Im positivsten Szenario steht Nicaragua kurz davor, den von der breiten Bevölkerung herbeigesehnten Fortschritt auf dem Weg zu einer echten Demokratie zu erzielen. Noch hat das nicaraguanische Volk selbst die Chance, in einer erneuten Revolution sein eigenes Schicksal zu bestimmen.

Der kaum begonnene Dialog zwischen der von Studierenden initiierten Protestbewegung und Regierung, vermittelt durch die Bischofskonferenz Nicaraguas, wurde letzte Woche nach nur 6 Stunden Diskussion abgebrochen, da Ortega die zentrale Forderung der Studenten und Bischöfe nach Diskussion zu konkreten Schritten der Demokratisierung des Landes ablehnte und die Bischöfe daraufhin ihre Rolle als Vermittler vorerst beendeten. Die Proteste verlagern sich erneut auf die Straße, Ausgang ungewiss.
Ortega klammert sich an die Macht
Seit dem Sieg der Sandinisten über die Diktatur des Somoza-Clans (1979) und später über die von den USA finanzierte blutige Konterrevolution (1990) ist Nicaragua Thema der internationalen Solidaritätsbewegung. Auch die Entwicklung der Linken in Zentralamerika wurde über Jahrzehnte hinweg entscheidend davon geprägt. Die sandinistische Revolution hat insbesondere in ihren Anfangsphasen einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und demokratischen Wandel in Nicaragua bewirkt, der auch für andere Länder des amerikanischen Kontinents beispielhaft war. Die Gier, mit der sich nun der frühere Guerillakommandant und jetzige Präsident Daniel Ortega in seiner zweiten Amtszeit seit 2007 an die Macht klammert und sich - wie seinerzeit die Somozas - mit seiner ganzen Familie Luxusprivilegien sichert, hat jedoch zur Perversion aller demokratischen Errungenschaften des Landes geführt.
Die in den letzten Jahren wohl umstrittenste Entscheidung der Ortegas war das Vorhaben, einem chinesischen Unternehmer die Genehmigung für den Bau eines interozeanischen Kanals zu erteilen. Grundlage hierfür war ein Sondergesetz, mit dem Landenteignungen in großem Maßstab erleichtert wurden, allen nationalistischen Idealen der Sandinisten zum Trotz. Dies bildete im April 2018 auch den Keim für die Entstehung einer neuen oppositionellen Volks- und Bauernbewegung und die davon ausgehende Unterstützung des von Studierenden angeführten Widerstands gegen das von Präsident Ortega angekündigte Dekret zur Reform der Sozialversicherung. Mit der Reform sollten die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge erhöht und die Renten um 5 Prozent gesenkt werden, um damit den Eigenanteil der Rentnerinnen und Rentner an ihrer staatlichen medizinischen Versorgung zu finanzieren. Hintergrund des Reformvorhabens ist die Liquiditätskrise des nicaraguanischen Sozialversicherungssystems, verursacht durch die Anhäufung von Staatsschulden, Immobilienspekulationen und die gestiegene Zahl von Personen, die eine reduzierte Rente beziehen.
Militärische Gewalt gegen Proteste
Die unverhältnismäßige Härte, mit der Nationalpolizei und organisierte, paramilitärische Stoßtrupps gegen die insbesondere von jungen Menschen getragenen Proteste vorgegangen sind, haben in Nicaragua zu einer Krise von unabsehbarer Tragweite für den regierenden Ortega-Clan geführt, der sich bisher noch in seinen zweifelhaften Wahlsiegen der jüngsten Zeit sonnen konnte. Die angekündigte Rentenreform ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs in der Dynamik der jüngsten Geschichte Nicaraguas.
Einschneidende Entwicklungen haben den Nährboden für die sozialen Unruhen geschaffen, die bis vor kurzem noch eher in Form von ständigen Bürgerprotesten außerhalb Managuas stattfanden. Dabei ging es insbesondere um die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes, ohne jegliche Konsultation der Gemeinden und bei defizitären Schutzregularien, aber auch um den – mittlerweile aufgeschobenen – Bau des interozeanischen Kanals, die überaus laxe Vergabe von Bergbaulizenzen, die wahllosen Abholzungen in Naturschutzgebieten und jüngst auch um das geringe Interesse an der Bekämpfung der Waldbrände im Biosphärenreservat Indio Maíz, die durch Brandrodungen für den Ackerbau ausgelöst wurden.
Parteipolitische Opposition fehlt
Durch die Unterdrückung der Bevölkerung und insbesondere der Studierenden, die Zensur der digitalen Medien und die von Vizepräsidentin Murillo angekündigte Kontrolle der sozialen Netzwerke ist gleichzeitig das Vertrauen der Bevölkerung in die von der Koalitionsregierung versprochene Freiheit zunehmend ausgehöhlt worden. Zweifellos gehört das Fehlen einer organisierten parteipolitischen Opposition in Nicaragua zu den großen Siegen der Ortega-freundlichen „Demokratie“. Der Mangel an verfassungsrechtlichen Garantien für Regierungsgegner und die schrittweise erfolgte Auflösung von oppositionellen Führungsstrukturen haben bei den Wahlen der letzten Jahre stets ein Wahlmonopol zugunsten der Ortega-Regierung hervorgebracht. Mit der beabsichtigten Reform der Sozialversicherung - mittlerweile von Ortega zurückgezogen - öffnete sich ein weiteres Konfliktfeld: Bisher stand die weitgehend kooptierte Privatwirtschaft Ortega stets zur Seite. Doch da auch sie jetzt zur Finanzierung der Reformen herangezogen werden sollte, unterstützt sie die Protestbewegung gegen die Regierung in bisher kaum vorstellbarer Weise.
Zunehmende institutionelle Schwäche
Angesichts der Krisenanfälligkeit der nicaraguanischen Wirtschaft, die über Jahre aus Venezuela mit erheblichen Finanzspritzen gestützt wurde, der klientelistischen Korruptionsfälle und einer bisher „bedingungslos“ Ortega-treuen Unternehmerschaft lässt die exzessive Härte, mit der die Regierung auf die Proteste reagiert, die institutionelle Schwäche deutlich werden. Selbst die Armee ist in den letzten Tagen und Wochen wiederholt auf Distanz zu Ortega gegangen und hat versichert, dass sie die Proteste der Bevölkerung gegen die Regierung „nicht unterdrücken“ werde. Der Massenaufmarsch vom 23. April, zu dem der nicaraguanische Unternehmerverband COSEP aufgerufen hatte, und die von den katholischen Bischöfen am 28. April organisierte „Pilgerfahrt für den Frieden“ haben keinen Zweifel mehr daran gelassen, dass die von Murillo so verteufelte Studentenbewegung in der Zivilbevölkerung starken Rückhalt findet.
Der Versuch der gewaltsamen Unterdrückung dieser Proteste jedoch führte zu deren Anschwellen und zur Stärkung neuer Allianzen. Das maßlos brutale Vorgehen der Nationalpolizei wurde in den verschiedensten Medien dokumentiert: die multimedialen Horrorszenen und sogar die Erschießung eines Journalisten aus nächster Nähe, Schikanen und Gewaltexzesse gegen Frauen und massiver Gewalteinsatz lieferten den Beweis für eine systematische Repression.
Der nun vorliegende erste Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) vom 21. Mai spricht in diesem Zusammenhang auch von polizei-unterstützendem Einsatz bewaffneter paramilitärischer Gruppen zur Niederschlagung der sozialen Proteste und fordert die Regierung und die internationale Gemeinschaft auf, diese Praktiken unverzüglich zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem werden Schutzmaßnahmen für die bedrohten Mitglieder der Studierendenbewegung und ihre engen Angehörigen gefordert.
Unter dem nationalen und dann auch internationalen Druck blieb Ortega und Murillo nichts anderes übrig als der Dialog, für den sich die katholische Kirche anbot und den nun auch die Menschenrechtskommission einfordert. Die Proteste der Studierenden verlagerten sich daher letzte Woche für einige Tage von der Straße in einen Seminarraum der nicaraguanischen Bischofskonferenz in Managua. Einer ihrer führenden Vertreter, der Student Lesther Alemán, ließ keinerlei Zweifel an den Zielen der breiten Bewegung, die im Zuge der Repression laut CIDH "mindestens 76 Todesopfer" zu beklagen hat: „Dies ist keine Gesprächsrunde, sondern wir setzen uns hier an einen Tisch, um über Ihren Abgang zu verhandeln“ (d.h. den Rücktritt des im Saal anwesenden Präsidenten Ortega und seiner Ehefrau, Vizepräsidentin Rosario Murillo). Diese Forderung sowie die Diskussion um weitere Demokratisierungsmaßnahmen wie vorgezogene Wahlen jedoch lehnt die Regierung rundweg ab. Der Dialog, kaum begonnen, wurde abgebrochen. Es herrscht Angespanntheit im Land.
Stärkung neuer Allianzen
Den Studierenden aller wichtigen Universitäten des Landes (einschließlich der Polytechnischen Hochschule, der Nationalen Autonomen Universität und der Zentralamerikanischen Universität) ist es mittlerweile gelungen, Bündnisse mit den Bauern (z.B. dem Verband Unión de Productores Agrícolas de Nicaragua) und mehreren Unternehmerorganisationen zu schmieden, um den Rücktritt des Präsidentenehepaars, die Durchführung vorgezogener freier Wahlen und die Wiederherstellung der Demokratie im Land zu erreichen. Auch die Bischofskonferenz machte ihre Unterstützung für die Demokratisierung weiterhin sehr deutlich (z.B. in Form ihrer vorgeschlagenen Dialog-Agenda), und dies trotz aktueller Morddrohungen. Im positivsten Szenario steht Nicaragua kurz davor, den von der breiten Bevölkerung herbeigesehnten Fortschritt auf dem Weg zu einer echten Demokratie zu erzielen, die sich schon Augusto C. Sandino, der „General der freien Menschen“, vor über 80 Jahren erträumt hatte. Noch hat das nicaraguanische Volk selbst die Chance, in einer erneuten Revolution sein eigenes Schicksal zu bestimmen.
Dennoch ist der Ausgang zum jetzigen Zeitpunkt offen. Kann diese Revolution pazifistisch bleiben, oder zwingt das repressive Beharren auf der „fast-perfekten“ autoritären Machtordnung zu einer Wiederholung der jüngsten Geschichte?
Mit Unterstützung des Netzwerks ehemaliger Stipendiatinnen und Stipendiaten der HBS in Zentralamerika, des Centro Humboldt und der Zeitschrift Envío, Nicaragua.
Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt