Porto Maravilha: Verführungskraft der schönen Bilder

Porto Maravilha mit dem Museum
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Zwei Jahre nachdem Brasilien den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt begannen die Bauarbeiten in Rios alter Hafenzone. Das Projekt trägt den Namen Porto Maravilha - Wunderschöner Hafen. Das dort entstanene neue Museu do Amanhã lockt schon Besucher/innen an, die Straßenbahn wird noch gebaut.

Wer heute Rio de Janeiros Hafengegend besucht, wird staunen: neue Kultureinrichtungen wie Museen, neu gepflasterte und beleuchtete Straßen und Plätze, Fahrradwege, eine neue Straßenbahn. Allerdings wirft die Aufwertung der lange vernachlässigten Gegend auch große Schatten.

Nur wer genau hinschaut, erkennt auch die Probleme dieser zunächst so überzeugenden Entwicklung.

Den Namen Porto Maravilha - Wunderschöner Hafen -  trägt das Projekt, mit dem Rios alte Hafenzone revitalisiert wird, seit 2011. In jenem Jahre begannen die Bauarbeiten, zwei Jahre nachdem Brasilien den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt. Die Projektfläche erstreckt sich über ein Gebiet von 5.000.000 m². Allein in den Favelas leben 30.000 Menschen. Die Mehrheit der Bevölkerung dieses Viertels hat ein sehr geringes Einkommen und kaum Einfluss auf die Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung und Politik. Laut einer Studie des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) von 2010 leben 50% der dortigen Haushalte von weniger als einem Mindestgehalt (216 €) pro Monat und 26 % von ein bis zwei Mindestgehältern pro Monat. Mit Porto Maravilha soll langfristig die Infrastruktur wie Kanalisation, Straßenbeleuchtung und Telekommunikation, städtische Mobilität inklusive öffentlichem Nahverkehr verbessert und neue öffentliche Einrichtungen, Plätze und Grünflächen geschaffen werden. Die Hafengegend soll gleichzeitig attraktiver für Bauinvestitionen - etwa für Geschäfts- und Wohnimmobilien - werden.

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Projektgebiet Porto Maravilha (hellblau), Rio de Janeiro. Allein in den Favelas Morro da Providência, Pedra Lisa, Morro da Conceição, Morro do Livramento, Morro do Pinto und São Diogo sowie die Viertel Saúde, Gamboa, Santo Cristo, Central do Brasil, Cidade Nova und São Cristóvão leben 30.000 Menschen.
Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung (http://umap.openstreetmap.fr/en/map/megaevents-in-brasilien-ereigniskar…)

Diese aufwertenden Maßnahmen werden jedoch durch die konkrete Umsetzung überschattet: Das Projekt folgt den Prinzipien der weltweit zunehmenden Finanzialisierung und damit der Logik, öffentliche Flächen, Anlagen und Dienstleistungen zu privatisieren und zu vermarkten. Auch die Stadtverwaltung bedient sich zweier Finanzinstrumente, um an die nötigen Mittel zu gelangen und das Projekt zu verwirklichen: Erstens der Ausstellung von „Zertifikaten über das Potential zusätzlicher Bebauung“ (CEPACs) und zweitens öffentlich-privater Partnerschaften (PPPs).

Die Stadtverwaltung warf 6,4 Millionen dieser Zertifikate (Schuldverschreibungen) auf den Wertpapiermarkt. Die Zertifikate wurden für 3,5 Mrd. Reais (875,5 Millionen Euro, diese und alle folgenden Eurobeträge basieren auf einem Wechselkurs vom 28.04.2016 von 3,98) vom „Immobilien-Investmentfont Porto Maravilha“ (FIIPM) erworben. Dieser wiederum entstammt Mitteln des Garantiefonds für Arbeiter und Angestellte (FGTS), den die staatliche Bank Caixa Econômica Federal (CEF) verwaltet. In diesen Fonds fließt im Rahmen des Arbeitsgesetzes eine Arbeitgeberabgabe in Höhe von 8% der Monatslöhne. In den letzten Jahren wurden mit einem Teil dieser Mittel Investmentfonds geschaffen, um z.B. Projekte des „Investitionsprogramm zur Beschleunigung des Wachstums “ (PAC) zu finanzieren.

Mit dem Kauf aller Bauzertifikate erlangte die CEF die Kontrolle über deren Handel auf dem Immobilienmarkt und auch die Vorkaufsrechte für Grundstücke des Projektgebiets. Insgesamt 75% der Projektfläche gehören aber der Öffentlichen Hand: 6% gehören dem Staat, 6% der Stadt Rio de Janeiro, weitere 63% dem brasilianischen Bund. Nur die restlichen 25% der Fläche des Projekts Porto Maravilha sind Privatgrundstücke.

Die öffentlich-private Partnerschaft wurde speziell für die Ausführung der Bauprojekte und Dienstleistungen gegründet. Sie wird gebildet aus der kommunalen „Gesellschaft für städtische Entwicklung der Hafenregion von Rio de Janeiro“ (CEDURP) und der Konzessionärin Porto Novo (ein Zusammenschluss der Bauunternehmen OAS Ltda., Norberto Odebrecht Brasil S/A und Carioca Christiani-Nielsen Engenharia S/A). Der dem Projekt zugrundeliegende Vertrag hat eine Laufzeit von 15 Jahren (2011–2026); er wird durch den „Immobilien-Investmentfont Porto Maravilha“ (FIIPM) finanziert und von der CEF verwaltet. Das Projekt Porto Maravilha umfasst insgesamt Investitionen im Wert von 8 Mrd. Reais (Wert von 2011; aktueller Gegenwert in Euro ca. 2 Milliarden).

Das Porto-Maravilha-Projekt – ursprünglich als Olympia-Investition geplant – sollte auch olympische Einrichtungen wie Unterkünfte für Schiedsrichter und das Olympia-Medienzentrum umfassen. Die Stadtverwaltung nahm jedoch kurzerhand die Hafenregion aus der Olympia-Konzeption heraus und erklärte die Pläne „aus Kostengründen“ für gestrichen.

Wenige Monate vor Beginn der Spiele sind die Veränderungen in der Hafengegend deutlich zu sehen. So zum Beispiel am Praça Mauá, einem großen Platz an der Ostseite des Hafens, an dem nun die moderne Architektur der neuerbauten Museen Museu de Arte do Rio und Museu do Amanhã dominieren. Wer die Gegend weiter durchquert, sieht die letzten Bauabschnitte des Meeresaquariums Áqua Rio und der neuen Straßenbahnlinie VLT. Doch nicht nur die neuen Bauten sind Teil des Konzepts vom „Wunderschönen Hafen“. Auch kulturelle Traditionen dieses Gebietes, in der zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Samba entstanden ist, werden ausgenutzt, wo es passt: Ein paar der Samba-Gruppen dürfen bleiben, wenn sie sich gut vermarkten lassen.

Die Olympischen Spiele und die Privatisierung der Stadt

Seit Barcelona 1992 gelten Olympische Spiele als Allheilmittel, um in den Austragungsstädten sozioökonomische Entwicklungen in Gang zu bringen. Sportliche Megaevents sind seitdem in der neoliberalen Gedankenwelt ein Hauptgrund, um aus Städten in materieller und ideologischer Hinsicht einen wichtigen Aktivposten für die Kapitalvermehrung zu machen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Städte sehen in den Megaevents die Gelegenheit, Städte mit attraktiven Strukturen auszustatten, die den Tauschwert des öffentlichen Raumes erhöhen – zum Nachteil des Gebrauchswerts des öffentlichen Raums im Sinne eines städtischen Entwicklungsprojekts, das der Allgemeinheit zugute kommt.

Mit dem Fortschritt der Bauprojekte wird immer deutlicher, dass ausschließlich wirtschaftliche Interessen der Motor von Porto Maravilha sind. Von den Kulturveranstaltungen bis zum Kleinhandel, der traditionell zu dieser Region gehört, – alles wird nach der Logik der Kapitalvermehrung kolonisiert bis in die kleinsten Aspekte des Alltagslebens.

Aus der Perspektive einer kritischen Stadtforschung sollen hier zwei Fragestellungen hervorgehoben werden: Erstens hat das Projekt Porto Maravilha bei der Linderung der Wohnungsknappheit versagt. Laut einer Studie der João-Pinheiro-Stiftung von 2011-2012 fehlen im Großraum Rio de Janeiro circa 290.000 Wohnungen. Und zweitens fehlt es an transparenter Kommunikation und Dialogbereitschaft der Stadtverwaltung mit den verschiedenen Interessengruppen, die in diesem Gebiet leben, arbeiten oder anderweitig aktiv sind.

Während der Bauarbeiten für Porto Maravilha wurden 675 Familien umgesiedelt. Dadurch wurden viele dieser Familien in eine prekäre finanzielle Lage gezwungen, die sie von staatlichem Wohngeld abhängig macht oder sie wohnen nun weit entfernt von ihrem Arbeitsplatz und ihrem alten sozialen Umfeld.

Die Stadtverwaltung Rio de Janeiros wandte bei den Räumungen drei verschiedene Methoden an. 1. Entschädigung: Den Bewohner/innen wurde ein Entgelt für ihr Haus sowie alle von ihnen durchgeführten Baumaßnahmen gezahlt; 2. Begleiteter Kauf: Die Stadtverwaltung unterstützte die Suche nach einer neuen Wohnung und finanzierte deren Kauf; 3. Neubau und Wohngeld: Der geräumten Familie wurde eine neue, noch unfertige Wohneinheit bezahlt und bis zum Abschluss ihres Baus die Miete für eine Übergangswohnung gewährt.

Während einerseits in der Hafengegend Wohnungsknappheit herrscht, deren genauen Umfang die Stadt nicht öffentlich macht, steht andererseits eine bedeutende Anzahl von Gebäuden leer, die für soziales Wohnen genutzt werden könnten. Der Großteil der Grundstücke innerhalb von Porto Maravilha gehört der öffentlichen Hand – diese Grundstücke müssten nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen vorrangig für die Linderung von Wohnungsknappheit genutzt werden – zusammen mit den Gebäuden, die ausschließlich der Immobilienspekulation dienen. Sozial engagierte Gruppen und Kollektive haben – vielfach schon lange, bevor es das Projekt Porto Maravilha gab – leerstehende Gebäude und Grundstücke besetzt (ocupações). In dem Gebiet von Porto Maravilha gab es acht sogenannte besetzende Gemeinden. Nur eine, die Gruppe Quilombo das Guerreiras, ist jetzt noch vor Ort. Sie konnte durchsetzen, dass die Stadtverwaltung Rios im Stadtteil Gamboa auf öffentlichem Grund 119 Wohneinheiten baut. Alle anderen Besetzungen löste die Stadtverwaltung gewaltsam auf und zwang sie, ihren angestammten Stadtteil, in dem sie sich eine Existenz aufgebaut hatten, zu verlassen.

Eine weitere – aber kleine –  Aktivität der Stadtverwaltung bestand darin, zusammen mit Bewohnerinnen und Bewohnern und sozialen Organisationen einen Plan für sozialen Wohnungsbau zu entwickeln. Der Plan sieht den Bau von 5.000 Wohneinheiten vor, enthält jedoch keine Einzelheiten über Finanzierung, Lage oder Zeitpläne. In einer Gegend, in der nach Abschluss aller Bauprojekte und unter Einfluss der staatlichen Anreize ein Anstieg der Bevölkerung auf bis zu 70.000 Anwohnerinnen und Anwohner erwartet wird, erscheint außerdem die Anzahl von 5.000 Wohneinheiten nicht sehr ambitioniert.

Die Stadtverwaltung Rios ist kaum willens oder in der Lage, mit den verschiedenen Interessengruppen der Hafenregion einen vernünftigen Dialog zu führen. Beispiele dafür sind die Projekte in der Favela Morro da Providência und der Ausschluss des Stadtteils Caju aus dem Projekt Porto Maravilha.

In Morro da Providência – Rios historischster Favela – verletzte die Stadtverwaltung Rio de Janeiros die Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner, indem sie Häuser abriss und den wichtigsten Ort für Zusammenkünfte, den Platz Praça Américo Brun, zerstörte, um eine Seilbahn zu bauen. Es gab seitens der Stadtverwaltung keinerlei Information für die Bevölkerung dieser Favela oder gar eine Umfrage, ob ihrer Meinung nach dieses Transportmittel die wichtigste Verbesserungsmaßnahme sei. Die Seilbahn wurde fertiggestellt, die Bauarbeiten für eine zusätzliche Standseilbahn entlang einer historischen Treppe konnten jedoch durch die Mobilisierung der Bewohnerinnen und Bewohner gestoppt werden. 2012 verfügte ein Gericht, dass die Stadt den Bau der Standseilbahn erst nach Einreichen einer Studie über Auswirkungen auf Nachbarschaft und Umwelt fortführen dürfe. Bis März 2016 hat die Stadtverwaltung dieser Anforderung nicht Folge geleistet.

Den Stadtteil Caju, in dem 20.000 Menschen entweder in Favelas oder in Gegenden mit sehr rudimentärer städtischer Infrastruktur leben, strich die Stadtverwaltung aus dem Porto- Maravilha-Projekt, ohne die Einwohnerinnen und Einwohner an dieser Entscheidung zu beteiligen. Dabei hätte es gerade hier einen großen Verbesserungsbedarf gegeben: Direkt an den Hafen grenzend, leidet Caju besonders unter Umweltproblemen. Ein Teil des Stadtteils besteht aus Lagerflächen für Schiffscontainer. Offenbar sah die Stadt hier primär die Notwendigkeit, die Bedingungen für den Containerumschlag und die Geschäfte der Offshore-Industrie zu verbessern. Da die Gegend für die Immobilienindustrie uninteressant ist, plant die Stadt hier keine Verbesserungen für die Bevölkerung.

Diese zwei Beispiele zeigen, wie autoritär die Stadtverwaltung Rio de Janeiros das Porto-Maravilha-Projekt durchführt. Es gibt keinerlei Forum, in dem demokratisch gewählte Gremien, die alle sozialen Gruppen der Hafenregion vertreten, den Stand und die Zukunft des Projekts diskutieren könnten. Der „Kommunale Sicherheitsrat der Hafengegend“ ist der von der Stadtverwaltung und der „Gesellschaft für städtische Entwicklung der Hafenregion von Rio de Janeiro“ (CEDURP) hauptsächlich genutzte Ausschuss, und er erfüllt die genannten Bedingungen in keiner Weise.

Walter Benjamin zitiert in einem seiner Essays über Fotografie zustimmend Bertolt Brecht, der sich scharf gegen die verbreitete Illusion gewandt hatte, dass beispielsweise ein Foto von einer Fabrik etwas über die Realität in dieser Fabrik aussagt: „Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus.“ Die Postkarten-Ansichten des „Wunderschönen Hafens“ mit seinen Kultureinrichtungen, Museen, Straßenbahnen, begrünten Plätzen und asphaltierten Straßen, fotografisch festgehalten und oft in sozialen Medien geteilt, haben eine hohe Verführungskraft. Doch sie können niemals zeigen, was die Tausenden von Familien durchgemacht haben – ob sie nun noch in der Gegend wohnen oder gewaltsam umgesiedelt wurden, um dem Kapital nicht im Wege zu stehen.