Die Bedeutung von Vučić' Wahlsieg für Serbien und die EU

Das Regierungsgebäude der Republik Serbien in Belgrad
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Das Regierungsgebäude der Republik Serbien in Belgrad

Serbiens Ministerpräsident Vučić hat sich zum zweiten Mal durch Neuwahlen sein Mandat bestätigen lassen. Die EU versteht den Wahlsieg als pro-europäisches Signal. Wofür steht seine Fortschrittspartei wirklich?

Serbien hat am 24. April in den meisten Rathäusern, in der autonomen Provinz Vojvodina und auf nationaler Ebene neue Parlamente gewählt. Wie von Parteichef Aleksandar Vučić erwartet, ist das von seiner Fortschrittspartei angeführte Parteienbündnis auf nationaler Ebene mit 48,2 Prozent (131 von 250 Sitzen) der klare Sieger. Der bisherige Regierungspartner, das von der Sozialistischen Partei angeführte Listenbündnis, hat rund 11 Prozent (29 Sitze) erreicht. Die Fortschrittspartei hat ihre Macht im ganzen Land ausdehnen und erstmals auch die Mehrheit in der Vojvodina erringen können. Einer Neuauflage des Regierungsbündnisses mit den Sozialisten auf nationaler Ebene steht nichts im Wege.

Im Wahlkampf wurden zwei Botschaften verbreitet: Die Fortsetzung ökonomischer Reformen, Fortschritte bei der europäischen Integration und Engagement bei der Stabilisierung der Region durch Kooperation: Fortschritt in die Zukunft statt Rückkehr in die Vergangenheit. Das ist die in Europa willkommene Botschaft. Die andere Botschaft lautete: 50 plus X, gemeint war: Ausdehnung der Herrschaft der Fortschrittspartei, Reduzierung der Opposition auf nur eine Partei und Zerstörung der Reste einer kritischen Öffentlichkeit. Gemessen daran kann Parteichef Vučić nicht zufrieden sein. Entgegen seinen Erwartungen werden statt bisher vier, nun sieben Parteienbündnisse ins Parlament einziehen: neben der Demokratischen Partei (6 Prozent, 16 Sitze) und der sozial- bzw. liberaldemokratischen Partei Liga der Sozialdemokraten der Vojvodina (5 Prozent, 13 Sitze) überwanden auch die liberale „anti-partokratische“ Partei (Partokratie: Ein Staat, in dem nur die Zugehörigkeit zur herrschenden Partei eine Mitsprache in Staat, Wirtschaft und Medien verspricht) „Es reicht – Saša Radulović“ (6 Prozent, 16 Sitze) sowie die Demokratische Partei Serbiens Dveri (5 Prozent, 13 Sitze) und die Serbische Radikale Partei von Vojislav Šešelj (8,1 Prozent, 22 Sitze) – die beide rechtsradikal, russophil, gegen NATO und EU sind und für ein Großserbien eintreten – die 5 Prozent-Hürde.

Daneben sind wieder einige Minderheitenparteien im Parlament, darunter erstaunlicherweise auch die Grüne Partei als slowakische Minderheitenpartei und zwei serbisch-russische Parteien. Parteien von Minderheiten müssen nicht die 5 Prozent-Hürde überwinden. Sie erringen ein Parlamentsmandat mit etwa einem Drittel der Stimmen, die allgemeine Parteien erringen müssen. Das Minderheitenstatut lädt natürlich zu Missbrauch ein. Warum gerade die kleine slowakische Minderheit Serbiens eine grüne Partei ist, erschließt sich dem Wähler nicht. Ihr Name aber lautet „Partei der slowakischen Minderheit – Grüne Partei“. Die Vermehrung der Listenbündnisse im Parlament kostet das bisherige Regierungslager 41 Sitze. Ärgerlicher dürfte für Parteichef Vučić die Diversität der Opposition aus pro- und anti-europäischen Bündnissen sein. Die alleinige Opposition durch die anti-europäische Radikale Partei seines einstigen Chefs und Freunds Šešelj hätte ihm die Möglichkeit geboten, gegenüber dieser Vogelscheuche das Profil eines Modernisierers und Europäers zu gewinnen, dem im Land nur die „falsche Seite“ widerspricht. Das wird jetzt schwieriger. Denn fehlende Glaubwürdigkeit ist und bleibt das größte Problem von Aleksandar Vučić. Und das liegt nicht allein an seiner Vergangenheit als nationalistischer Hetzer und Unterdrücker der Medienfreiheit in Milošević‘ Diensten. Sein Glaubwürdigkeitsproblem hat systematische Gründe, denn er sendet an die EU andere Botschaften als an seine Anhänger. Der EU verspricht er ein modernes demokratisches Serbien, seinen Anhängern hingegen eine Art populistische Mehrheitsdiktatur.

Alle zwei Jahre wieder – Ministerpräsident Vučić ruft den Souverän an und missachtet die Verfassung und die Institutionen

Die Entscheidung, dass es in Serbien nach nur zwei Jahren schon wieder vorgezogene Wahlen geben soll, verkündete der serbische Ministerpräsident auf einer Sitzung des Parteivorstands seiner Serbischen Fortschrittspartei. Wochenlang hatte er die Spekulationen darüber angeheizt. Die Umfragewerte waren günstig. Was sollte ihn hindern, sich durch Neuwahlen ein neues Mandat für vier Jahre zu holen?! Ein Argument gegen Neuwahlen bot zum Beispiel die Verfassung. Denn für die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen ist der Staatspräsident zuständig. Ihm hat der Regierungschef eine überzeugende Begründung vorzulegen, warum er die Regierungsgeschäfte nicht länger auf der Grundlage seines Mandats von den ebenfalls vorgezogenen Neuwahlen von 2014 führen könne. Gut nur für den Ministerpräsidenten, dass Präsident Nikolić seinem Wunsch nach Neuwahlen sofort stattgab. Sobald das Gesuch bei ihm eingehe, sagte er noch am selben Tag, werde er Neuwahlen ausrufen. Damit war der Wahlkampf eröffnet, ohne dass die Regeln für den Wahlkampf eingehalten werden mussten. Regierungschef Vučić ist schon in normalen Zeiten in den ihm ergebenen Medien omnipräsent. Aber bis zur offiziellen Auflösung des Parlaments blieben ihm noch einige Wochen, in denen er ohne Konkurrenz Wahlkampf führen konnte. Jede Baustelle, die er eröffnete, jeder ausländische Besuch, den er empfing – alles wurde zu Wahlkampf außer Konkurrenz. Erst vom Tag der Verkündung der Neuwahlen an sind die Medien verpflichtet, die um die Macht konkurrierenden Parteien oder Parteienbündnisse „fair und unparteilich“ zu repräsentieren.

Die Begründung, mit der Regierungschef Vučić schließlich seinen Staatspräsidenten von der Notwendigkeit von Neuwahlen überzeugen sollte, lieferte keinen Hinweis, dass die Regierung im Parlament nicht mehr über die erforderliche Mehrheit verfügte, keine Andeutung, dass es mit dem Koalitionspartner, der Sozialistischen Partei Serbiens, schwere Konflikte über die Ausrichtung der Politik gab. Stattdessen erklärte Vučić die „Etablierung eines anderen, modernen und erfolgreichen Serbiens (für) beendet“. Nun brauche er für „die Sicherung des europäischen Lebensstandards und für die Festlegung eines klaren und eindeutigen Weges unseres Landes in die Zukunft“ ein klares Mandat, „um die Reformen abzurunden, die unserem Land ermöglichen werden, an der Eingangstür der europäischen Völkerfamilie zu stehen.“ Das war keine Begründung, sondern wieder Wahlkampf. Auf eine wirkliche Begründung, wie sie die Verfassung vorschreibt, kam es auch nicht mehr an, da der Präsident ja schon zugestimmt hatte. Aber wohl nicht ohne Bedingungen.

EU – Kosovo – Russland: Konflikte zwischen Vučić und Staatspräsident Nikolić

Parteichef Vučić hatte sicher mehrere Gründe für Neuwahlen: Konflikte mit dem Staatspräsidenten, Unzufriedenheit bei den Parteiaktivisten, Aufschub bei unpopulären Wirtschaftsmaßnahmen. Zwischen ihm und dem Präsidenten, der als Gründer der Fortschrittspartei eine ansehnliche Hausmacht hat, war es in den letzten Jahren immer wieder zu Konflikten gekommen. Nikolić sieht die Annäherung Serbiens an die EU generell skeptisch, einen Beitritt um den Preis der Anerkennung der Republik Kosovo lehnt er rundherum ab. Auch den seit 2013 eingeleiteten Prozess der „Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo“ sieht er kritisch. Die vereinbarte Auflösung der serbischen Parallelinstitutionen im Norden des Kosovo lehnt er ab. Seit er die Veröffentlichung einer eigenen „Kosovo-Plattform“ androhte, mit der das Parlament der Regierung die Grenzen der Normalisierung hätte aufzeigen können, hat sich die serbische Regierung von diesem Kernstück der Integration des serbisch dominierten Nordens in die Institutionen des Kosovo vorläufig verabschiedet. Sie weigert sich in den Bereichen Gesundheit und Bildung die serbischen Institutionen in die des Kosovo zu überführen.

Emotional und auch strategisch wünscht sich Nikolić eine deutliche Hinwendung zu Russland, während Vučić sich mit der NATO und den USA arrangiert hat und als Preis den Beitritt zur EU zu erhalten hofft. In dieser Situation bieten Neuwahlen eine gute Gelegenheit, die Gewichte zwischen dem Partei- und Regierungschef und dem Staatspräsidenten durch ein Referendum über den Parteichef zu verschieben. Nikolić hat als Preis für seine Kooperation seine Hausmacht in der Parlamentsfraktion gefestigt. Er hat zahlreiche prorussische Kandidaten (Nenad Popović von der Serbischen Volkspartei, den Bruder des im Moskauer Exil lebenden und in Serbien strafrechtlich gesuchten Bogoljub Karić sowie den prorussischen Journalisten Miroslav Lazanski) und die Bewegung der Sozialisten von Aleksandar Vulin auf der Liste untergebracht. Insgesamt, so wird geschätzt, werden etwa 40 Prozent der Abgeordneten der von der Fortschrittspartei angeführten Liste Präsident Nikolić nahestehen. Genaueres ist nicht bekannt, denn die Aufstellung der Listen erfolgt nicht in parteiinternen Wahlen, sondern hinter verschlossenen Türen.

Vučić‘s Fortschrittspartei will Serbien unter ihre Kontrolle bringen

Dort werden Listenplätze und künftige Jobs in Regierung und öffentlichem Sektor versprochen, dort wird die Loyalität zum großen Führer Vučić oder zu Staatspräsident Nikolić begründet und bekräftigt. Die Aussicht auf einträgliche Nähe zur Macht hat die Menschen im Serbien nach der Milošević-Ära schon immer in die jeweils regierende Partei eintreten lassen. Vučić“s Fortschrittspartei ist die Partei derjenigen, die bei der Plünderung der öffentlichen Güter und staatlichen Unternehmen bis 2012 zu kurz gekommen sind und die jetzt ungeduldig die Eroberung weiterer Teile von Staat und öffentlichem Sektor zur Befriedigung ihrer Interessen erwarten. Die Partei ist so zu einer Massenbewegung mit mehreren hunderttausend Mitgliedern geworden, die gegen das Establishment der Reichen und Mächtigen vorgeht.

Ihre Symbole sind die bis heute gerichtlich nicht entschiedene, aber ungeheuer populäre Strafverfolgung und Verhaftung des reichsten Tycoons des Landes wegen Korruption. Miroslav Mišković steht wie kein anderer für die Profiteure der Plünderungen, die unter Milošević einsetzten und bis zu Tadić anhielten. Das andere Symbol sind die gekauften Diplome – stellvertretend das mutmaßlich gekaufte Diplom des Staatspräsidenten – und die nie von einer ordentlichen Kommission untersuchten, womöglich plagiierten Dissertationen führender Politiker der Fortschrittspartei und Intimfreunden des Parteichefs, namentlich des Innenministers Nebojša Stefanović und des Bürgermeisters von Belgrad, Sinša Mali. Die gemeinsame Botschaft: Leistung lohnt sich nicht, Netzwerke und Loyalität zählen. Gemeinsam holen wir uns unseren Anteil. „Gemeinsam können wir alles!“ – wie auf einem der Wahlplakate der Fortschrittspartei zu lesen war.

Neuwahlen sind im Interesse dieser Massenbewegung, die ihre Ansprüche im polarisierenden Wahlkampf am besten zum Ausdruck bringen kann. Eine ihrer Absichten ist die Herstellung unitarischer Herrschaft in ganz Serbien, bei der die Fortschrittspartei vom Staatspräsidenten über die autonome Provinz Vojvodina, die seit 15 Jahren von Varianten der oppositionellen Demokratischen Partei regiert wird, bis runter zu den Rathäusern alles kontrolliert und dem Zugriff der Parteigänger ausliefert: „Partokratie“ total. Und weil die Fortschrittspartei in der Vojvodina und vor allem auf lokaler Ebene keine bekannten Gesichter aufzubieten hat, verspricht die Synchronisierung der Wahlen auf allen Ebenen den größten Erfolg – denn überall steht auf Liste 1 nur eine Person zur Wahl: Aleksandar Vučić, der Führer dieser Massenbewegung. „Aleksandar Vučić – Serbien gewinnt.“

Aufschub von Wirtschaftsreformen

Ein weiterer Grund für diese vorgezogenen Wahlen ist darin zu suchen, dass Serbien sich unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds einem Reformprogramm verschrieben hat, das unpopuläre Maßnahmen erfordert, die tunlichst erst nach Wahlen eingeleitet werden sollten. Von 2012 bis 2014 hat die regierende Koalition aus Fortschrittspartei und Sozialisten die Staatsverschuldung von 45 auf 75 Prozent des Inlandsprodukts in die Höhe getrieben. Der Staatsbankrott rückte in greifbare Nähe. Dieser Trend ist nicht gestoppt, er konnte aber durch fiskalische Maßnahmen seit den Wahlen 2014 verlangsamt werden. Die dazu erforderlichen Kürzungen von Renten und – im Vergleich zum privaten Sektor – hohen Gehältern im öffentlichen Sektor waren unpopulär, aber verhältnismäßig einfach. Die Erleichterung von Kündigungen und Beschleunigung von Baugenehmigungen waren wichtige Schritte, mit denen Teile des sozialistischen Erbes abgestreift wurden.

Jetzt will der IWF die nächsten Reformen in Richtung einer Rationalisierung des relativ großen öffentlichen Sektors sehen. Das bedeutet: Entlassungen, die Einführung einer meritokratischen Personalwirtschaft und die Privatisierung bzw. Insolvenz staatlicher Unternehmen, die seit Jahren rote Zahlen schreiben, das staatliche Defizit vergrößern und für die sich kein Investor finden lässt. Außerdem: Umlenken der staatlichen Zahlungen vom Konsum in die öffentliche Infrastruktur, Umstrukturierung des Finanzsektors, der das Problem der faulen Kredite bewältigen und sich stärker zu einem Kreditmarkt auf Basis des Serbischen Dinar statt wie bisher auf Euro-Basis entwickeln muss. All das stand auch schon Ende 2013 auf der Tagesordnung. Doch damals suchte Parteichef Vučić Aufschub durch Neuwahlen. So auch dieses Mal. Entsprechend hat der IWF seinen Bericht, der auf die zahlreichen nicht eingelösten Versprechen hinweisen wird, bis nach der Bildung der neuen Regierung verschoben.

Die Bewegung im Wahlkampf

Noch ist unklar, ob von den Oppositionsparteien genügend Beweise für eine Anfechtung der Wahlen vorgelegt werden. Es kann sein, dass es einen Deal zwischen Opposition und Regierung gibt, so dass auch Listen mit Ergebnissen um die fünf Prozent ins Parlament einziehen. Im Gegenzug würde auf eine eingehende Untersuchung der Wahl verzichtet werden. Die OSZE, die die Wahl beobachtet hat, schweigt bisher.

Fest steht aber heute schon, dass es zahlreiche Verstöße gab – gegen Regeln der Fairness und gegen Gesetze. Die Regierungspartei und namentlich ihr Chef Aleksandar Vučić waren in allen Medien überproportional und mit positivem Ton vertreten. Die kleinen Oppositionsparteien waren hingegen unterproportional und dazu noch mit negativer Botschaft zu lesen, hören und sehen. In den öffentlichen und privaten Fernsehprogrammen war dies besonders ausgeprägt. Es gibt Berichte, dass die Leiter staatlicher Betriebe ihren Mitarbeitern für den Fall eines schlechten Abschneidens der Fortschrittspartei mit Kündigung gedroht haben. Zahllos sind die Berichte, dass Fortschrittsaktivisten Stimmen gekauft haben: für 1000 Dinar oder für ein paar Makkaroni. Die Aktivisten händigen den Wählerinnen und Wählern vor Betreten des Wahllokals einen bereits ausgefüllten Wahlzettel aus und lassen sich von ihnen hinterher den leeren Zettel geben, den sie im Wahllokal erhalten haben. Andere müssen ihre Loyalität unter Beweis stellen, indem sie ein Foto von ihren Wahlzettel zusammen mit ihrem Ausweis abliefern. Das serbische Wählerverzeichnis gilt seit langem als korrekturbedürftig. Weil darin neben einer Vielzahl von im Ausland lebenden Serbinnen und Serben auch eine ganze Reihe Toter enthalten sind, ist es für Wahlfälschungen gut geeignet.

Vračar – ein Bezirk der Mittel- und Oberschicht ist umkämpft

Eine besondere Form der Wahlfälschung wurde in einigen Bezirken und Gemeinden bekannt, deren Bewohner die Fortschrittspartei traditionell nicht wählen. Hier wurden – wohl mit Unterstützung des Innenministeriums – zahlreiche Personen neu ins Wählerverzeichnis eingetragen mit Angaben zu Wohnsitzen, die den Eigentümern oder Nachbarn völlig unbekannt waren. Einer dieser Bezirke, in dem die Fortschrittspartei die Mehrheiten zu ihren Gunsten kippen wollte, ist die Gemeinde Vračar, der kleinste Bezirk in Belgrad, in dem die Demokratische Partei seit den 90er Jahren regiert und auch ihr Hauptquartier hat.

Zur Manipulation des Wählerverzeichnisses kam hier noch die Kandidatur einer Liste, die sich mit dem Symbol einer Ente gegen das größte Bauprojekt des Ministerpräsidenten und der Stadt Belgrad engagiert: die Liste „Ente – Nein zu Belgrad am Wasser“. Dieses Projekt ist tatsächlich hoch umstritten, weil es ohne Ausschreibung und öffentliche Debatte ein großes, bisher unentwickeltes Areal am Ufer der Save in ein zweites Dubai zu verwandeln verspricht. Und tatsächlich setzen die Gegner dieses Projekts, bei dem es um Stadtentwicklung, Bürgerbeteiligung und Korruption geht, eine große gelbe Ente ein, die sie mit dem Slogan „Lasst Belgrad nicht ertrinken“ vor der künftigen Baustelle von „Belgrad am Wasser“ auf- und abschwimmen lassen. Nur: Hinter der Liste „Ente – Nein zu Belgrad am Wasser“ stehen nicht die Aktivisten gegen das Projekt, sondern Aktivisten der Fortschrittspartei, die das bürgerliche Lager in Vračar und zwei anderen an der Save gelegenen Bezirken spalten wollten. Erfreulicherweise ist der Fortschrittspartei hier wie auch im benachbarten Bezirk Stari Grad der Durchmarsch nicht gelungen. Sie wurde zwar stärkste Partei. Aber die gebildete Mittelschicht und die Oberschicht dieser Bezirke hat insgesamt doch der Demokratischen Partei und der erst seit 2014 existierenden Liste „Es reicht – Saša Radulović“ knapp den Vorzug gegeben.

Bemerkenswert ist hierbei der Erfolg des Ökonomen Saša Radulović. Er war 2013 von Vučić als Wirtschaftsminister ins Kabinett berufen worden, um den IWF zu beeindrucken und die EU positiv zu stimmen, die Ende 2013 über den Beginn der Beitrittsverhandlungen entscheiden wollte. Als Radulović erkannte, dass er nur den Schein von Reformbereitschaft erzeugen sollte, trat er noch vor den Neuwahlen im Frühjahr 2014 zurück. Sein Ziel ist seitdem, die Überwindung der Parteienherrschaft in Serbien zu überwinden. Denn unter Bedingungen der „Partokratie“, die die Fortschrittspartei nicht erfunden, aber weitergetrieben hat, führen die von IWF und EU geforderte Rationalisierungen und Privatisierungen nicht zu wirtschaftlicher Liberalisierung, sondern eher zur Stärkung der Stellung von Parteigängern, die privatisierte Medien und andere Unternehmen zu guten Konditionen aufkaufen und für den Ausbau politischer Kontrolle von Arbeitsplätzen und öffentlichem Diskurs nutzen.

In seiner Kritik kann sich Radulović auf zahlreiche andere Kritiker der antiliberalen Praxis der herrschenden Parteien stützen: auf den Ombudsmann Saša Janković oder auf den Bericht des Anti-Korruptions-Rats. Sie und viele andere tragen Tag für Tag Belege dafür zusammen, dass das Land bei der Transformation von einer Staats- in eine Marktwirtschaft bei der Parteiwirtschaft stecken geblieben ist. Eine andere Frage ist jedoch, ob Radulović auch ein Wirtschaftsprogramm hat, das Serbien einen Weg aus der Parteienwirtschaft weist und mehr bietet als die Ausweitung eines Niedriglohnsektors für ausländische Direktinvestitionen – und das von der Mittel- und Oberschicht unterstützt wird. Es ist deshalb gut möglich, dass sich „Es reicht“ – der an einen Stoßseufzer erinnernde Name deutet es an – zu den satirischen und parodistischen Anti-Parteien gesellen wird, die es in Serbien auf kommunaler Ebene schon seit einiger Zeit gibt.

Ein Votum für die Europäische Union?

Die Botschafter der EU-Mitgliedsländer haben das Neuwahlprojekt von Parteichef Vučić von Beginn an mitgetragen. Schließlich war seine Botschaft ja, dass er ein Mandat für Reformen und europäische Integration haben will. Kein Wunder also, dass sie und die regierungsnahe Presse ihrer Länder jetzt den Wahlsieg von Aleksandar Vučić als ein Votum für die EU interpretieren. Wahrscheinlich machen sie sich keine Illusionen über den autoritären und autokratischen Charakter der aktuellen und der nächsten serbischen Regierung. Was sie an ihm zu Recht schätzen, ist sein gemäßigter, auf Ausgleich und Versöhnung zielender Ton, mit dem er auf dem leicht entflammbaren Balkan zur regionalen Stabilität beiträgt. Diese Stabilität ist seit dem an die Region angrenzenden Ukraine-Konflikt zusätzlich durch die geostrategische Konfrontation des Westens mit Russland gefährdet. Denn auch hier überschneiden sich Interessensphären. In Serbien, Montenegro und Makedonien versucht die russische Außenpolitik ihr Störpotenzial zu entfalten. In Serbien setzt sie weit mehr auf den Staatspräsidenten und den Sozialistenchef Dačić als auf Regierungschef Vučić, den die von Russland beeinflussten serbischen Medien kritisch sehen.

Die Regierenden dieser EU-Beitrittskandidaten lassen sich ihren Widerstand gegen den russischen Druck und ihre Kooperationsbereitschaft mit dem Westen – am deutlichsten in Form des angestrebten Beitritts zur NATO – durch finanzielle Unterstützung und die jährlichen Berichte über den Fortschritt der Annäherung an die EU entgelten. So haben sich im Balkan zunehmend „Stabilokratien“ gebildet, durch die sich die EU vor weiteren Krisen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und neuen Flüchtlings- und Auswanderungswellen schützen will. Aber ist die EU-Erweiterungspolitik dafür das richtige Instrument? Es gibt gute Argumente dafür, die Balkanregion durch Integration in die NATO zu stabilisieren. Doch die Frage, die die britische Ministerin Theresa May dieser Tage aufwarf ist berechtigt: Ist der EU damit gedient, durch die Aufnahme von Ländern wie Serbien, Albanien und der Türkei im Tausch gegen Stabilität ihre Heterogenität und ihre inneren Spannungen noch weiter zu erhöhen? Das niederländische Referendum gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ist auch ein deutliches Votum gegen die weitere Ausdehnung der EU.

Auf der anderen Seite hat die EU auf ihrem Gipfel in Thessaloniki 2003 den Ländern des Balkans die Aussicht auf Beitritt zugesichert. Daran sollte sie sich halten. Verlässlichkeit und Prinzipientreue sind kostbare Güter – in den Außenbeziehungen, aber natürlich auch im Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern der EU. Denen hat sie versprochen, dass es bei den demokratischen Grundsätzen für keinen Beitrittskandidaten Rabatt geben wird. Deshalb muss die EU die Instrumente überprüfen, mit denen sie dies erfolgreicher als bei Bulgarien, Rumänien und auch Kroatien tun kann. Für den Beitritt in die EU sind die Kopenhagen-Kriterien der Maßstab. Sie lagen der EU-Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa zugrunde. Für die nationale Konsolidierung und Stabilisierung der Region braucht es andere Instrumente. Unter den gegebenen geostrategischen Bedingungen muss sie vorrangig Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik angehen – Fragen, die seit der großen EU-Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa allesamt zunächst mit dem Beitritt zur NATO beantwortet wurden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die EU eines Tages zu einem klareren Kurs durchringen kann. Bis dahin wird sie den Wahlsieg eines Autokraten als Votum für die EU begrüßen.