Bioökonomie: Mehr als nur Ersatz für Öl

Die „Bioökonomie“ gilt als Hoffnungsträger einer nachhaltigen Gesellschaft, deren Energie- und Stoffströme sich an den Kreisläufen der Natur orientieren – den besten Produktionstechnologien der Welt. Die Erwartungen sind groß; doch die Unsicherheiten auch.

Ölteppich

Die Wertschöpfung heutiger Industrienationen beruht zu einem großen Teil auf Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts sowie einem sehr hohen Verbrauch an fossilen und endlichen Ressourcen. Dieses Wirtschaftswesen hat negative und teils irreversible Auswirkungen auf die verfügbaren Ressourcen und die Lebensgrundlagen des Planeten. Auf dem Weg in ein nachhaltigeres Wirtschaftssystem sind deshalb weitreichende gesellschaftliche und technologische Innovationen notwendig (zum Beispiel WBGU 2011).

Beim Blick auf die Natur wird deutlich, dass die Biologie die fortschrittlichste Produktionstechnologie der Welt ist. Sie kann sich selbst erschaffen, reproduzieren, reparieren und intelligent weiterentwickeln – und dies sowohl auf der Zellebene als auch in ganzen Ökosystemen. Die Bio- oder Lebenswissenschaften erforschen die Fähigkeiten und Funktionsweisen natürlicher Organismen und entwickeln daraus Anwendungen für den Menschen. In den vergangenen Jahren wurden in vielen Bereichen rasante Fortschritte erzielt.[1] Hierzu zählen nach Definition der Vereinten Nationen so unterschiedliche Forschungsfelder wie „Biologie, Biochemie, Bioinformatik, Biomedizin, Biophysik, Bio- und Gentechnologie, Ernährungswissenschaften, Lebensmitteltechnologie, Medizin, Medizintechnik, Pharmazie und Pharmakologie, Umweltmanagement und Umwelttechnik“.[2]

Die Lebenswissenschaften gelten als Hoffnungsträger für die benötigte große „Systeminnovation“, die eine Welle von Erfindungen für eine nachhaltigere Gesellschaft auslösen wird (The Economist 2015, Schüler 2016). Mit ihr verbunden sind auch immer ein Wandel der Gesellschaft, ihrer Institutionen und der Politik (Freeman 1995, Berkhout, 2002; Geels, 2006, OECD und Eurostat, 2005).

Die Bioökonomie zielt dabei auf den Wandel zu einer biobasierten Wirtschaftsweise. Sie stützt sich vor allem auf die Erkenntnisse der Lebenswissenschaften und den Einsatz biologischer Ressourcen. Gerade weil ihre Produkte aus nachwachsenden Materialien und mit biologischen Verfahren hergestellt werden, gilt die Bioökonomie als besonders zukunftsträchtig und wird auch für die Politik immer wichtiger (Global Bioeconomy Summit 2015). Die so genannte „wissensbasierte“ Bioökonomie nutzt dabei nicht nur traditionelle Rohstoffe wie Holz, sondern vor allem auch Mikroben wie Bakterien und Pilze. Das Ziel ist klar: ein Produktionssystem, das dem heutigen weit überlegen und dabei nachhaltig ist.

Die Bedeutung und Entwicklung der Bioökonomie lässt sich nur teilweise aus den Wirtschaftsstatistiken ableiten. Werden jene Wirtschaftsbereiche betrachtet, die hauptsächlich nachwachsende Rohstoffe verwenden, dann machen diese lediglich 6 % der Brutto-Wertschöpfung in Deutschland aus (Datenbasis: 2010). Die Land- und Forstwirtschaft sowie die Lebensmittelwirtschaft und die Papierindustrie sind die großen und traditionellen Akteure der Bioökonomie (Efken et al. 2015).

Innovative und hochwertige Leistungen, wie jene der biobasierten Chemie, der Biotechnologie oder Biopharmazie sind aus diesen Statistiken schwer herauszulesen. Ihre Anteile werden meist geschätzt. In Deutschland leisten vor allem biobasierte Feinchemikalien sowie biologische Medikamente bereits heute einen bedeutenden Beitrag (siehe Abbildung 2). In Zukunft werden hohe Wachstumsraten gerade in der biobasierten Chemie und bei neuen Materialien erwartet (NAS 2015).

Abbildung 2: Bedeutung der Wirtschaftsbereiche in der Bioökonomie gemessen anhand des Umsatzes in Millionen Euro (2013) Quelle: JRC 2016
Abbildung 2: Bedeutung der Wirtschaftsbereiche in der Bioökonomie gemessen anhand des Umsatzes in Millionen Euro (2013) Quelle: JRC 2016


Vom Kohlenstoff aus nachwachsenden Rohstoffen…

Die Bioökonomie orientiert sich an den Funktionen und Kreisläufen der Natur. Voraussetzung allen Lebens auf der Erde ist die Umwandlung von Licht in vielfältige, energiereiche Kohlenstoffträger und ihre Rückumwandlung in CO2 und Wasser. Im globalen Kohlenstoffkreislauf werden jährlich 110 bis 120 Milliarden Tonnen CO2 durch Photosynthese gebunden, in Biomasse gespeichert und an anderer Stelle wieder zersetzt. Ein nachhaltiger Kreislauf, der durch zwei Faktoren begrenzt ist: Pflanzen wandeln die Energie des Sonnenlichts lediglich mit einer Effizienz von1 bis 2 Prozent in Kohlenstoffträger um. Und diese Reaktion ist im Wesentlichen begrenzt auf die von der Sonne beschienene Erdoberfläche.

Hierbei entstehen jährlich 60 Milliarden Tonnen Biomasse (gemessen in Trockensubstanz) in Wäldern, Feldern, auf Grünland und in Steppen, an Flussrändern, in Gärten, Parks und Auen. Ein Viertel dieser aufwachsenden Biomasse wird bereits durch den Menschen genutzt (Haberl et al 2013) und als Nahrungsmittel, Futtermittel, Baustoff und Rohstoff für Chemie und Industrie eingesetzt (siehe auch Abbildung 1). Viele Experten gehen davon aus, dass die Anbauflächen heute nicht mehr signifikant ausgeweitet werden können, ohne weitere negative Auswirkungen auf Klima- und Ressourcenschutz, also auf die Freisetzung von CO2, Waldrodungen oder Bodenerosion (DBFZ 2011). Der globale Kohlenstoffhaushalt ist damit bereits stark beansprucht und gleichzeitig in seinen Mechanismen nicht besonders effizient.

Abbildung 1
Mit der Ernte der Welt werden vor allem die Tiere gefüttert

Legende: Verwendung von geernteter Forst- und Agrarbiomasse weltweit 2008; eigene Darstellung nach nova-institut 2012 (basierend auf nova-institut 2011, FAO 2011, Krausmann et al. 2008)

Legende: Verwendung von geernteter Forst- und Agrarbiomasse weltweit 2008; eigene Darstellung nach nova-institut 2012 (basierend auf nova-institut 2011, FAO 2011, Krausmann et al. 2008)

Darum ist ein „Weg-vom-Öl“ mit Biomasse allein nicht zu machen. Über 4 Milliarden Tonnen Erdöl wurden 2015 verbraucht – um allein dieses zu ersetzen bräuchte man über 9 Milliarden Tonnen Biomasse (als Trockensubstanz). Der umfassende Ersatz fossiler Rohstoffe durch Biomasse in den heute existierenden Produktionssystemen wäre ein „Fass ohne Boden“. Im Sinne des Erhalts und der Regeneration von Ökosystemen müssen derartige Substitutionen in der Energiewirtschaft und der Chemieindustrie also beschränkt werden. Die Entwicklung von sparsamen Technologien, Mehrfachnutzungen und Recycling ist für den Klima- und Ressourcenschutz von größter Bedeutung. Beispielsweise ermöglichen moderne Holzmaterialien, wie „cross laminated timber“ oder Holzverbundwerkstoffe, einen hochwertigeren, sparsameren und mehrfachen Einsatz von Holz in der Industrie, beispielsweise im Leichtbau.

Bei der Verwendung nachwachsender Rohstoffe für die Energiegewinnung muss man sich zukünftig auf die Biomassen konzentrieren, die am Ende anderer Nutzungsoptionen anfallen: Reststoffe aus der Holzwirtschaft oder der Nahrungsmittelproduktion etwa. Langfristig erwarten Studien dabei ein Potenzial von 1.000 bis 1.500 kg Biomasse (als Trockensubstanz) pro Einwohner und Jahr. So ließen sich immerhin 10 Prozent des Energiebedarfs pro Kopf in Deutschland (und Europa) decken. Aber auch nicht mehr. (FNR 2015)

…bis zu neuen Produkten durch Mikroorganismen

In der Industrie kann Bioökonomie weit mehr als die Substitution von Erdöl: Nachwachsende Rohstoffe - vor allem Stärke, Zucker, Zellulose, Öle und Fette - lassen sich mit Hilfe der Biokatalyse zu Enzymen, Aminosäuren, Vitaminen, Chemikalien, Schmier- oder Kunststoffen verarbeiten. Dabei arbeiten Mikroorganismen wie kleine „Bio-Fabriken. Sie bewerkstelligen Stoffumwandlungen mit hoher Ausbeute bei Zimmertemperatur und Normaldruck. Es entstehen nicht nur Produkte mit besseren Eigenschaften. Im Vergleich zu vielen chemischen Verfahren, welche fossile Rohstoffe, hohe Temperaturen und Druck benötigen, können damit der Ressourcen- und Energieverbrauch sowie der CO2- Ausstoß deutlich reduziert werden. (BMBF 2015)

In der Medizin spielen biobasierte Innovationen bereits heute eine wichtige Rolle. Fast die Hälfte aller derzeit verfügbaren Medikamente basiert auf Naturstoffen oder naturstoffähnlichen Verbindungen. Sie werden meist biotechnisch aus Zellkulturen gewonnen. Gerade bei den Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes und Rheuma, aber auch bei der Behandlung gegen multiresistente Keime setzt die Pharmaindustrie zusehends auf biobasierte Medikamente. Sie machen weltweit (und in Deutschland) bereits mehr als 20 % des Umsatzes mit Medikamenten aus. 2015 waren sieben der zehn meistverkauften Medikamente Biopharmazeutika. (z.B. EvaluatePharma 2015).

Mikroorganismen bieten zudem vielsprechende Lösungen für nachhaltige Materialien, das Recycling und den Umweltschutz in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen:

  • Spinnenseide, die biotechnologisch, das heißt mit Hilfe von Hefen oder Bakterien, hergestellt wird, ist besonders leicht, hautfreundlich, reißfest und elastisch, sowie biologisch abbaubar. [3]
  • Mit Hilfe von neuen Enzymen lässt sich der Kunststoff PET ohne Qualitätsverlust in das Ausgangsmaterial zersetzen. Wenn dieses biotechnische Verfahren breit angewandt würde, wäre ein nahezu hundertprozentiges Recycling möglich. Heutzutage kann PET nur partiell und in Produkte mit schlechterer Qualität recycelt werden.[4]
  • Bodenmikroben werden als biologischer Wachstumshelfer und natürliches Schutzschild für Pflanzen erforscht. Ziel ist eine drastische Senkung des Einsatzes von chemischem Dünger, dessen Herstellung energieintensiv ist und dessen Anwendung auch negative Umweltfolgen hat. Auch Pestizide und Fungizide könnten eingespart werden (European Biotechnology Magazine 2016))
  • Bakterien können Sand zu Ziegelsteinen aushärten, wodurch auf das energieintensive Brennen verzichtet werden könnte.[5]
  • Phosphor ist einer jener Stoffe, deren Vorkommen sehr begrenzt ist, welcher jedoch für die Bodendüngung und Nahrungsmittelproduktion von großer Bedeutung ist. Mikroorganismen ermöglichen die Rückgewinnung von Phosphor aus Klärschlamm. So werden beispielsweise in einer Anlage der Berliner Wasserbetriebe aus dem städtischen Abwasser Phosphorverbindungen biologisch mithilfe von Mikroorganismen herausgelöst und anschließend mit einem chemisch-physikalischen Verfahren kristallisiert. Das daraus entstehende Recycling-Produkt heißt Magnesium-Ammonium-Phosphat (MAP). Die Wasserbetriebe vertreiben es als mineralischen Langzeitdünger zu geringem Preis unter der Marke „Berliner Pflanze“ auch an Landwirte oder Kleinkunden. [6]


Noch viel zu erkunden: die wissensbasierte Bioökonomie

Neuere Studien deuten darauf hin, dass etwa 50 bis 250 Milliarden Tonnen Mikroorganismen auf der Erde leben die sich auf mehr als hundert Millionen verschiedene Organismen verteilen (Kallmeyer et al. 2012). Von diesen Arten ist heute gerade einmal 1 % bekannt. Um weitere Mikroben zu entdecken und zu analysieren, werden weltweit Boden- und Gewässerproben untersucht. Mithilfe der Genomik, der Wissenschaft vom Aufbau der Gene, lassen sich selbst kleinste Lebewesen viel schneller und umfassender erforschen als noch vor wenigen Jahren. Diese Informationen werden verwendet, um die Artenvielfalt zu beobachten, aber auch um neue Naturstoffe und mikrobielle Funktionen zu entdecken. (BMBF 2015)

Die Genomsequenzierung wird beispielsweise eingesetzt, um weltweit „Bibliotheken des Lebens“ aufzubauen. Mithilfe von „DNA-Barcodes“, charakteristischen Erbgut-Sequenzen, lassen sich Arten besser erkennen, dokumentieren und erforschen. Für den Artenschutz, die Herkunftsanalyse und die Beobachtung der Entwicklung der Artenvielfalt sind diese Informationen von großer Bedeutung. Beispielsweise wird versucht, illegalen Fischfang und das Überfischen per DNA-Analysen aufzudecken und zu stoppen. Fische, deren Bestände gefährdet sind und die mit falscher Bezeichnung verkauft werden, können vom Zoll und vom Handel rasch erkannt werden. Auch Bestände von wandernden Fischen lassen sich so beobachten. Im Holzhandel kann die Genomik den Zollbehörden helfen, Holzarten und deren Herkunft rasch zu erkennen und den illegalen Handel etwa mit Tropenhölzern aufzudecken (biotech.tv).  

Dringend benötigt: Bioökonomische Antworten auf große Herausforderungen

Wenn heute der Beitrag der Bioökonomie zum Klimaschutz beschrieben wird, dann findet man vor allem Zahlen zur Einsparung fossiler Energieträger durch Bioenergie - allein in Deutschland wurden 2015 über 60 Mio. Tonnen CO2 auf diesem Weg vermieden (Quelle: BMWI 2016). Zahlen über den Klimaschutzbeitrag durch weniger aufwendige Produktionsprozesse oder die Bereitstellung von neuen Produkten findet man bisher nicht.

Und selbst wenn man diese Zahlen hätte: Viele Möglichkeiten der Bioökonomie lassen sich heute noch nicht abschätzen. Sicher ist, dass sie in Zukunft eine zentrale Rolle bei der Lösung der globalen Klima- und Ernährungsherausforderungen übernehmen muss (El-Chichakli et al. 2016).

Eine der großen Herausforderungen der Zukunft liegt in der gesunden Versorgung einer wachsenden Weltbevölkerung. Dabei werden bereits heute rund zwei Drittel der landwirtschaftlichen Ernte für Futtermittel in der Tierhaltung, und damit für die Produktion von Fleisch, Milchprodukten und Eiern, eingesetzt. (Abbildung 1). Die Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln steigt besonders in den bevölkerungsreichen Schwellenländern weiter an. Um negative Auswirkungen auf die Umwelt zu vermeiden und eine gesündere Ernährung zu fördern, sind sich die Experten weitgehend einig, dass der relativ hohe Fleischkonsum in den Industrieländern gesenkt werden muss (WBA-Gutachten 2015). Bioökonomische Ansätze zur Entwicklung nahr- und schmackhafter sowie gesunder Lebensmittel-Alternativen können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Beispielsweise in der Nutzung von anderen Proteinquellen. Bioökonomische Innovationen in diesem Bereich sind pflanzlicher Ei-, Milch- und Fleischersatz, Lebensmittel aus Pilz- oder Insektenproteinen oder im Labor gezüchtetes Fleisch. Auch die urbane Landwirtschaft und nachhaltige Formen der Aquakultur zählen zu wichtigen Forschungsprojekten der wissensbasierten Bioökonomie (Bioökonomierat 2015). Der Klimaschutzbeitrag solcher Land- und Ressourcensparender Versorgungsoptionen dürfte – auch wenn wir ihn heute noch nicht genau beziffern können – höchst gewichtig sein.

 

Literatur

 


[1] Dies lässt sich beispielsweise durch die Entwicklung der Kosten für die Genomsequenzierung illustrieren. Die Leistungssteigerung und Kostensenkung verläuft wesentlich rascher als beim „Mooreschen Gesetz“, das die Geschwindigkeit der Verdopplung der Leistungsfähigkeit in der IT- Industrie beschreibt. 2006 kostete eine Genomsequenzierung rund 14 Mio. US-Dollar, 2015 waren es nur noch 1500 Dollar.

[2] Siehe http://www.unesco.de/wissenschaft/ingenieur-natur-wissenschaften/lebenswissenschaften.html, abgerufen Dezember 2016

[3] https://www.amsilk.com/industries/biosteel-fibers/

[4] http://www.carbios.fr/en/news/show/75

[5] http://biomason.com

[6] http://www.bwb.de