Chile: Überraschung bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Wahlanalyse

Frente Amplio und die Studierendenbewegung von 2011 etabliert sich – gegen alle Prognosen der Meinungsforschungsinstitute – als aufstrebende dritte Kraft. Der Wahlausgang der Stichwahl im Dezember bleibt offen.

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Demonstration gegen das privatisierte Rentensystem (AFP)

Das Versagen der Wahlforschungsinstitute:

Wahlforscher/innen und führende Meinungsforschungsinstitute prognostizierten einhellig einen Rechtsruck. Nach dem dramatischen Legitimationsverlust der amtierenden Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet, die mit einem ambitionierten Reformprogramm angetreten war, das sie aber nicht hatte in die Tat umsetzen können, würde sich erneut der ehemalige Präsident Sebastián Piñera an den Urnen durchsetzen. Auch wenn der reiche Unternehmer den Einzug in das höchste Staatsamt vermutlich nicht bereits im ersten Wahlgang schaffen sollte, so die führenden Meinungsforscher, würde er doch mit soliden 43 Prozent als aussichtsreichster Kandidat in den zweiten Wahlgang gehen. Alejandro Guillier, dem progressiven Kandidaten des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría, das sich erstmals nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnte, wurden 21 Prozent der Stimmen prognostiziert und der Kandidatin des Frente Amplio magere neun Prozent. Die chilenischen Wähler/innen, zumindest die 46,4 Prozent, die von ihrem Wahlrecht auch Gebrauch machten, entschieden jedoch anders als von rechter Presse und den Meinungsforschungsinstituten vorhergesagt. Allein der Wahlerfolg Alejandro Guilliers entsprach mit 22,7 Prozent der Stimmen im Wesentlichen den Prognosen. Ex-Präsident Sebastián Piñera konnte am Ende lediglich 36,6 Prozent der Wähler/innenpräferenzen auf sich vereinigen, sechs Prozent weniger als erwartet. Überraschungssieger und shooting star der chilenischen Politszene war jedoch der Frente Amplio, der mit seiner Kandidatin Beatriz Sánchez mehr als 20 Prozent der Wähler/innenstimmen erringen konnte und beinahe noch vor dem Kandidaten des derzeitigen Regierungsbündnisses in die Stichwahl gegen Piñera gegangen wäre. Lediglich knapp 160.000 Stimmen trennten die Journalistin am Ende vom Einzug in den zweiten Wahlgang, der am 17. Dezember stattfinden wird. Das amtliche Endergebnis steht derzeit zwar noch nicht fest, die vorläufigen Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass der Frente Amplio, der im Wesentlichen aus der Studierendenbewegung von 2011 hervorgegangen ist, seine parlamentarische Vertretung von bisher drei auf 20 Abgeordnete und einen Senator und 19 Regionalräte ausbauen konnte. Damit erringt eine neue politische Kraft, die das bestehende politische System und die nach-autoritäre Gesellschaftsordnung grundlegend in Frage stellt aus dem Stand fast 13 Prozent der Parlamentsmandate. Mit dem Einzug des Frente Amplio als neue dritte Kraft neben der Rechten und den Mitte-Linksparteien der derzeitigen Regierungskoalition hat sich die nachautoritäre Parteienlandschaft grundlegend verändert. Die Protestgeneration von 2011 hat sich als aufstrebende dritte Kraft im politischen System Chiles etabliert und fordert nun nicht mehr alleine auf der Straße, sondern auch vom Parlament aus die Strukturreformen, die die Regierung Bachelet nicht hatte umsetzen können oder wollen.  

Die Ratlosigkeit der Wahlforscher/innen: Faktoren für den Überraschungserfolg:

Wie erklärt sich nun der unerwartete Wahlsieg der Protestgeneration von 2011, der führende Meinungsforschungsinstitute und Wahlforscher/innen in der Wahlnacht ratlos und verwirrt aussehen ließ. Erste Ad-hoc-Erklärungen, man habe die Wahlabsichten der unentschiedenen und der parteiungebundenen Wähler/innen falsch eingeschätzt, überzeugen nicht wirklich. Die Prognosen waren davon ausgegangen, dass nur eine hohe Wahlbeteiligung dem Frente Amplio nutzen könnte, da die rechte Wählerschaft eine höhere Wahlbereitschaft aufweise als die linke Basis. Die Wahlbeteiligung lag jedoch mit 46,4 Prozent noch unter der von 2013, wo sich lediglich 49,3 Prozent der Wählerschaft mobilisieren ließ. Wie lässt sich nun der unerwartete Wahlausgang erklären?

Neue Kräftekonstellationen im Kontext veränderter Wettbewerbsbedingungen: 14,3 Millionen Personen in Chile und erstmals auch 40.000 Chilen/innen, die im Ausland leben, waren am 19. November aufgerufen, einen neuen Präsidenten bzw. eine neue Präsidentin, die 155 Mitglieder der Abgeordnetenkammer, einen Teil des Senats und 276 Regionalräte zu wählen. Die Wahl war zugleich die erste, die unter neuen Spielregeln stattfand. Das unter der Diktatur verabschiedete sog. binominale Wahlrecht, das im Wesentlichen darauf ausgerichtet war, eine Vetomacht der rechten Kräfte zu sichern, war durch ein stärker proportionales Wahlrecht ersetzt worden. Gleichzeitig sollte die Kandidatur von Frauen, die mit 15,8 Prozent bisher deutlich im Parlament unterrepräsentiert waren mit einer Quotenregelung gefördert werden. Letzeres gelang nur bedingt, da Parteien nach wie vor Männern die aussichtsreicheren Wahlbezirke und bessere finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Die Reform des Wahlrechts kam nun jedoch, ebenso wie die wachsende Fragmentierung der Parteienlandschaft, eindeutig dem aufstrebenden Frente Amplio zugute.

Die Fragmentierung der politischen Landschaft: Die Parteienlandschaft Chiles ist fragmentierter denn je. Acht Kandidat/innen - sechs Männer und zwei Frauen – konkurrierten um das höchste Staatsamt. Erstmals in der nachautoritären Geschichte des Landes konnte sich das Mitte-Links-Bündnis nicht auf einen Einheitskandidaten einigen und trat mit zwei Optionen an: dem Kandidaten der Linken Alejandro Guillier und der Christdemokratin Carolina Goic. Die Spaltung rächte sich, insbesondere für die Christdemokratie, deren Präsidentschaftskandidatin lediglich 5,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, während die parlamentarische Fraktion der Christdemokraten um acht Abgeordnete und drei Senatoren schrumpfte. Mit dem Frente Amplio ist nun eine neue Kraft entstanden, die sich als linke Alternative zu den regierenden Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten versteht. Das Bündnis aus einem Dutzend kleiner Parteien und Bürger/innenbewegungen ging aus der Generation der Studierendenbewegung hervor, die 2011 die größten nachautoritären Proteste angeführt hatte und die neben linken Gruppierungen auch Teile des linksliberalen und des grünen Spektrums einschließt. Neben der Spitzenkandidatin des Frente Amplio, Beatriz Sánchez präsentierten sich auf der linken Seite noch weitere drei Kandidaten, die insgesamt 6,6 Prozent der Wähler/innenpräferenzen auf sich vereinigen konnten. Auf der rechten Seite war das Bild übersichtlicher. Einziger Konkurrent für Sebastián Piñera im eigenen Lager war der ultrakonservative José Antonio Kast, der mit einer Agenda angetreten war, die die angeblich hohen Kriminalitätsraten des Landes und den „Mapuchekonflikt“ – eigentlich ein Konflikt um Land- und Wasserrechte – mit harter Hand angehen will. Sexuelle und reproduktive Rechte wie das eben erst verabschiedete sehr moderate Abtreibungsrecht wollte Kast wieder einschränken. Immerhin acht Prozent der Chilen/innen entschieden sich für das erzkonservative Programm.

Korruption, Reformstau und Politikverdrossenheit:

Die Wahlbeteiligung in Chile ist eine der niedrigsten weltweit und liegt deutlich unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt von 70,1 Prozent. Nach wie vor bleiben mehr als die Hälfte der Chilen/innen den Wahlurnen fern. Die exponentielle Abnahme der Wahlbeteiligung seit 2010 erklärt sich nicht alleine aus der Tatsache, dass in Chile keine Wahlpflicht besteht. Demokratisch bedenklich ist vor allem die geringe Beteiligung junger und sozial schwacher Wähler/innen. Diese gaben bei Meinungsumfragen an, kein Interesse an Politik zu besitzen. Bei breiten Teilen der jüngeren Wählerschaft hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die eigene Stimme keinen Unterschied mache, da auch die Mitte-Links-Kräfte, die aus der Opposition zur Militärherrschaft hervorgegangen waren, aufgrund ihrer Verwicklung in Korruptionsskandale keine wirkliche Alternative mehr darstellten. Detaillierte Wahlanalysen stehen derzeit zwar noch aus. Der Überraschungserfolg des Frente Amplio zeigt jedoch, dass es der neuen Kraft gelang, einen Teil der politikverdrossenen Jugend für sein politisches Programm zu mobilisieren, das eine Agenda umfassender Strukturreformen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich mit feministischen Forderungen nach einer nachhaltigen Stärkung von Frauenrechten verband. Insbesondere dürfte dem Frente Amplio jedoch auch zugute gekommen sein, dass seine Kandidatinnen und Kandidaten – anders als die Regierungsparteien und die Rechte – nicht in Korruptionsskandale verwickelt sind. Die angeblich hohen Kriminalitätsraten Chiles stehen auf der Liste der Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zwar nach wie vor an erster Stelle, in jüngster Zeit haben sich jedoch insbesondere soziale Probleme und die Korruption auf der Top-Ten-Liste etabliert.

Kaum war es gelungen, die Studierendenproteste einzuhegen, entstand mit der Bewegung „No+AFP“ eine neue Protestwelle. Millionen erzürnter Bürger/innen waren 2016 im Protest gegen das privatisierte Rentensystem auf die Straße gegangen. Der Frente Amplio integrierte zentrale Forderungen der Renten- und Umweltbewegungen in sein politisches Programm und arbeitet eng mit sozialen Bewegungen zusammen, die die ökologischen und sozialen Auswirkungen des derzeitigen Entwicklungsmodells in Frage stellen. Der unerwartete Wahlerfolg dürfte sich auch daraus erklären, dass das Programm die veränderten Sensibilitäten der chilenischen Bevölkerung und deren Hauptsorgen (insbesondere Zugang zu Bildung, Gesundheit und Renten) widerspiegelt. Soziale Themen verdrängen in zunehmendem Maße Fragen der Sicherheit und Kriminalität, mit denen die Rechte – in Allianz mit den von ihnen dominierten Medien – traditionell zu punkten versuchte.

Christdemokratie und Frente Amplio als entscheidende Kräfte für den Ausgang der Stichwahl vom 19.12.2017

Das chilenische Wahlrecht sieht für den Fall, dass kein(e) Kandidat/in mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann, eine Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten vor. Sebastián Piñera wird mit Sicherheit die erzkonservative Wählerschaft seines Konkurrenten José Antonio Kast für sich mobilisieren können. Nach jetzigem Stand reicht dies jedoch nicht aus. Alejandro Guillier benötigt auf jeden Fall Unterstützung aus dem linken Lager. Beide Kandidaten konkurrieren um die Gunst der Christdemokratie, die aufgrund des kläglichen Abschneidens jedoch derzeit in einer tiefen Krise steckt und an der Frage, welchen Kandidaten sie nun im zweiten Wahlgang unterstützen wird, zerbrechen könnte. Das Panorama ist jedoch auch für den Frente Amplio komplex. Das Wahlbündnis sieht sich als Alternative zum „duopolio“ der bisher im Parlament vertretenen Kräfte.

Der Wahlerfolg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen erklärt sich nicht zuletzt auch aufgrund der deutlichen Abgrenzung von der traditionellen Linken, die sich aufgrund der Verstrickung in Korruptionsskandale und der Unfähigkeit, Strukturreformen durchzuführen, delegitimiert hatte. Derzeit ist wenig wahrscheinlich, dass der Frente Amplio seine Anhängerschaft offiziell aufrufen wird, im zweiten Wahlgang für Alejandro Guillier zu stimmen, sondern diese Entscheidung eher der Basis überlassen wird. Diese ist jedoch heterogen und bezüglich dieser Frage gespalten. Während gemäßigtere Teile Alejandro Guillier als das „kleinere Übel“ ansehen und eine erneute Präsidentschaft der Rechten verhindern wollen, sieht der radikalere Flügel in Guillier einen Vertreter des Establishments, der ebenso wie die bisherige Regierung Strukturreformen ausbremsen wird und will den Stichwahlen fernbleiben. Lediglich Marco Enriquez-Ominami, der 5,7 Prozent der Stimmen des progressiven Lagers auf sich vereinigen konnte, hat seine Anhängerschaft bereits aufgefordert, bei der Stichwahl Alejandro Guillier zu unterstützen.

Entgegen aller Prognosen der Wahlforscher/innen ist der Wahlausgang der Stichwahl am 19.Dezember somit nach wie vor offen. Fest steht jedoch bereits jetzt, dass sich innerhalb des politischen Systems eine Minderheit von jungen Politiker/innen etabliert hat, die den nachautoritären Elitenkonsens grundsätzlich hinterfragt und für umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturreformen eintritt. Für die verkrustete nachautoritäre „Konsensdemokratie“ dürfte das sicherlich belebend sein. Die Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Frente Amplio und dem spanischen „Podemos“ sollte man vielleicht jedoch nicht den Politikwissenschaftler/innen überlassen, die gerade so kläglich bei den Wahlprognosen versagt haben.

Ingrid Wehr, Büroleitung Regionalbüro Cono Sur, Heinrich-Böll-Stiftung.