Neue Realität durch neues Theater

Interview

„Theater in Zukunft. Neue Formate für Bühnenkunst“ hieß ein Panel auf der 5. Konferenz von „Theater und Netz“ im Mai 2017. Winnie Christiansen (Szenografin & Medienkünstlerin), Johanna Kolberg (Schauspielerin & Puppenspielerin) und Kathia von Roth (Künstlerin, Aktivistin & Social Engineer) sprachen über ihre Arbeit. Im Anschluss daran nahmen sie sich Zeit für ein Interview.

Lesedauer: 13 Minuten
Jumping into virtual reality world

Winnie Christiansen ist studierte bildende Künstlerin, arbeitet als Bühnen- und Szenenbildnerin und ist Kogründerin der Gruppe trix, die sich mit 360 Grad-Video im narrativen Raum bewegt.

Der Fokus der Arbeit der Theaterregisseurin und Kogründerin der Spieleberatung Kathia von Roth liegt auf Spielmechaniken, Partizipationsstrukturen und immersiven Erfahrungswelten.

Johanna Kolberg studierte zeitgenössisches Puppenspiel und entwickelt mit ihrem Theater- und Gamekollektiv komplexbrigade interaktives und immersives Theater.

 

Was ist immersives Theater?

JK: Es ist Theater, das man erleben kann und…

WC: …Schauspiel, bei dem die vierte Wand wegfällt und man nicht mehr bloß zusieht, sondern mit den Schauspielenden interagiert und so selbst zu einem/r Schauspieler/in wird.

Welche Rolle spielen die Zusehenden in eurem Theater und wie verändert sich deren Rolle im Vergleich zum klassischen Theater?

JK: In unseren Stücken bekommt das Publikum Rollen. Diese Rollen enthalten den Zugang zu bestimmte Handlungsräumen, Gegenständen, die sie benutzen dürfen und Aktionen, die sie ausüben können. Das Publikum ist also nicht wie im klassischen theaterpraktischen Sinne passiv, es wird handlungsfähig.

KvR: Ohne Publikum würde in meinen Stücken nichts passieren, weil die Zusehenden maßgeblich das Geschehen sind. Das eigentliche Theaterstück schafft eine strukturelle Regelsetzung, die Inhalte enthält. Ohne ein Publikum darin ist das Regelwerk Konzeptkunst. Immersives Theater ist ein Theater, in das ich durch meine Handlung eintauche. Dadurch, dass die Handlung der Besucherinnen das Geschehen mitgestaltet, wird der bisherige Erfahrungsschatz und das (emotionale) Wissen des Publikums Teil der Arbeit. So bestimmt das Handeln der Rezipierenden das Werk.

WC: Aber eben auch das Nicht-Handeln zieht dabei Konsequenzen nach sich.

Was für Ebenen schafft ihr in euren Werken, die es im klassischen Theater nicht gibt?

WC: Generell spielt immersives Theater die ganze Sensorik an. Bei unseren Bühnenstücken gibt es haptische, olfaktorische Überschneidungen zwischen Virtualität und Realität. So werden Spielende berührt oder sind Gerüchen ausgesetzt. Mit Sound gehen wir in unseren Bühnenstücken unterschiedlich um. Wir arbeiten mal mit Kopfhörern und manchmal verteilen wir den Sound im Raum. Es gibt darüber hinaus eine visuelle Überschneidung zwischen dem, was man im Theaterraum oder auf der Bühne sieht und in dem, was man im 360 Grad-Video sieht. Das Video liegt quasi wie eine zweite Schicht über dem Bühnenraum. Jonathan Steuer hat mal gesagt: „Virtual Reality is defined as a real or simulated environment in which you can perceive telepresence“ und das beschreibt es ganz gut. Es geht bei dem Konzept Virtual Reality darum, eine neue Realität zu schaffen.

JK: Der haptische Faktor spielt bei uns eine große Rolle. In dem von uns geschaffenen Bühnenraum kann man sich frei bewegen und sich durch das eigene Handeln kleine Räume erspielen. In der Produktion „Solaris“ stellen wir eine Enzyklopädie zur Verfügung. Die spielenden Personen klicken sich durch diese und haben so den Zugang zu einer riesigen Welt, die in dieser Enzyklopädie beschrieben ist. Die Welt eröffnet sich genauso soweit, wie er oder sie hineingeht.



Wollt Ihr, dass die Zusehenden mit einer Lehre aus eurem Theaterstück gehen? Gibt es ein vorformuliertes Ergebnis?

KvR: In meiner Arbeit habe ich ein gewisses pädagogisches Moment; ich möchte, dass etwas erkannt und erfahren wird. Der Inhalt wird nicht direkt kommuniziert, ist aber in der Entscheidungsstruktur angelegt. Durch die Provokationen, die innerhalb des Stückes passieren, muss sich verhalten werden. Innerhalb dieser Provokationen kann ich als Regisseurin bestimmte Auseinandersetzungen ermöglichen. Für mich ist eine ideale Zuschauer/innenrückmeldung, dass die Beschäftigung mit den Provokationen aus dem Theaterraum getragen wird.

JK: In unserem Stück „Solaris“, das wir gern als Spielplatz für Erwachsene bezeichnen, erlebt Jede und Jeder eine andere Geschichte. Es gibt ein Grunduniversum, und dadurch wie man sich darin bewegt, bekommt man nur einen kleinen Teil mit, den man erforscht. Alle spielenden Personen erleben so einen individuellen Abend. Wir kreieren eine Form der Überforderung durch Handlungsaufforderung, verschiedene Kommunikationsebenen und technischen Module, die man teilweise erst verstehen lernen muss. Menschen schlüpfen in Rollen und sind manchmal selbst davon überrascht, wie sie sich plötzlich verhalten. Das macht die Reflektion und den Austausch danach sehr spannend.

KvR: Das, was Johanna gerade beschrieben hat, ist ziemlich klassisch das, was ich Open-World-Theater nenne: „Meine Entscheidung beeinflusst, was ich erlebe.“

WC: Bei „Empfänger verzogen“ wollen wir kein Ergebnis vorformulieren. Niemand soll aus dem Stück herausgehen und sagen: „so sieht meine Dystopie aus“ oder „so sieht meine Utopie aus“, sondern jeder soll eine eigene Erfahrung mitnehmen. Es gibt drei Hauptthemen, auf die sich die Arbeit fokussiert: das soziale Phänomen Hikikomori (soziologisches Phänomen, das vor allem Männer und Frauen in ihren Mid-20ern dazu bringt, ihr Zimmer oder ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen. Aufgrund von zu hohem gesellschaftlichen Leistungsdruck, beschließen die jungen Erwachsenen sich diesem komplett zu verweigern und sich ihre neue Identität online aufzubauen), Gender Stereotypes und Digital Natives vs. Digital Immigrants. Diese drei Schwerpunkte hängen in der Erzählung der Geschichten stark zusammen. Das Hauptthema ist dabei Hikikomori. Das ist auch der Grund, warum wir mit Virtual Reality arbeiten. Jeder Spielende bekommt in dem Stück ein Smartphone, muss agieren und reagieren und soll so einen digitalen overload erfahren. Das Stück soll bewusst überfordern. Wie die Zusehenden das dann aufnehmen, gestaltet sich individuell. Es kann sich ja auch um eine positive Überforderung handeln oder dazu führen, dass die Zusehenden eine Woche nicht mehr auf ihr Smartphone sehen können, weil sie sich dieser Überforderung in der Realität nicht mehr stellen wollen. Der Ausgang ist von Spieler zu Spieler unterschiedlich.

KvR: Diese eben genannte Überforderung ist notwendig, um das Publikum in diese Selbstvergessenheit des spielerischen Handelns zu bringen. Starke Forderung nach Entscheidung und Handlung führt zu Immersivität. Je mehr mich etwas anspricht und auffordert, mich zu sich zu verhalten, desto mehr werde ich Teil der Situation.

Verschwimmen in euren Werken die Grenzen zwischen Theaterraum und Realität?

KvR: Für mich ist es Ziel, dass Grenzen zwischen Realität und Theater verschwimmen. Die Realität im klassischen Theater ist: Ich sitze mit vielen Menschen in einem dunklen Raum und darf nichts sagen. Das ist ja auch eine Realität, die da geschaffen wird. Für mich ist Kunst dazu in der Lage, Realität zu transformieren. Meine Idealvorstellung ist, dass durch theatrale Verabredung und Kunstsetzung diese Transformation stattfinden kann. Das soll ganz viel im öffentlichen Raum passieren. Dort sollen Leute eingeladen und provoziert werden, sich anders zu verhalten. Es gibt keine „Nicht-Realität“. Auch Virtual Reality ist für die rezipierende Person in dem Moment Realität. In der Spieleberatung bezeichnen wir unsere Formate gerne als analoge Virtual Reality - wir fügen der "alltäglichen" Realitätsverabredung durch eine narrative Setzung ein fantastisches Layer hinzu und transformieren so die vorhandene Situation.



WC: Innerhalb der beta-tests, die wir während der Arbeit an „Empfänger Verzogen“ machen, bekommen wir sehr schöne Reaktionen. Also sie sind schrecklich, aber genau das wollten wir erreichen. Der von uns kreierte digitale overload überfordert die Menschen. Die Grenzen zwischen Realität und dem Stück fließen tatsächlich. Wir spielen mit vielen verschiedenen Realitäten. Zum einen schirmen wir die tatsächliche Realität komplett ab, indem wir die Zusehenden in eine nachgebaute, realistisch anmutende, Wohnung führen. Dazu kommt die virtuelle Realität, die auf den Bühnenraum gelegt wird. Zusätzlich dazu bewegen sich die Zusehenden in einer digitalen Realität, innerhalb derer man von einem Smartphone zum anderen Smartphone hin- und zurückkommuniziert. Diese Form der Kommunikation schafft eine weitere Realität. Nach Spielende steht dabei noch eine Website zur Verfügung auf der man die Geschehnisse weiterverfolgen kann.

JK: Wir bauen fiktive Settings (die natürlich auch Realität sind, da sie existieren, aber eben aus erfundenen Geschichten bestehen) wie ein Raumschiff, statten unser Publikum mit Aufgaben und Ausrüstung aus und nutzen die Fiktion der Geschichte und die Phantasie der teilnehmenden Personen, um ganz praktische, reale, gesellschaftspolitische Fragen zu bearbeiten und begehbar zu machen.

Gibt es eine Zielgruppe?

JK: Am liebsten würden wir alle Menschen als unsere Zielgruppe benennen. Es ist extrem interessant und auch wirklich lustig, die verschiedenen Gruppen dabei zu beobachten, wie sie unser Stück spielen und sich darin verhalten. Jede Vorstellung ist anders. Zunächst haben wir „Solaris“ in einem Theater gespielt. Dort war das Publikum eher zurückhaltend, beobachtend und analysierend. Die Leute waren teilweise von der Technik überfordert, haben eine gewisse Aufwärmphase gebraucht und wollten im Nachhinein eine Auswertung ihrer Entscheidungen. Als wir mit dem gleichen Stück auf der Nextlevel Konferenz in Düsseldorf waren, haben viele Gamerinnen und Gamer „Solaris“ besucht, alle Spielmechaniken wurden gleich durchschaut und die Menschen hatten sofort Spaß daran, sich selbst zu verwandeln, Funkerin zu sein, Käptn oder Teil des Strategieteams. Diese Spielerinnen und Spieler sind gleich danach zu uns in die Schaltzentrale gekommen und wollten wissen, wie alles funktioniert, womit wir programmieren und wie wir funken usw. Daran sieht man, wie der Hintergrund der Leute, die Art und Weise zu spielen beeinflusst. Ich habe das Gefühl, dass es in Theaterräumen noch nicht so etabliert ist, dass man einfach so losspielt. Es braucht seine Zeit, die Leute, die das Sitzen und Gucken gewöhnt sind, dazu zu bringen selber zu handeln.

KvR: Ich habe je nach Projekt unterschiedliche Zielgruppen. Bei „Admission to a new reality“ waren dies eher „theater- und kunstferne“ Menschen. Da geht es darum, dass Leute, die mit den Mitteln des Theaters nicht bekannt sind, davon eingesogen und begeistert werden.

Mit diesem Stück waren wir auch außerhalb von Theaterräumen unterwegs. Da kam dann ein Unternehmensberater sehr verblüfft auf uns zu und meinte: „Macht ihr das einfach so? Ohne dafür bezahlt zu werden? Nur der Sache wegen?“

Ansonsten ist es so, dass wir uns an ein sehr spezifisches Publikum wenden. Bei Festivals weiß ich, was mich erwartet und kann besser auf die Menschen eingehen. Beim 33c3 (Chaos Communicaiton Congress) wussten wir einfach, dass wir die Spielprovokationen sehr anspruchsvoll konzipieren können, zum einen, weil wir auf ein Publikum treffen, das kein Rätsel ungelöst lassen wird, zum anderen, weil die Community viel Erfahrung in kollektiver Problemlösung hat.

Ich möchte diese utopischen Räume, die ich sehr viel erfahre, weil ich mich viel auf alternativen Festivals und innerhalb alternativer Strukturen bewege, für Leute übersetzen, die keinen Zugang zu diesen Räumen haben.

Übergeordnet möchte ich Menschen ansprechen, die in Vollzeitjobs stecken, die sie sich vielleicht nicht selber ausgesucht haben und nicht die Möglichkeit haben aus ihren Strukturen herauszutreten. Diesen Menschen möchte ich alternative Räume erfahrbar machen, die ich erlebe und lebe, weil ich mir ein Lebensmodell ausgesucht habe, bzw. bereit bin, die Risiken zu tragen, die dieses Lebensmodell mit sich bringt, das mir Zugang zu solchen Räumen eröffnet.

WC: Bei „Empfänger Verzogen“ wollen wir alle Menschen ansprechen. Tatsächlich bewegen wir uns in dem Spektrum Anfang 20 bis Mitte 30; Hikikomori tritt hauptsächlich bei jungen Erwachsenen auf und deswegen sprechen wir tendenziell Menschen in diesem Alter an, da sie sich besser in den Charakter und das Spiel einfühlen können. Anders ist es bei „Auf der Schattenseite“ in The Haus. Dort ist jemand da, der den VR-Brillengebrauch anleitet und jemand, der für eine Nachbesprechung zur Verfügung steht, da das Stück sehr emotional ist. Alle Menschen über 16 (die gesetzliche Altersbegrenzung für die Nutzung von VR) werden dort angesprochen.

Welche Form der Förderung braucht das immersives Theater?

WC: Immersives Theater ist Subventionstheater und benötigt mehr Förderung als klassisches Theater. Man hat maximal 15 Partizipierende im immersiven Theaterraum, dagegen das Vierzigfache an Menschen im klassischen Theater. Verkaufte Tickets holen das Geld nicht rein. Es wäre schön, wenn die Förderlandschaft auch ein Auge auf diese Theaterform werfen würde.

KvR: Das Problem ist seltener das Material, als vielmehr die Zeit. Ich kann mit Zettel und Stift ein Spiel oder ein immersives Konzept kreieren. Aber es braucht dafür einen zeitlichen Schutzraum. Immersive Situationen müssen sehr systemisch und ausführlich konzipiert werden, damit freies Handeln in ihnen möglich ist. Wenn wir in der Spielberatung an einem neuen Konzept arbeiten, bedeutet das meist, sich komplett in eine Welt hineinzudenken, um die Mechanik, die diese Welt hervorbringt, abstrahieren zu können. Bei unseren Projekten arbeiten auch immer begeisterte Menschen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen mit, eine Struktur, die im Abteilungsapparat des Staatstheaters nicht abgebildet ist. Auch der Prozess, indem diese Arbeiten entstehen ist neu und spannend. Es braucht finanzierte Zeit, um dieses Potential zusammen an einen Tisch zu bringen und darüber hinaus nachhaltiges Arbeiten, also die Auswertung und Dokumentation des gesammelten Wissens zu ermöglichen. Unser Ziel in der Spieleberatung ist es, unsere Spielmechaniken und Co-Creation-Strukturen auszuwerten und dieses Wissen zu open sourcen.

WC: Der Vorteil des immersiven Theaters ist, dass es keine großen Häuser braucht, sondern auch in urbanen Gefilden gut aufgehoben ist. Es wäre deshalb schon äußert hilfreich, wenn neben finanzieller Förderung, leerstehende Gebäude bespielt werden dürften.

Hat das klassische Theater ausgedient?

WC: Um das immersive Theater voranzutreiben und Fördertöpfe anzukurbeln, würde ich sagen: ja. Aber ich finde, es hat nicht ausgedient und es gibt nach wie vor sehr tolle, klassische Theaterstücke. Immersives Theater hat eine ganz andere Herangehensweise und ist stark mit Spiel verbunden. Nichtsdestotrotz finde ich es manchmal auch schön ins Theater zu gehen und nicht handeln zu müssen, sondern nur zugucken zu dürfen.

KvR: Ich kann die Frage nicht beantworten, denn dafür müssten wir definieren, was klassisches Theater ist. Für mich ist es ein bisschen so, dass die Helden und Heldinnen unsere Zeit, die zur Identifikation bereitstehen, auf Netflix zu finden sind. Das Alleinstellungsmerkmal von Theater ist mehr denn je der analoge Liveerfahrungs- und Handlungsraum, für mich unter anderem ein Grund, Theater und Spiel zusammen zu denken. Es gilt herauszufinden, was an der klassischen Theaterbühne mit vierter Wand und riesigem Produktionsapparat noch von öffentlichem Interesse ist. Ein großer Teil von dem, was heute in Staatstheatern stattfindet, macht mich wütend und ist in meinen Augen Privatvergnügen und repetitive, selbstreferentielle Auseinandersetzung.

Das Theaterhaus ist ein Ort, wo viele Menschen Zusammenkommen können, da stelle ich mir die Frage, ob staatlich finanzierte Bühnen mit 1200 Sitzplätzen, nicht auch für andere Sachen sinnvoll zu nutzen wären, als für die Behauptungsmaschine Theater.

JK: Das klassische und das interaktive Theater stehen als Medien nebeneinander. In dem was sie können, wie sie funktionieren und wie sie sich verhalten, verdrängen sich die beiden Formen nicht gegenseitig. Letztendlich wachsen Kunst und Kultur und verschiedene Formen kontinuierlich und alte Formen bleiben bestehen. Und was dann gar nicht mehr gebraucht wird, zum Beispiel das Fernsehen, fällt irgendwann einfach hinten runter. Ein anderer Punkt ist, welche Form wie viel Raum, Förderung und Aufmerksamkeit erhält. Was das angeht, darf und wird sich noch einiges entwickeln müssen.