Die Entführung Trinh Xuan Thanhs und die deutsch-vietnamesischen Beziehungen

Die Entführung von Trinh Xuan Thanh im Sommer 2017 war neben einer politischen Zerreißprobe auch eine Zäsur – sowohl für die deutsch-vietnamesischen Beziehungen, als auch für das Leben einiger Deutsch-Vietnames/innen.

Die vietnamesische Botschaft in Berlin: Weißes Gebäude mit Emblem und Flagge Vietnams
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Aufgrund der mutmaßlichen Entführung verwies die Bundesregierung zwei Mitarbeiter der vietnamesischen Botschaft des Landes

Dass ungewöhnliche Dinge in Berlin passieren, ist nichts Neues. Dass ungewohnte politische Dinge passieren, auch nicht. Was sich aber im Sommer 2017 im Tiergarten ereignete, versetzte dann doch einige Menschen in Erstaunen. Eine Entführung am helllichten Tag – Augenzeugen berichteten von getönten Scheiben, verdeckten Gesichtern und Gewaltanwendung. Der Vietnamese Trinh Xuan Thanh und seine Begleiterin wurden vermutlich vom vietnamesischen Geheimdienst beim Spaziergang entführt und tauchten wenig später in Vietnam wieder auf, wo Thanh öffentlich im Fernsehen bekannte, freiwillig nach Vietnam zurückgekehrt zu sein, um sich den dort gegen ihn vorliegenden Anklagen von Korruption zu stellen. Diese Version der Geschichte der vietnamesischen Regierung war für viele nicht glaubhaft, unter anderem nicht für die Augenzeugen im Tiergarten.

Auch die deutsche Regierung glaubte nicht an eine freiwillige Rückkehr des vietnamesischen Staatsbürgers, sondern ging von einer Entführung auf deutschem Boden aus, zunächst über die tschechische Grenze, dann weiter im Flugzeug nach Vietnam. Die Bundesregierung reagierte unmittelbar und verwies zwei Mitarbeiter der vietnamesischen Botschaft des Landes. Die Deutsche Botschaft in Hanoi wurde vorübergehend geschlossen und die strategische deutsch-vietnamesische Partnerschaft ausgesetzt.

Die deutsche Außenpolitik bezieht in Bezug auf Asien nur selten so eindeutig Stellung. Der vietnamesischen Seite muss trotzdem klar gewesen sein, was sie mit der Entführung riskiert. Warum also die deutsch-vietnamesischen Beziehungen gefährden? Und wieso die klare öffentliche Positionierung der Bundesregierung in diesem Fall?

Der vietnamesische Kontext

Vietnam ist nach wie vor ein autoritärer Staat unter Führung der Kommunistischen Partei. Wahlen gibt es zwar, jedoch sind diese weder frei noch gleich. Die Kommunistische Partei bestimmt, wer zur Wahl antreten darf. Doch ist die Partei kein einheitlicher Block, auch in ihr kämpfen seit der Gründung verschiedene Strömungen gegeneinander. In den letzten Jahren waren dies, verallgemeinernd gesprochen, vor allem der Reformflügel und der „konservative“ Flügel um Generalsekretär Nguyen Phu Trong und Premier Nguyen Xuan Phuc. Während sich die Reformer/innen in Bezug auf die Liberalisierung der Wirtschaft vermehrt dem Westen zugewandt hatten, sucht der konservative Flügel enge Beziehungen zum Nachbarn China und festigte mit hartem Durchgreifen die Macht der Partei.

Trinh Xuan Thanh ist eng verbunden mit dem ehemaligen Premierminister Nguyen Tan Dung, der dem Reformflügel zugeordnet wird und 2016 einen internen Machtkampf verlor aufgrund dessen er dem neuen Premier Nguyen Xuan Phuc weichen musste. Seit seiner Entmachtung wurden zahlreiche politische Projekte Nguyen Tan Dungs rückgängig gemacht und Verbündete angeklagt und verurteilt. Dazu zählt auch Trinh Xuan Thanh, der unter Dung Direktor das staatlichen Unternehmens PetroVietnam Construction Corporation war und damit in den Machteliten von Politik und Wirtschaft verkehrte.

Klar ist, dass er viel wusste. Klar ist auch, dass die Anklage gegen ihn nicht aus der Luft gegriffen ist. Mit seinem offiziellen Gehalt und ohne Korruption wäre er nicht in der Lage gewesen, seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren. Es wird der vietnamesischen Regierung jedoch nicht darum gehen, einen korrupten Offiziellen dingfest zu machen. Dafür ist diese Praxis auf zu vielen Ebenen bei zu vielen Menschen in Vietnam Gang und Gäbe. So stuft Transparency International Vietnam auf Platz 113 von 176 Ländern im Index der „percieved corruption“ ein.

Thanhs Wissen könnte vielmehr Dinge umfassen, die großes Konfliktpotential auf nationaler wie internationaler Ebene geboten hätte, wären sie bekannt geworden. Der Zeitpunkt der Entführung deutet darauf hin, denn er lag nur wenige Stunden vor der offiziellen Anhörung zu Thanhs Asylantrag, den er wegen politischer Verfolgung bei den deutschen Behörden gestellt hatte. Dann wären in interner Abwägung die Zerreißprobe der Beziehungen zu Deutschland für nationale Stabilität in Kauf genommen worden. Seine ehemalige Position ermöglichte ihm vor allem Zugang zu Informationen im Bereich der Energie- und Bauwirtschaft, darunter auch Projekte, die wirtschaftliche Beziehungen zu Nachbarstaaten beinhalten.

Möglich ist aber auch, dass Thanh eine persönliche Fehde mit einem ranghohen Parteimitglied hat. Der jetzige Premierminister Nguyen Xuan Phuc kennt sich gut mit außenpolitischen Gepflogenheiten aus. Doch nicht allen in der Parteischule großgewordenen vietnamesischen Politiker/innen sind die Feinheiten und generellen Grundsätze der Diplomatie bekannt. Es könnte daher durchaus möglich sein, dass nicht mit den schwerwiegenden politischen Folgen der Entführung gerechnet wurde.

Die Reaktion aus Deutschland ist ungewöhnlich deutlich

Schaut man in Nachbarländer Vietnams, etwa nach Kambodscha, wo Premier Hun Sen momentan demokratisch gewählte Parteien auflöst oder nach Thailand, wo sich eine Militärdiktatur festgesetzt hat, ist Deutschland „leiser“ und weniger auf öffentliche Maßnahmen aus, wenn es um die direkten Auseinandersetzungen mit der dortigen Menschenrechtslage geht. In diesem Fall aber war die Positionierung klar. Woran liegt das?

Zum einen fand die Entführung auf deutschen Grund und Boden statt – und am helllichten Tag. Zum anderen war der Fall Trinh Xuan Thanh schon länger auf höchster Ebene verankert. Im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg ersuchte der vietnamesische Premierminister Angela Merkel, Thanh nach Vietnam auszuliefern. Dies lehnte die Regierungschefin ab. Die Entführung untergräbt also das Wort der Kanzlerin. Darüber hinaus hat Deutschland ein gewisses Selbstbewusstsein in den deutsch-vietnamesischen Beziehungen. So nahm die BRD in den 60er und 70er Jahren die so genannten Boat People auf, die vor der Wiedervereinigung Vietnams unter der kommunistischen Partei flohen. Die DDR ermöglichte, nach eigenem Verständnis, zahlreichen Gastarbeiter/innen aus Vietnam eine Ausbildung, Studium und Einkommen.

Heute ist Deutschland Vietnams größter EU-Handelspartner, ein Freihandelsabkommen zwischen Vietnam und EU befindet sich derzeit im Ratifizierungsprozess und könnte die Exporte von Vietnam nach Deutschland von 9,68 Milliarden US-Dollar im Jahr 2016 zukünftig noch steigern. Auch wenn Deutschland in Vietnam einen Absatzmarkt für Maschinen findet, würde eine Beeinträchtigung der deutsch-vietnamesischen Wirtschaftsbeziehungen Vietnam längerfristig mehr schaden als die Bundesrepublik. Auf regionaler und lokale Ebene gehen Austauschprogramme zwischen Deutschland und Vietnam indes weiter, wollen die Landesregierungen den wirtschaftlichen Schaden, der dennoch entstehen könnte, begrenzen.

Der Fall hat Konsequenzen für die deutsch-vietnamesischen Communities

Doch die Problematik geht über die Entführung Thanhs hinaus. Sie hat das Leben in den deutsch-vietnamesischen Communities stark beeinflusst und das Leben einzelner Mitglieder verändert. In den sozialen Medien tobt eine verbale Schlacht – Stolz auf das Heimatland Vietnam, dem großen Deutschland so ein Schnippchen geschlagen zu haben, oder Scham für die Dreistigkeit der vietnamesischen Regierung? Die Meinungen gehen weit auseinander und sind oft eine Mischung aus beiden Positionen.

Neben diesen Debatten kam es aber auch zu Drohungen. Dissident/innen und Geflüchtete aus Vietnam, die in Berlin ein neues Zuhause gefunden haben, berichten seit der Entführung über Gewaltandrohungen und verbale Attacken. Scheinbar fühlen sich die Verfassenden dieser Drohungen mit dem Hintergrund der erfolgreichen Entführung sicher, diese auszusprechen. Darüber hinaus werden Personen der deutsch-vietnamesischen Communities, die sich öffentlich kritisch äußern, nach eigenen Aussagen seitdem stärker beobachtet und verfolgt. Auch das sind Handlungen, die der deutsche Staat so nicht akzeptieren kann, was die Konflikte um den Fall Trinh Xuan Thanh noch verschärft. Es handelt sich schließlich um Aktionen auf deutschem Gebiet und teilweise auch gegen Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft.

Die Situation ist äußerst angespannt. Dass die deutsche Anwältin Thanhs nicht zum Prozess ins Land gelassen wurde, sondern am Flughafen in Hanoi wieder umkehren musste, deutet nicht in Richtung Aussöhnung. Doch im ersten Prozess gegen Thanh wurde gegen ihn „nur“ eine Haft- anstatt einer Todesstrafe verhängt. Die Deutsche Regierung bezog eindeutig Stellung gegen eine Verhängung der Todesstrafe, was sie als weiteren gravierenden Verstoß gegen die Menschenrechte ansehen würde. Sollte auch im zweiten Prozess gegen Thanh auf eine Todesstrafe verzichtet werden, könnte dies ein Zeichen der Annährung und des Wunsches nach Konfliktbeilegung sein.

Sollte ein endgültiger Kompromiss zur Lösung des Falls nicht erreicht werden, ist es möglich, dass Deutschland weitere politische Kooperationen einstellt, auch wenn dies Abstimmungen auf Europäischer Ebene und mit den Landesregierungen voraussetzen würde. Für die bedrohten Vietnames/innen in Deutschland ist es wichtig, dass die Bundesregierung bei ihrer klaren Einstellung gegenüber Vietnam bleibt, auch um Konflikte innerhalb der deutsch-vietnamesischen Communities nicht weiter zu verschärfen. Für die deutsche mediale Berichterstattung wäre es aber in jedem Fall wichtig, Thanh nicht nur als Opfer darzustellen. Denn wer der „Feind meines Feindes“ ist, ist nicht automatisch mein Freund. Thanhs hohe Position in der letzten Regierung und teure Besitztümer kommen nicht von ungefähr.