Carbon Metrics - Wider die Vermessenheit des Messens

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Symbolbild CO2
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Symbolbild CO2

Haben wir es immer noch nicht verstanden oder wurden wir bewusst getäuscht? Und wenn ja, von wem? Nach mehr als einem Vierteljahrhundert Klimapolitik ist es nicht gelungen, eine wirkliche Kehrtwende einzuleiten. Im Gegenteil: Die Klimawandeleffekte werden immer spürbarer und die Klimawissenschaft warnt vor unkontrollierbaren Folgen. Was genau haben wir in den letzten 25 Jahren versucht, um die Krise abzuwenden? Und was genau ist eigentlich das Problem?

Die Geschichte der globalen Umweltpolitik ist eine Geschichte vergessener Alternativen, sagt Wolfgang Sachs, einer der wichtigen Vordenker ökologischer Gerechtigkeit. Es ist gerade mal 24 Jahre her, dass wir uns beim Erdgipfel in Rio de Janeiro mit der UN Klimarahmenkonvention darauf geeinigt hatten, dass das Problem Klimawandel an den Symptomen zu bekämpfen sei, den Emissionen.

Jahrzehnte klimawissenschaftlicher Forschung haben uns schließlich politisch überzeugt, dass sich die verschiedensten Gase (Kohlenstoffdioxid, Methan, Stickstoff usw.) in einer einzigen Maßeinheit – "CO2-Äquivalent" – ausdrücken lassen, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Effekte auf die Erderwärmung, Verweildauer in der Atmosphäre und vor allem: ihrer heterogenen Wechselwirkungen mit lokalen Ökosystemen und Wirtschaften.

CO2=CO2?

Ein weiterer Fehlschluss (oder bewusste Fehllenkung?) war schließlich die Annahme, eine Tonne CO2 (Äquivalent) sei gleichzusetzen mit jeder anderen Tonne CO2 (Äquivalent), ob es sich nun um Emissionen aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas oder um die Absorption des Gases in einem Waldstück im Amazonas handelte.

Diese Idee wird seitdem seitens der Industrieländer dazu genutzt, strukturelle Änderungen daheim zu vermeiden und fossile Emissionen durch die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen (z.B. für "vermiedene Entwaldung") im globalen Süden zu kompensieren. Das eine sei mit dem anderen durchaus verrechenbar, heißt es, da es ja schließlich um den globalen Treibhauseffekt gehe, um ein globales Problem, für das es nur eine globale Lösung geben könne. "Carbon Metrics" sind zum Maß aller Dinge in der globalen Umweltpolitik geworden.

Heute sehen wir, wie sich neue Märkte für sogenannte Ökosystemdienstleistungen in der ganzen Welt verbreiten: Handels- und Ausgleichsmechanismen wie "Wetland Banking", "Biodiversity Offsetting", "Forest Credits" und andere übertragen nicht nur die konzeptionellen Prinzipien des Emissionshandels auf andere Bereiche, sondern übersetzen in manchen Fällen sogar Dinge wie biologische Vielfalt oder Ökosysteme, z.B. Feuchtgebiete und Wälder, in CO2-Äquivalente. Anstatt also unser Wirtschaftssystem so anzupassen, dass es sich in die natürlichen Grenzen des Planeten einfügt, definieren wir die Natur so um, dass sie in unser Wirtschaftssystem passt.

Undenkbare Alternativen

Nach dem Pariser Klimagipfel im Dezember 2015, der einen Zielkorridor für maximal 1,5°C globale Erwärmung über vorindustriellem Niveau festgeschrieben hat, ist die Welt wieder einmal kurz davor, einen neuen, grundsätzlich falschen Weg einzuschlagen. Es geht um die Idee von "Negativemissionen" und das Ziel, eine Nettoemissionsbilanz von Null zu erreichen. Diese Wendung impliziert, die Welt könne weiterhin neue Emissionen produzieren, solange neue Technologien erfunden werden, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder CO2 aus der Atmosphäre zu saugen. Angesichts dieser Idee geraten Vorschläge für einen sofortigen und radikalen Transformationspfad, der fossile Brennstoffe im Boden lässt, unser Landwirtschaftssystem umbaut und unsere natürlichen Ökosysteme wiederherstellt, ins Hintertreffen.

In der Monokultur der CO2-Bilanzen werden wirkliche Alternativen im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar. Obwohl kaum jemand die Notwendigkeit der Verwendung bestimmter Maßeinheiten oder Messgrößen in der politischen Kommunikation bestreiten würde, ist die Frage, was genau gemessen wird, immer auch eine politische Entscheidung. Solche Entscheidungen bevorzugen immer bestimmte Interessen und Ansätze gegenüber anderen. Die Abbildung aller verschiedenen Qualitäten und möglichen Auswirkungen in Form einer standardisierten Zahl reduziert ein hochkomplexes Problem auf ein Element, von dem Entscheidungsträger/innen glauben, sie könnten ihm mit einer einzelnen Maßnahme oder Politik beziehungsweise einem einzelnen Instrument oder Ziel begegnen. Die momentane Besessenheit von Messungen und Verrechnungen geht dabei weit über den Umweltbereich hinaus: Kalorien, Meter, Kilos, Bruttoinlandsprodukt (BIP) und nun CO2 bzw. "Carbon" (die englische Sprache selbst wird dabei zur globalen Abstraktion). Die Schaffung und Übernahme des metrischen Systems war ein ausschlaggebender Schritt zur Herausbildung einer vollständig globalisierten Welt, die Fragen nach Macht und Politik hinter vermeintlich objektiver Expertensprache versteckt.

Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Messung von Wirtschaftsleistung in Form des Bruttoinlandsprodukts (BIP), was zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bahnbrechend war, seitdem aber eine Frustrationsquelle darstellt, aus der zu Entkommen unmöglich erscheint. Quantifizierung kann zwar sehr erhellend sein, aber genauso gut blind machen. Wie im Fernlicht-Scheinwerfer eines Autos mag ein kleines Stück der Straße taghell sein, während die Dunkelheit der Nacht umso tiefer erscheint. Ein ähnliches Risiko haben wir, wenn wir CO2 zum einzigen Negativmaßstab für unseren Wohlstand erklären.

Messen mit Anspruch auf Totalität

Die Messgrößen, die unsere Gesellschaften heutzutage dominieren, haben eine besondere Eigenschaft: nämlich einen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit (quasi Totalität), der eng verflochten ist mit der Entstehung des kapitalistischen Weltsystems. Im Laufe dieses Prozesses trat die Quantifizierung an die Stelle eines qualitativen Denkens, verdrängte ein lineares Verständnis von Wandel komplexere Vorstellungen und zerstörten standardisierte Messgrößen die Nuancen lokaler Besonderheiten. Übersetzt in den Bereich des Klimawandels bedeutet dies, dass alles, was auch nur ein bisschen die Nettoemissionen reduziert, das Richtige sein muss – auch wenn es einen fundamentalen Wandel der Wirtschaft verhindert oder die Fähigkeit von Gemeinschaften reduziert, Probleme und Lösungen selbständig zu definieren.

Nach Boaventura de Sousa Santos ist das Unvermögen, verschiedene Arten von Wissen anzuerkennen, ein Akt "kognitiver Ungerechtigkeit" oder "Epistemizid" (also erkenntnistheoretischer Mord). Ein ökologischer Epistemizid (also die bewusste Zerstörung einer ganzen Vielfalt an ökologischem Wissen) setzt die Welt dem Risiko aus, eine große Bandbreite an Wissen, Weisheit und Praktiken zu verlieren, die uns helfen könnten, den multiplen Krisen, denen wir ausgesetzt sind, entgegenzutreten. Also was ist zu tun? Vielleicht müssen wir tatsächlich, um der Wahrheit näher zu kommen, noch weiter zurücktreten und noch mehr in Frage stellen.

In seinem Buch "Capitalism in the Web of Life" beschreibt Jason W. Moore die Notwendigkeit, die künstlich geschaffene Trennung von Natur und Sozialem/Gesellschaft aufzuheben. Er legt dar, wie sehr die Transformation der Natur konstitutiver Teil der Kapitalakkumulation war und ist und warnt vor dem Ende der "billigen Natur". Plünderungen und Produktivitätssteigerungen gehen aus seiner Sicht immer Hand in Hand. Dafür braucht es immer ein Stück "unerschlossene Wildnis" und neue Technologien.

Die kapitalistische Entwicklungsgeschichte war von Beginn an auch eine der Aneignung und des Verbrauchs von ökologischem Reichtum, so wie alle großen technologischen Innovationen letztlich Mittel waren, mithilfe derer sich der Kapitalismus natürlichen Reichtum einverleiben konnte. Historisch hat der Kapitalismus seine Krisen immer dadurch gelöst, dass er neue Sphären erschlossen hat, also z.B. die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ebenso wie die Plünderung nichtmenschlicher Natur. Heute gibt es kein unberührtes Grenzland mehr. Damit steht der Kapitalismus an der Schwelle eines neuen Zeitalters, in das er sich eventuell selbst nicht wird retten können.

Die Frage ist: Wann merken wir es? Springen wir rechtzeitig von Bord? Und wohin retten wir uns? Wenn man sich die Strategien derjenigen anschaut, die am meisten zur Klimakrise beigetragen und im Zuge dessen massiv profitiert haben – also die größten Produzenten von Kohle, Erdöl und Erdgas – dann wird klar, dass sie das bereits längst begriffen haben. Nur 90 von ihnen, die sogenannten Carbon Majors, sind für zwei Drittel der Emissionen in der Atmosphäre verantwortlich. Und es sind genau diese Konzerne, die sich jetzt mit der Vermarktung neuer Technologien zur Abscheidung und Speicherung von CO2 und der Unterstützung von Emissionshandelssystemen als Teil der Lösung darstellen wollen. Sie lenken seit mehreren Jahrzehnten im Verborgenen und sehr geschickt die politischen Diskurse in der Umweltpolitik. Damit gehen ihre Verbrechen weit über die unmittelbaren Schäden hinaus, die ihre Produkte verursachen.

Die Etablierung einer neuen Messgröße ist ein langfristiger Prozess, der nicht über Nacht geschehen kann. Ein metrisch ausgerichteter Geist benötigt eine ebensolche Mentalität, eine besondere Denkart und -weise, um die Welt in Form von Zahlen zu verstehen. Unter der Dominanz von CO2-Bilanzen werden kommende Generationen nur eine CO2-abhängige Welt (oder eines Tages vielleicht eine Low-Carbon-Welt) kennen. Dies ist allerdings eine stark reduzierte Vision der Zukunft. Klügere und gedankenreichere Strategien brauchen auch eine andere Art des Denkens und Wissens sowie aktives Engagement dafür, die Räume für solche Alternativen zurückzufordern und zu bewahren.

Dieser Beitrag ist zunächst in dem Band Das Kapitalismustribunal erschienen.