Deutsch-tunesische Beziehungen nach dem Fall Anis Amri

Premierminister Youssef Chahed
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Der tunesische Premierminister Youssef Chahed bei einem Interview im Oktober 2016

Der tunesische Premierminister Youssef Chahed ist zu Besuch in Deutschland. Während die tunesische Delegation auf eine engere Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich hofft, drängt Deutschland auf eine Ausweitung der Kooperation in Flüchtlingsfragen.

Die Zeiten des Schulterklopfens sind vorbei. Tunesiens Premierminister Youssef Chahed und seine Regierung werden in Deutschland mit neuen Forderungen konfrontiert. Deutschland drängt auf eine Ausweitung der Kooperation in Flüchtlingsfragen, Tunesien braucht hingegen mehr Auslandsinvestitionen. Seit dem Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz hat Tunesien in Deutschland wieder Schlagzeilen gemacht. Allerdings nicht mehr als erfolgreiches Beispiel demokratischer Transition und Hoffnungsträger des arabischen Frühlings. Sondern als Partner, der sich weigert – oder zumindest sträubt -, seine Staatsbürger/innen, deren Asylantrag in Deutschland abgelehnt wurde, zurückzunehmen. Dieses Thema wird die Gespräche von Chahed in Deutschland am 13. und 14. Februar 2017 nun vermutlich maßgeblich bestimmen.

Migrationspolitik

Schon im Februar 2016 hatte Innenminister Thomas de Maizière das Thema der Rückführung ausreispflichtiger Tunesischer Staatsbürger/innen auf die politische Tagesordnung gebracht. Die Bundesregierung strebt an, Tunesien, Marokko und Algerien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Spätestens seit dem Attentat in Berlin durch den Tunesier Anis Amri und dem Bekanntwerden des offensichtlichen Desinteresses des tunesischen Innenministeriums an seiner erzwungenen Rückkehr, konzentriert sich die deutsche Debatte auf dieses Thema. Angetrieben von der innenpolitischen Dynamik vor der Bundestagswahl im September stehen in Deutschland kurzfristige migrationspolitische Themen im Vordergrund. Um der populistischen Anti-Migrationsstimmung wenigstens teilweise die Argumente zu entziehen, will die Bundesregierung beweisen, dass sie Migration verhindern oder zumindest massiv reduzieren kann. Deswegen bringt sie zusätzlich zu der Rücknahme abgelehnter Asylbewerber/innen eine Kooperation der anderen Art ins Spiel. Nämlich die Errichtung von Auffanglagern für Flüchtlinge und Migrant/innen in Tunesien. Ähnlich dem umstrittenen Abkommen zwischen der EU und der Türkei sollen auch Ägypten und Tunesien verhindern, dass Flüchtlinge und Migrant/innen überhaupt erst die EU-Grenzen erreichen. Es ist schwer vorzustellen, dass Tunesien sich auf diese Lager einlassen wird. Das Land verfügt weder über ein Asylsystem noch eine klare Migrationspolitik.

Wirtschaftliche Kooperation

Die Erwartungen der tunesischen Regierung an Deutschland sind hingegen ganz andere. Premierminister Youssef Chahed reist zu seinem zweitätigen Besuch in Deutschland mit einer neunköpfigen Delegation an, die eher an die bisherigen Schwerpunkte der deutsch-tunesischen Zusammenarbeit erinnert, als die Migrationspolitik noch nicht derart im Vordergrund stand. Neben vier Ministern sind der Arbeitgeberverband, ein Großunternehmer und die deutsch-tunesische Handelskammer vertreten. Ihr Interesse wird primär in der Förderung von Auslandsinvestitionen und finanzieller Unterstützung liegen.

Youssef Chahed ist seit Ende August im Amt. Seine Regierung setzt sich aus einer breiten Koalition des gesamten Parteienspektrums, mit Ausnahme der links-nationalistischen Volksfront, zusammen. Präsidenten Beji Caid Essebsi hatte diese Koalition nach einer bewusst verursachten Regierungskrise zusammengebracht, um eine politische Plattform für die von internationalen Gebern angemahnten Wirtschaftsreformen, eine verstärkte Austeritätspolitik und den Kampf gegen Korruption zu bilden. Hierfür ist Tunesien auf die Unterstützung Europas angewiesen.

Menschenrechte in Tunesien

In dieser Gemengelage unterschiedlicher und komplexer Interessen wirft der zeitgleich mit dem Deutschlandbesuch veröffentlichte Bericht von Amnesty International über Tunesien ein kritisches Schlaglicht auf die Situation der Menschenrechte im Land. Amnesty mahnt an, dass im Sicherheitssektor nicht genug getan wurde, um den alten Praktiken des Ben Ali Regimes ein Ende zu setzen. Es wirft den tunesischen Sicherheitskräften vor, seit Einführung des Ausnahmezustands im Sommer 2015 Folter und andere menschenrechtswidrige Praktiken zuzulassen, die unter dem Ben Ali Regime an der Tagesordnung waren.

Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen, könnte sich die tunesische Delegation auf die Wirtschaftstermine konzentrieren und das migrationspolitische Ansinnen der deutschen Seite ohne direkte Zusagen ins Leere laufen lassen. Längerfristig gesehen haben beide Seiten ein Interesse an stabilen Verhältnissen. Und diese werden am stärksten durch menschenrechtswidrige Praktiken der Sicherheitskräfte und das Ausbleiben weiterer Reformprojekte bedroht. Das sollte auch die Bundesregierung nicht aus den Augen verlieren, wenn sie vor allem aus innenpolitischen Motiven Zugeständnisse bei der Migrationspolitik von Premierminister Chahed einfordert.