Leben mit der Flut

Überschwemmte Straßen, weggeschwommene Autos: Für die Bürger von Norfolk ist das Alltag. Die Stadt will ihre Einwohner besser schützen. Doch die machen nicht immer mit.

Ein Traktor fährt durch eine teife Pfütze

Die Einwohner von Norfolk in Virginia kennen sich mit Pfützen aus – mit abgrundtiefen Pfützen. Am Straßenrand zeigen hochkant gestellte Lineale an, wie tief die Pfützen sind. Wer sie übersieht und trotzdem hindurchfährt, kann mit dem Auto im Tümpel liegen bleiben. Und wer versehentlich falsch parkt, kann sein Auto in den Fluten verlieren. 

Schon die normalen Gezeiten reichen aus, um Norfolk unter Wasser zu setzen – selbst ohne Sturm oder Extremregen. Sunny day flooding nennen sie das hier, oder nuisance flooding: lästige Überschwemmungen. So, als sei das Wasser tatsächlich nur ein unschönes Ärgernis. Nuisance floodings durch die Gezeiten gab es in Norfolk schon vor 50 Jahren: an knapp zwei Tagen pro Jahr. Doch seitdem hat sich die Zahl fast vervierfacht. Hinzu kommt der ganz normale Regen, der die Stadt mittlerweile einmal im Monat unter Wasser setzt. Im Jahr 2045, schätzt die Union of Concerned Scientists, könnten Norfolks Straßen an rund 180 Tagen im Jahr überflutet sein.

Wegen des Klimawandels steigt der Meeresspiegel auf der ganzen Welt Jahr für Jahr an, auch an der US-Küste. Hier in Virginia aber, wo die Chesapeake Bay in den Atlantik mündet, versinkt das Land noch schneller als anderswo. In Norfolk, einem von Wasser umschlossenen Ort, spüren sie die Folgen besonders. Die Stadtverwaltung kämpft gegen die Fluten und will damit sogar zum Vorbild werden für andere bedrohte Gemeinden. Aber kann das gelingen? Wie gut lässt sich eine Stadt wie Norfolk überhaupt gegen die Fluten schützen?

Wenn das Wasser ins Haus strömt, dann sei das, als ob jemand Schläuche an alle Wände hänge und sie aufdrehe, sagt Erik DeSean Barrett: "Es kommt richtig mit Druck." Man könne nichts dagegen tun. Zweimal sei sein Souterrain in den vergangenen Jahren schon vollgelaufen. "Als es das erste Mal passiert ist, hat es mich umgehauen." Viele Familien in seiner Nachbarschaft nutzen ihr Souterrain als Wohnung. Die Flut trifft sie besonders hart.

Inzwischen haben viele Bürger Norfolks die Flutwarnungen der kleinen Organisation Wetlands Watch abonniert. Wenn das Wasser kommt, warnt sie in E-Mails. Dann suchen die Leute alternative Routen zur Arbeit und parken ihr Auto um. Wird eine besonders hohe Flut erwartet, gehen Freiwillige für Wetlands Watch auf die Straßen und sammeln Flutdaten für eine App, um Prognosen zu verbessern.    

Erik DeSean Barret
Barrett lebt mit seiner Großmutter in einem mehr als hundert Jahre alten Haus im Viertel Chesterfield Heights, nur ein paar Hundert Meter vom Elizabeth River entfernt. Viele Häuser in der Nachbarschaft seien ähnlich alt, sagt er. "Modernere Häuser sind durch ihre Bauweise besser vor der Flut geschützt. Hier laufen die Keller einfach voll."

Und der Elizabehth River kommt immer näher. Langsam, aber stetig. Ein Blick auf die Uferböschung reicht aus: Die Hänge erodieren, Bäume stürzen in den Fluss. "Wir merken jetzt erst, wie groß das Problem ist", sagt Barrett. "Alle sind geschockt."

Das Wasser kommt zurück

Norfolks Problem ist die Lage an der größten Flussmündung der USA, der Chesapeake Bay. Gleich ein halbes Dutzend Flüsse strömen hier zusammen. Bläst der Wind ins Landesinnere, dann staut sich manchmal das Wasser in der Bucht. Es kann bei Ebbe nicht abfließen und bei der nächsten Flut steigt der Pegel noch weiter an.

Für das amerikanische Selbstverständnis ist diese Region rund um Chesapeake Bay von großer Bedeutung. Hier, auf einer Insel im James River, liegt das historische Jamestown, einst die erste, dauerhafte englische Siedlung in Nordamerika. Nicht weit entfernt, in Langley, gibt es ein Nasa-Forschungszentrum, und etwas weiter nördlich betreibt die Nasa einen Flugplatz. Die Marine unterhält in Norfolk den größten Kriegstützpunkt der Welt, mit Dutzenden Kriegsschiffen, mehreren Flugzeugträgern und U-Booten. Gleich nebenan befindet sich ein wichtiger Handelshafen. Etwa 1,6 Millionen Menschen leben in der Region. Wenn das Meer steigt, trifft es sie alle. 

Das Wasser hat Norfolk fest in der Hand. Die gesamte Stadt ist von Flüssen und Kanälen durchzogen. Früher waren es sogar noch mehr, bis man im 19. Jahrhundert die Priele zuschüttete, um noch mehr Häuser zu bauen. Auf alten Karten kann man sehen, wo die Priele damals verliefen. Doch die aufgeschüttete Erde setzte sich wieder ab. Das Wasser kommt zurück, auch nach Chesterfield Heights und in die Nachbarsiedlung Grandy Village. Der Pegel des Elizabeth River steigt; das Grundwasser drückt von unten, die Niederschläge nehmen zu, und die Stürme, die Wasser aufs Land treiben, werden auch heftiger.

Planen für den Meeresanstieg

In Chesterfield Heights und Grandy Village beginnen die Überschwemmungen erst, sagen die Leute hier. Andere Viertel Norfolks hingegen stünden ständig unter Wasser.

Christine Morris will sich damit nicht abfinden. Sie leitet in Norfolk das Chief Resilience Office. Frei übersetzt ist sie so etwas wie die Chefin des Widerstands. Norfolk war eine der ersten Gemeinden in den USA, die in großem Maßstab begann, für die Zeit steigender Meeresspiegel zu planen. Morris will der Welt zeigen, wie eine Wasserstadt wie Norfolk das Risiko reduzieren kann, überflutet zu werden. Schon jetzt kooperiert Norfolk mit Rotterdam, Singapur, Miami und ist Teil eines weltweiten Netzwerkes. "Wir haben alle mit den gleichen Problemen zu tun", sagt Morris. Am Ende geht es auch ums Geld: Immobilien in Wassernähe verlieren an Wert. Der Preis der Flutversicherung steigt. Nicht jeder kann es sich leisten, sein Haus auf Stelzen zu setzen. Die gesamte lokale Wirtschaft wird gelähmt, wenn Lastwagen plötzlich den Hafen nicht mehr pünktlich erreichen können.

Die Stadt ist nicht komplett zu schützen

Die Amtsleiterin empfängt in einem schmucklosen Büro in der Union Street. Auf einem Konferenztisch breitet sie große Stadtpläne aus, an der Wand hängen noch mehr Pläne, mit bunt markierten Vierteln. Grün steht für geringe, Gelb für hohe Überschwemmungsgefahr. Hier müssen Neubauten schon heute höher gelegt werden. Rot sind wirtschaftlich wichtige Gebiete, die den Zugang zum Wasser brauchen und zugleich vom Wasser bedroht sind. Chesterfield Heights ist rot. Wer Glück hat, der wohnt violett und etwas erhöht – in einer "Nachbarschaft der Zukunft". Hier sollen künftig möglichst noch mehr Leute hinziehen. 

Wie will sie die Stadt vor dem Wasser schützen? "Ich sage nie, dass ich die Stadt schützen kann", entgegnet Morris. "Aber wir können das Überschwemmungsrisiko senken und uns besser auf die Fluten vorbereiten, die dann immer noch unvermeidlich sind." Auf lange Sicht solle die Mehrheit der Einwohner Norfolks weiter im Landesinnern leben. Nicht mehr so nahe am Wasser. 

Deutlicher wurde schon vor Jahren Paul Fraim, der frühere Bürgermeister der Stadt. Er warnte 2012 in der Zeitschrift The Atlantic: Es könne sein, dass man Teile der Stadt nicht retten könne und Bewohner sie verlassen müssen. Morris aber pocht darauf, dass Norfolk eine Stadt am Meer bleiben müsse. "Wir können die Verbindung zum Wasser nicht kappen. Wir haben die Marine hier, die Schiffswerften, den Hafen – streng genommen sind wir nur wegen des Wassers hier."

Klimawandel? Kein Kommentar

Captain Dean VanderLey, auf der Marinebasis von Norfolk verantwortlich für widerstandsfähiges Bauen
Auch die Kriegsmarine ist nur wegen des Wassers in Norfolk. Sie gehört zu den wichtigsten Arbeitgebern der Stadt: Auf ihrer Basis arbeiten 46.000 Soldaten und 21.000 Zivilisten. Das Gelände liegt nur zwei Meter über dem Meeresspiegel, die Gegend ist akut vom steigenden Wasser bedroht. Schon jetzt stört die Flut immer öfter den Betrieb. Dann schaffen es viele Angestellte nicht durch die überschwemmten Straßen zur Arbeit. Die größte Marinebasis der Welt läuft nur mit einer Notbesetzung. 

Über die Ursachen steigender Pegel, über den Klimawandel will hier niemand reden. In Zeiten, in denen die Regierung in Washington das Phänomen leugnet, wäre das zu heikel. Aber darüber, wie man sich gegen das steigende Wasser wappnen will, gibt Captain Dean VanderLey bereitwillig Auskunft. "Wir planen keine großen Projekte", sagt er. "Aber wir beziehen den Meeresspiegelanstieg in all unsere Entscheidungen mit ein." Neue Wohnheime stellt die Marine jetzt auf ein Podest. Computerserver und Generatoren werden möglichst höher ausgestellt und mit Abflussrohre mit Rücklaufventilen ausgestattet, damit das Wasser keinesfalls zurückläuft.

Wegziehen? "Du nimmst den Leuten die Geschichte"

Der Captain steht am Kai und zeigt auf die andere Seite, wo gerade ein Schiff beladen wird. "Sehen Sie den Kai?", fragt VanderLey. "Er hat zwei Stockwerke." Durch die doppelten Decks könnten die Schiffe schneller versorgt werden – und alle wichtigen Leitungen befänden sich auf der unteren Etage. "So sind sie selbst bei Sturm vor den Wellen geschützt." Die Stürme würden heftiger, sagt VanderLey. Solche Kais seien ein gutes Beispiel für die neue, widerstandsfähige Struktur Norfolks. Würde man allerdings den gesamten Standort Norfolk umfassend gegen steigende Wasserpegel schützen wollen, würde das nach Schätzungen des World Ressources Institute Hunderte Millionen Dollar kosten. Für die gesamte Stadt gehen Fachleute sogar von mindestens einer Milliarde Dollar aus. Woher das Geld kommen soll, weiß niemand.

Höhere Dämme und Sickerflächen

Eine Geldquelle immerhin hat die Stadt bereits aufgetan. Die Rockefeller-Stiftung unterstützt den Umbau von Grandy Village und Chesterfield Heights mit 112 Millionen Dollar. Es soll ein Pilotprojekt werden: gut geplant, gut umgesetzt. Die Stadt will in den Vierteln das Ufer des Elizabeth River erhöhen, indem sie begrünte Wälle anlegt und an besonders gefährdeten Stellen Flutmauern baut. Eine sehr niedrig verlaufende Straße soll höher verlegt werden, Grünflächen und Feuchtgebiete sollen entstehen. Und damit das Wasser bei Sturm und Starkregen besser versickert, sollen Abwasserrohre instand gesetzt werden.

Widerstand der Bürger

So sinnvoll das Modellprojekt auch ist, es regt sich bereits Widerstand. Manche Bürger wollen nicht auf eine Mauer schauen und auch nicht auf einen begrünten Damm – sie fürchten um den freien Blick aufs Wasser. Da kann die Stadt ihnen noch so oft versichern, er werde ihnen nicht genommen."Die Leute hassen die Vorstellung", sagt Erik Barrett. "Würdest du lieber auf den Fluss schauen? Oder auf eine Mauer, als ob du im Gefängnis wärst?"

Die alten Häuser auf Stelzen zu stellen, sei wegen der Bauweise kaum möglich und ohnehin zu teuer, sagt Barrett. Wegzuziehen sei aber auch keine Option. Barretts Haus gehöre der Familie in der vierten Generation. "Du nimmst den Leuten ihre Geschichte, wenn du sie zwingst, es aufzugeben." Und so wird sich wohl manche Familie lieber mit überfluteten Kellern arrangieren.

Der Artikel erschein zuerst bei ZEIT ONLINE. Die Recherchereise nach Virginia wurde ermöglicht durch ein Stipendium unseres Nordamerika-Büros.