zu Thailand, in Najibs Heimatstaat Pahang und im Riesenstaat Sarawak. Wäre der Ausgang der Wahlen knapp gewesen, wäre der Machtwechsel wohl nicht zu Stande gekommen – wenn man bedenkt, wie häufig Barisan in der Vergangenheit in die Wahlbetrugstrickkiste gegriffen hat.

Offensichtlich ist derzeit vor allem, dass UMNO und BN den Preis für ihre Unfähigkeit zahlen, Reformen anzustoßen, als sie die Gelegenheit dazu hatten. Die BN wird wahrscheinlich von der politischen Bildfläche verschwinden. Ausgenommen UMNO sind ihre Mitglieder auf der Halbinseln so gut wie politisch tot, in Sabah rennen die Mitglieder von der Fahne, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass auch auf Sarawak die BN-Parteien verschwinden, ohne sich Pakatan anzuschließen. Auch wenn die UMNO noch 54 Sitze im Parlament hat, ist sie eine Partei auf dem absteigenden Ast. Ihre Unterstützung wird noch weiter schwinden, bevor sie eine Chance zur politischen Wiederauferstehung hat.

Die Reformasi-Ära in Malaysia begann mit den Protesten im September 1998 und endete im Mai 2018 mit der Übernahme der Macht durch deren parteipolitische Manifestierung, die Pakatan Harapan-Koalition. Oder noch bildhafter: Sie begann mit der Verurteilung von Anwar Ibrahim unter Premierminister Mahathir Mohamad im Jahr 1998 und endet mit seiner Freilassung im Jahr  2018 durch den ehemaligen und aktuellen Premierminister Mahathir Mohamad.

10 Tage an der Macht

Während ihrer ersten zehn Tage an der Macht hat die Pakatan Harapan-Regierung unter Mahathir Mohamad bereits mehr von den Wahlversprechen eingelöst, als man für möglich gehalten hatte. Zu den erstaunlichsten Maßnahmen gehören die Freilassung von Anwar Ibrahim, die Tatsache, dass Najib und seine Frau daran gehindert wurden, das Land zu verlassen und dass eine Untersuchung gegen den gestürzten Premierminister eingeleitet wurde.

Mahathir Mohamad setzte die sehr unbeliebte Mehrwertsteuer auf 0 Prozent und machte zur Freude der chinesisch-malaiischen Gemeinde und des Aktienmarktes den DAP-Generalsekretär Lim Guan Eng zum Finanzminister des Landes. Lim Guan Eng war während der vergangenen zehn Jahre der Chief Minister des rebellischen Bundesstaats Penang und hat in dieser Zeit die Wirtschaft gut gemanagt und auch diverse Transparenzmaßnahmen ergriffen.

Ein Kabinett zusammenzustellen, mit dem alle Fraktionen der siegreichen Pakatan leben können, ist keine leichte Aufgabe, und einige Verzögerungen waren bei vielen Beobachtenden Anlass zur Sorge. Das Bildungssystem in Malaysia hat in den letzten Jahrzehnten stark gelitten. Daher wurde es zunächst von vielen Seiten begrüßt, dass der Premierminister auch das Amt des Bildungsministers übernahm. Allerdings erinnerte ihn die Öffentlichkeit schnell an einen Passus in seinem Wahlprogramm: Kein Premierminister sollte ein zweites Ministerportfolio übernehmen, insbesondere nicht das Finanzministerium. Mahathir Mohamad revidierte seine Entscheidung und ernannte stattdessen den Universitätslehrer Maszlee Malik zum Bildungsminister.

Die Hoffnung blüht derzeit in Malaysia, begleitet von einem Gefühl der Desorientierung und des Erstaunens. Am stärksten ist wohl jedoch das Gefühl, etwas bewegen zu können, begleitet von dem Willen, die Sünden der Vergangenheit und die eigene Feigheit der malaysischen Bevölkerung zu vergeben.

Die Zukunft der Reformasi-Bewegung und die Zukunft Malaysias hat begonnen. Jetzt an der Macht gibt es für die neue Regierung viel Reformarbeit zu tun!